Ehemals marschirte das gefürchtete Kriegsvolk der Urkantone über diese Brücke zum Gebirgspasse hinauf und über diesen hin­weg zum sonnigen Süden, um dort in mörderischen Schlachten das trügerische Waffenglück zu erproben und mit reicher Beute beladen wieder über die Brücke hinweg zur Heimat zurückzu­fehren.

In dem großen Alpenkriegsdrama, das im Jare 1799 das Gotthardterrain nord- und südwärts der Uebergangshöhe mit furchtbaren Gräuel- und Mordscenen heimsuchte, bildete dieses unscheinbare Brücklein mehrmals einen Punkt von hervorragend strategischer Bedeutung. Hier tobten die mörderischsten Kämpfe zwischen den französischen   und zwischen den mit dem bewaffneten urnerischen Landvolke vereinten österreichischen Heeresteilen, denen später gräßliche Bravour- Mezeleien zwischen französischen und russischen Truppen folgten.

Drüben jenseits, also oberhalb der neuen Brücke, befindet sich ein primitives Gasthaus, dessen feuchte Segensspenden an der Außenseite des Gebäudes empfolen stehen.

Vor der Brücke aber zeigt sich an steiler Felswand die über­mütige Reklame, die dem großartig Erhabenen das Moment des Niedrigen und Lächerlichen hinzufügt. In respektablen Dimen­sionen sind einige große Satansfiguren an die Felswand gepin­selt und in mehreren Kultursprachen verkünden beigefügte In­schriften in großen Lettern, daß an gewissen Tagen nach Ein­bruch der Dunkelheit hier eine bengalische Beleuchtung der Was­serfälle und Felsen nebst splendidem Feuerwerke stattfinde. Selbst­verständlich auf Kosten der herbeieilenden Schaulustigen.

Bei späteren Gotthardfarten habe ich diese Scenerie als Winterlandschaft bei Tage und dei Nacht bewundert und fand dabei, daß außer der Tagesbeleuchtung selbst für hyperromantisch geartete Naturen nur noch das bleiche Licht des Mondes den vorwaltenden Effekt des Pittorest- Schauerlichen steigern kann.

Nur wenige Minuten färt unsere Wagenrethe noch bergauf­wärts durch diesen vegetationslosen Schlund.

Dann nimt ein Felsentor uns auf und der Widerhall des Pferdegetrappels und Rädergerassels wird auch in diesem Stein­gewölbe durch das Geräusch gigantischer Wasserstürze übertönt, die draußen am Felsen vorüber über abschüssige Wände und Klippen zur Tiefe stürmen. Ein kleines Nebenportal bietet die Aussicht in den lärmerfüllten Abgrund und erhellt zugleich diesen fleinen Tunnel, der Generationen hindurch gleich einem Welt­wunder angestaunt wurde.

Schärfere landschaftliche Gegensäze als sich hier unmittelbar an den Ausgängen dieser nur 54 Meter langen Felsengallerie bieten, findet man selten so nahe beisammen.

hat man die schauerlich öde Höllenschlucht der Schöllinen mit ihren engen und schroffen Felsenklüften soeben verlassen, so betritt man sofort nach dem Passiren dieses Felsentores ein weites, stilles Hochtal, das troz der umgebenden großartigen Hochgebirgs­cenerien einen anmutigen, freundlichen Eindruck macht. Die aus­gedehnten grünen Wiesenflächen dieser Talgegend, zwischen denen trägen Laufes und still die Reuß dahinfließt, gewären einen idyllischen Anblick und man vergißt bei diesem Landschaftsbilde nur zu oft, daß diese weite Talgegend 4500-6000 Fuß über dem Meere liegt, daß hier in der Regel der Winter 7 Monate andauert und daß nur wärend 5 Monaten im günstigsten Falle auf ein Ausbleiben des Schnee's gerechnet werden kann.

Bier Dörfer erheben sich in dieser Hochebene: Andermatt  , Hofpental, Bum- Dorf und Realp lauten die Namen derselben, und die Gesamtbevölkerung dieses zu einem Bezirke vereinigten, un­gefär 6 Stunden langen, baumlosen Hochtales beträgt ca. 1300 Einwohner.

Zumeist von Walliser   Abkunft beweisen die Bewohner dieser Gegend mehr Sangeslust und Lebensfreude als die gewönlich finster dreinschauenden und ernster gestimten Urner   aus dem nied­riger und nördlicher gelegenen, tieferen Reußtale.

Schiller   bezeichnet im Tell diese Gegend als ein heitres Tal der Freude", was bis dahin so ziemlich stimte. Mit der Eröffnung des großen Gotthardtunnels und noch mehr nach der Betriebseröffnung der Gesamtstrecke der Gotthardbahn   wird hier die heitere Stimmung einen argen Stoß erleiden, denn ein Haupt­erwerbszweig der Einwohnerschaft, die Spedition der Frachtgüter durch das Tal und über den Gepirgspaß, die Aufname und Bewirtung der Reisenden 2c. 2c., wird lahmgelegt sein und Aus­wanderung oder die Einfürung neuer Erwerbsarten wird statt­finden müssen, um die dann dringenden Existenzfragen zalreicher

Familien zu lösen.

