Reineke Fuchs.
Eine literar- historische Skizze von Fr. Nauert.
( Schluß.)
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Die ältesten bekannten Gestaltungen der Tierfabeln zu größeren Gedichten sind drei in lateinischer Sprache abgefaßte Werke: die„ Ekbasis", deren Entstehung man im 10. Jahrhundert vermutet, der„ Isengrimus " aus dem Ende des elften oder dem Anfang des zwölften Jahrhunderts und„ Reinardus", der nach übereinstimmenden Urteilen zwischen 1148 und 1160 verfaßt wurde und zwar, wie einige behaupten, von Magister Nivardus , der im nördlichen Flandern gelebt haben soll. Sein Gedicht enthält in 6596 Versen 12 Abenteuer und behandelt in bald wörtlicher bald verkürzter Wiedergabe dieselben Fabeln wie der Isengrimus, der in der schon angegebenen Zeit in Südflandern entstand. Die erste hoch-deutsche epische Bearbeitung der Tierfabel stammt aus dem 12. Jahrhundert und zwar ist der Verfasser Heinrich der Glichesaere ( Gleißner), als dessen Heimat das Elsaß, aber auch die Schweiz und Baden be= zeichnet wird. Von seinem Gedicht hat man jedoch nur ein Bruchstück aufgefunden und ist es nur durch eine Ueberarbeitung bekannt gewor= den. Reinhart Fuchs", wie das Epos hier genannt ist, hat 10 Gesänge mit 2226 Versen.
Einen kolossalen Umfang hat die Gestaltung dieses Gegenstandes in Frankreich angenommen. So enthält die Sage des„ Renart" in dem von Méon aus angeblich zwölf Handschriften zusammengestellten „ Roman du Renard" allein 30 362 Verse, die aber mit den noch ungedruckten zu der respektabeln Zahl von 80 000 anschwellen. Die ältesten davon sind vermutlich in der zweiten Hälfte des 12. oder in der Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßt. Die einzelnen Abschnitte dieses Gedichts erscheinen hier in der Gesammtbearbeitung nicht in dem Zusammenhange wie in den vorher genannten.
Den vielen späteren Bearbeitungen in deutscher Sprache liegt aber der niederländische ,, Reinaert" zugrunde, von dem die erste Handschrift, die sogenannte Komburger, sich in Stuttgart befindet und 3474 Verse hat, die zweite wird in Brüssel aufbewahrt und die dritte ist ein von einem Holländer aufgefundenes Fragment mit 1038 Versen. Alle drei zusammen herausgegeben umfassen gegen 8000 Verse. Ueber die Zeit der Entstehung und den Namen des Verfassers sind mancherlei Hypotesen aufgestellt worden. Inbezug auf die Zeit schwanken die Angaben von dem lezten Drittel des 12. bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Verschiedene niederdeutsche Umwandlungen des„ Reinaert" in„ Reinefe," die viele Ausgaben und große Verbreitung fanden, wollen wir hier nicht erst näher bezeichnen. Aber später erfuhr der niederdeutsche Reineke auch manche Uebersezung, und unter anderen auch die von Gottsched in Prosa verfaßte:" Heinrichs von Alkmar Reineke der Fuchs," welche der jedenfalls bedeutendsten dichterischen Behandlung der Tiersage in neuerer Zeit als Hauptquelle diente: Goethes Reineke Fuchs .
Durch dieses Werk angeregt erschienen mehrere Bearbeitungen desselben Gegenstandes, keine reicht jedoch an die Schöpfung unseres Dichterfürsten heran; wir unterlassen es daher auch darauf einzugehen. Ebenso müssen wir es uns versagen, aus dem reichen Schaz der Tiersage einzelne Beispiele anzuführen, so verlockend dies auch ist. Wir beschränken uns vielmehr darauf, einiges über Goethe's Tierepos anzuführen und empfehlen dem Leser dieses Werk selbst zu lesen, sind wir doch von vornherein überzeugt, daß keiner das Buch unbefriedigt aus der Hand legen wird.
