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Menschenseele, und das ist' was wert für Reisende, die rasch an Ort und Stelle sein wollen."
Einen besseren Bescheid hätte Doktor Philipp nicht hoffen dürfen und eben so wenig eine schnellere Abmachung des Geschäfts mit dem Posthalter, wobei dessen Schwiegersohn, der Badearzt, ein sehr lebhaftes Interesse für seinen Kollegen geäußert hatte. Ehe noch eine Stunde verflossen war, rollte ein von kräftigen, flüchtig auftretenden Senner- Pferden gezogener leichter Wagen, in dem Doktor Philipp sich befand, aus Nenndorf. Für die Badegesellschaft konnte es keine interessantere Metamorphose dieses Liebesromanes geben, als die eben beginnende Verfolgung des flüchtigen Pares. Einen solchen Umschwung des Ereignisses von heute Morgen hatte niemand geahnt, man hatte sich mit der Gewißheit der Annahme vertraut gemacht, daß Frau Lucie in dem schlammigen Tümpel gefunden werden würde, was sicher ein höchst trauriger Abschluß gewesen wäre. Jezt freilich stand die Sache ganz anders, jezt hing natürlich alles davon ab, ob Doktor Philipp sein treuloses Weib und dessen Entführer rechtzeitig ereilen werde oder nicht.
Wie die Pferde gingen, das war ja gerade wie mit Windes flügeln gewesen, immerfort im Sturm! Eine volle Glockenstunde kamen sie in Hamburg zu früh an. Der„ Simson" lag allerdings zur Abfahrt bereit; aber das hatte noch Zeit. Doktor Philipp und der Posthalter waren an den Hafen gegangen, sich das Schiff anzusehen.
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Ein prächtiger Bursche, der Simson, wie es nicht viele bessere giebt," sagte der Hafenpolizei- Inspektor, ein Bekannter des Posthalters." Ich hoffe nicht, daß ihr mit wollt, Brendemann?"
" Ich? fällt mir nicht ein. Was sollte ich bei den Engländern drüben? Sind überhaupt nicht mein Schlag Leute... großbrodige Gesellschaft," entgegnete der Gefragte.„ Nein, hier den Herrn Doktor Philipp aus Hildesheim habe ich hergefahren." Während der eben Genannte voll Staunen die vielen Schiffe betrachtete, deren Masten wie ein Wald aus dem Hafen emporragten, erzählte der Posthalter leise dem Hafenpolizei- Inspektor, was seinen Fahrgast eigentlich hergeführt habe.
" Hm, hat euer Herr Doktor jemand hier, der ihn kennt, für ihn bürgt?" war Jenes Frage.
" Weiß ich nicht,' s kann wohl sein... werde ihn fragen." Der Posthalter fand es ganz in der Ordnung, daß er sich dieser Angelegenheit annähme, denn er betrachtete den in solchen üblen Handel schuldlos geratenen Doktor als einen ihm zur Obhut Uebergebenen.
,, Kenne den Herrn Senator Krelinger; sein jüngster Sohn, der Justus, ist noch im vorigen Jahre, ehe er nach Wien ging, Provisor in meiner Apoteke gewesen und sein Herr Papa einige mal bei mir zu Besuch."
,, Und wenn man den Wolf nennt, kommt er gerannt," meinte der Polizei Inspektor lachend.„ Sehen sie sich mal um... nach rechts, Herr Doktor. Na, eins ist jezt schon richtig der Englischman läuft schmachvoll ab."
An der genauen Bekanntschaft zwischen dem Herrn Senator und Doktor Philipp war durchaus nicht zu zweifeln. Zwischen ihnen gab sich große Herzlichkeit kund und selbstverständlich erfuhr der erstere die Ursache des Hierseins seines hildesheimer Bekannten. Ein Wink des hochgestellten Ratsherrn rief den Hafenbeamten zu sich, und dieser empfing die nötige Ordre hinsichtlich der vorzunehmenden Verhinderung der Abreise Frau
Luciens.
Unter Vortritt eines Matrosen, der einen kleinen Koffer auf der Schulter trug, schritt der Kapitän des„ Simson" auf sein Schiff. Ihm folgte Sir Richard Clinton, Frau Lucie am Arme führend.
Plözlich legte sich eine schwere Hand auf die Schulter des jungen Engländers, und der Hafenpolizei- Inspektor sprach in englischer Sprache halblaut zu ihm:„ Sir, Lady Lucie darf Ihnen nicht auf's Schiff folgen, Sie haben kein Recht sie mit zunehmen. Vermeiden Sie jeden Widerstand, Sie sind hier auf deutschem Grund und Boden... es ist das Klügste, was Sie
tun können."