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In Andermatt   wurde Halt gemacht und ausgestiegen, denn hier fand wieder eine Reisepause statt, die der Walzeit, vulgo dem Mittagessen gewidmet wurde. Drinnen im engen und viel­leicht aus klimatischen Gründen etwas sehr niedrigen Stübchen, wurde in bunter Reihenfolge jeder, der das betreffende Verlangen bekundete, an der Tafel plazirt; es gab von allem etwas und in Summa von jedem nicht viel, und dafür wurden schließlich von jedem Teilnemer drei Franken erlegt.

Dann kletterte jeder wieder in die eidgenössischen Postkutschen hinein, um rechtzeitig auf seinen Plaz zu gelangen. Droben am St. Annaberge zeigte sich in der klaren angenemen Witterung der kleine Bannwald, die gesezlich geschüzte Waldung, der an­gehende Lawinen von Andermatt   fern halten und abwehren soll; weiterhin erglänzten die Firnfelder des Blauberges( 9240 Fuß Meeresfläche) als Illustration der hier im Winter und noch mehr im Früling drohenden Gefaren.

Das Gotthardterrain hat außergewönlichen Reichtum an Lawinenbahnen, d. h. an solchen Rutsch- und Senkflächen, die in jedem schneereichem Winter von stürzenden Eis- und Schneemassen mit Gebirgstrümmern heimgesucht werden. Der schweizerische Oberforstinspektor Coaz erwänt beispielsweise in seiner diesbe­züglichen Statistik( Die Lawinen der Schweizeralpen 1880), daß es einzig am St. Gotthard   nicht weniger als 518 Lawinenzüge gibt, durch die 69 Forsten, resp. Waldteile, 118 Straßenpartien und 53 Gebäude direkt gefärdet werden.

256 dieser als Lawinenzüge erwänten unheimlichen Stätten gehören diesem zur Sommerszeit so idyllischem Hochtale an.

Das mittelalterliche Andermatt   wurde z. B. ebenfalls durch eine Lawine zerstört. Am Fuße des Kirchberges, wo sich jezt noch ein uraltes Türmchen neben anderen Gebäuden zeigt, stand in der Vorzeit diese Ortschaft, wärend das heutige Dorf bedeu­tend südlicher aufgefürt wurde.

Wir hatten an diesem Tage( 18. Oftbr. 78) von Lawinen nicht das Geringste zu befürchten, das weite, stille Tal prangte troz der vorgerückten Jareszeit noch im grünen Schmucke an­mutiger Bergmatten und Talwiesen, und hie und da gewarte man die breitgestirnten Rinderheerden in stiller Tätigkeit, d. h. beim Abweiden der grünen Wiesenflächen.

Einige Prachtexemplare dieses herlichen Viehschlages unter­brachen wol auch beim Nahen des Posttrains ihre Malzeit, mu­sterten nachdenklich die vorübereilende Wagenreihe und sezten dann im kurzen, gravitätisch gemessenen Schritte ihren Rund­gang fort.

Der Anblick einer weidenden Rindviehheerde im Hochgebirge gewärt in der Regel einen stimmungsvollen Reiz. Das Geläute der Schellen, der Kuhreigen der Hirten und ähnlich melodischer Zubehör bilden das poetische Element einer derartigen Landschafts­staffage. Es mag ein Vorurteil oder eine Täuschung sein, wenn man annimt, daß das Gebirgsvieh von der Rasse dieser gehörnten Wiederkäuer bedeutend intelligenter sei als das phlegmatische Hornvieh der Ebene. Mehr Ausdauer und Künheit beweisen diese Tiere jedenfalls, und wenn Schiller   in seiner Dichtung äußert: wie schön der Kuh das Band am Halse steht, und nämt ihr's ihr, sie hörte auf zu fressen", so bewies er damit hinreichend, daß er diesen Sommergästen der Hochgebirgsmatten sogar mensch liche Schwächen zumutete.

Uebrigens hat Schiller die Lokalitäten, die er im Tell so naturwar und warheitsgetreu schildert, nie erblickt, d. h. nie be­sucht. Die malerischen Geschichtsschilderungen eines Johannes von Müller  ,( 1752-1809) bildeten für seine genial- poetische Schilderungsgabe die genügende Quelle. Auch Johannes von Müller   hatte bezüglich der hier zunächst in Betracht kommenden historischen Landschaftsschilderungen bei einem früheren Geschichts­schreiber seinen Stoff entlehnt.

Wer heute mit dem aufgeschlagenen Textbuche von Schillers Tell in der Hand, vom Vierwaldstättersee angefangen bis zur Uebergangshöhe des St. Gotthard   hinauf alle historischinteressanten und in dem erwänten Meisterwerke angefürten Stätten besucht, wird und muß sich wundern, daß Schiller   in allen Einzelheiten

die landschaftlichen Szenerien und Karaktere so bestimmt und zu­treffend schildern konte, one dieselben jemals besucht zu haben!

Von Andermatt   nach Hospental   eilten unsere eidgenössischen Postfurwerke auf fast ebener Straße beim munteren Trabe der vorgespanten zalreichen Gäule schnell durch das Tal; dann ging es aber bedächtig beim Dorfe Hospental bergaufwärts, denn mun

bewegten sich die Wagen auf der im Bidzad ansteigenden Poſt­

straße dem eigentlichen Gotthardpasse entgegen.