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Für den hochblonden Sir war diese Ueberraschung so ge waltig, daß er den Sprechenden mit weitgeöffneten Augen an starrte, er schien ihn gar nicht verstanden zu haben, indeß die Erklärung, wie diese Warnung zu nehmen sei, ließ nicht auf sich warten. Der Anblick Luciens, deren Gesicht der Schreck bleich und regungslos gemacht hatte, überzeugte ihn, daß sein Entführungsplan entdeckt sei. Neben ihr stand der von ihr verlassene Gatte.„ Komm!" befahl er ihr mit gedämpfter Stimme. " Wenn noch ein Funke von Ehrgefühl in dir ist, gehorchst du schweigend. In diesem Falle schüze ich dich... bei Widersezlichkeit jedoch überlasse ich dich der Polizei. Sie führt dich in's Gewahrsam, und du wirst nicht nur hier zum Volksspott, sondern auch auf deinem Transport nach Hildesheim ."
„ Und warum willst du so großmütig gegen mich sein?" fragte sie leise.
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Weil du bis zur Scheidung meine Gattin bist."
Ein sichtbares Zusammenfahren Luciens deutete an, daß sie jezt erst ihre entehrende Stellung begriff, sie blickte zu Boden. Ihre Leidenschaft zu Sir Richard hatte sie derart verblendet, daß sie nicht an die Möglichkeit einer Entdeckung ihres Ver brechens an Gatten und Kind gedacht zu haben schien. Der Gedanke war ein verspäteter... ein sie niederschmetternder Bliz strahl, der ihr auch den lezten Rest des Mutes nahm.
„ Auf Wiedersehen, Lady Lucie! Auf baldiges Wiedersehen!" rief Sir Richard Clinton, der unterdeß zu der Erkenntnis ge kommen war, daß sein Spiel ein verlorenes sei und er seiner Familie, seines Namens wegen sich in das Unvermeidliche fügen müsse. In wilder Hast stürmte er unaufgehalten dem Schiffe zu, auf dessen Deck die Ueberfahrenden sich zu sammeln begannen, um der Abfahrt des„ Simson" beizuwohnen und mit ihren bis dahin am Strande weilenden Freunden und Bekannten Abschiedsgrüße auszutauschen.
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Das Geschäft ging glatt von statten, wie lange Zeit keins gegangen ist, gelt Herr Inspektor?" lachte einer der PolizeiChargirten.
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" Hm, der englische Windhund hat's beste Teil erwählt, lautete die Antwort. lautete die Antwort.„ Aber daß sich der Doktor freuen kann, sein entflogenes Vöglein wieder eingefangen zu haben, will mir nicht recht in den Kopf. Na, jeder muß wissen, was ihm an genehm ist."
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Doktor Philipp hatte seine ungetreue Gattin nach Hildes heim zurückgebracht und die Scheidung eingeleitet. Es war eine furze, aber traurige Reise gewesen. Zwischen ihnen herrschte Schweigen, was in der Tat nicht anders sein konnte, denn in ihren Gemütern war es ebenso düster wie in der Nachtstunde, als ihr Fuhrwerk vor der Apoteke hielt. Nur spärlicher Licht schein war in Frau Luciens bisherigem Wohnzimmer hinter den herabgelassenen Rouleaux zu bemerken, die übrigen Fenster des Hauses waren finster. Der Doktor hatte nicht nur die Ankunft im Nachtdunkel angeordnet, sondern auch den Empfang, wie er stattfand. Die Amme und ein Stößer, der schon zu Lebzeiten des verstorbenen Herrn in seiner Funktion diente und im Ver laufe der Zeit schwerhörig geworden war, harrten ihrer. Auf beide Personen war Verlaß, das wußte der Doktor und deshalb hatte er sie bestellt. Es wurde seinem Befehle gemäß kein Be grüßungswort geäußert. Schweigend begaben sich der Doktor und Frau Lucie in ihre Zimmer hinauf.
Wie gebrochen sank der gleichsam ins Herz getroffene Mann in seinen Lehnsessel.
Eve hatte die für ihn angezündete Lampe tief herunter ges schraubt, ihre Flamme brannte düster wie das erlöschen wollende Licht in einem weiten und tiefen Keller. Sein Vorsichhinbrüten stimmte genau mit diesem dürftigen Lichtschimmer überein, sein Denken war ein trauriges... er hatte den Glauben an das Gute und Edle im Menschenherzen verloren. Und was ist dann das Menschenleben noch wert? Nichts, garnichts! Diese Ant wort, die er sich selbst zu geben gezwungen sah, durchschauerte ihn wie Fieber. Ein wertloses Leben leben zu müssen, ist ein