Es ist Goethe vielfach verübelt worden, daß er an den großen politischen Ereignissen zu Ende des vorigen Jahrhunderts, wie an der politischen Bewegung zu Anfang des jezigen in Deutschland nicht genügenden Anteil genommen, und daß er anstatt sich für die Juli- Revolution zu begeistern, den naturwissenschaftlichen Streit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint Hilaire , der bereits die moderne naturwissenschaftliche, den Namen Darwin tragende Bewegung und Weltanschauung anfündigte, viel aufmerksamer verfolgte und für viel wichtiger hielt. Aber man tut ihm unrecht, wenn man ihn deshalb einen Aristokraten schilt, denn seine Schriften bewähren allerwegen eine so feine Kenntnis des Menschen und Volkslebens und sie betonen eine so große und edle Liebe zum Volke, zur gesammten Menschheit, daß jeder Vorwurf der Volksfeindschaft oder der Gleichgiltigkeit gegen das Wohl des Volkes daran zerschellen muß. Schon der Inhalt seines Faust und seines Wil helm Meister dokumentirt seine eifrige und verständnisvolle Anteilname an allen die Menschheit berührenden Fragen hinreichend. Wenn er aber nicht am großen politischen Treiben aktiv teilnahm, so mag einerseits daran schuld sein, daß sein Geist von Haus aus nicht darauf hingeleitet wurde, andererseits daß seine harmonische, weit über den betäubenden Lärm des politischen Parteilebens emporragende Natur ihn hinderte, sich den Wirren der Zeit hinzugeben und statt für eine größere Zukunft zu schaffen, für eine jämmerliche Gegenwart sich aufzureiben. Wie sehr ihm diese Gegenwart aber zu Herzen ging, zeigte sich auch, als er 1793 an die Dichtung seiner„ unheiligen Weltbibel", wie er den Reineke Fuchs nennt, ging. Die Ereignisse hatten ihn so ergriffen, daß er sich nach einer Tätigkeit umsah, welche seinem Gemüt Erholung von dem täglich Erlebten bringen konnte. Da fiel ihm das alte Tierepos in die Hände, und so schreibt er denn selbst: Hatte ich mich bisher an Straßen, Markt- und Böbelauftritten bis zum Abscheu übersättigen müssen, so war es nun wirklich erheiternd, in den Hof- und Regentenspiegel zu blicken; denn wenn auch hier das Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich verträgt, so geht doch alles,
wo nicht musterhaft, doch heiter zu, und nirgends fühlt sich der gute Humor gestört." Sehr erklärlich ist, wenn der Dichter in dieser Stimmung, die politischen Verhältnisse vor Augen behaltend, in seiner Dichtung manche Ausartung geißelte und verspottete; die oft nicht mißzuverstehende Satyre wird manchem, der obigen Vorwurf erhebt, besser belehren, als wir dies hier zu tun vermögen. Einige Proben werden dies zeigen.
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Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen" und Nobel, der König des Tierstaates, versammelte alle seine Vasallen zur Abhaltung eines Hostages. Niemand sollte fehlen! Alle kamen.
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Und dennoch fehlte der Eine,
Reineke Fuchs, der Schelm, der viel begangenen Frevels Halben des Hofs sich enthielt. So scheut das böse Gewissen Licht und Tag; es scheute der Fuchs die versammelten Herren. Alle hatten zu flagen; er hatte sie alle beleidigt."
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Zuerst tritt Jsegrimm vor und erhebt seine Anklagen, die so mannig fach und schwerwiegend sind, daß sie allein genügen, um den Frevler an den Galgen zu bringen. Dann kommt Wackerlos, das Hündchen, ihm folgt der Panther, die Klagen vervollständigend. Grimbart , der Dachs, ein Freund des Angeklagten, verteidigt seinen abwesenden Oheim sehr beredt, muß aber verstummen als Henning, der Hahn, mit seinem Hühnergeschlecht angezogen kommt, eine Henne auf der Bahre tragend, welche der schlaue Bösewicht erwürgte. Diese stumme Anklage, die auch von der Rede der Leidtragenden fräftig unterstüzt wird, macht jede weitere Ver teidigung unmöglich, und so wird denn Braun, der Bär ausgesandt nach Malepartus, der Burg des Reineke, um diesen vor Gericht zu laden. Der Angeklagte, die Schwächen des Boten kennend und schlau nüzend, verspricht diesem reiche Beute an Honig auf einem Bauernhof, klemmt aber den Kopf des Näschers in den Spalt eines Baumstammes und verhöhnt ihn als er von den Bauern fast totgeschlagen worden. Natürlich herrscht bei Hofe große Entrüstung über den neuen Streich. Jezt wird Hinze, der Kater abgesandt, um ihn zu holen. Doch dieser läßt sich durch seine große Vorliebe für einen Mäuseschmaus verleiten mit nach des Pfaffen Scheune zu gehen, wo er aber in einer Schlinge hängen bleibt und gleichfalls wader durchgeprügelt wird. Da sich die Entrüstung bei Hofe steigert, so geht nun Grimbart und bringt durch sein Zureden den nichtsnuzigen Öhm soweit, daß er mitgeht. Höchst ergözlich sind dann die Streiche beschrieben, die er unterwegs dem Dachs beichtet.
Bei Hofe zum Tode durch den Strang verurteilt, weiß er sich, be reits auf der Leiter zum Galgen stehend, durch eine unverschämte Ver teidigung die aber sehr schlau auf die Schwächen des Königs Rüd sicht nimmt wieder von diesem Gnade auszuwirken und bringt es soweit, daß seine ärgsten Gegner, Bär und Wolf nicht nur gefangen gesezt werden, sondern daß auch noch der erstere ein Stück Fell zu einer Reisetasche, der leztere seine Schuhe für den Sünder hergeben muß. Dem König hat er vorgelogen, er stände unter dem Bann des Pabstes und wolle nach Rom pilgern, um sich zu befreien. Bellyn, der Widder und Beichtvater des Königs, muß ihm den Segen geben und begleitet ihn nebst Lampe , den Hasen, nach seinem Schlosse, wo er den leztern heimlich erwürgt und dessen Fell in seinem Ranzen durch Bellyn dem Könige schickt, dem harmlosen Boten weißmachend es seien wichtige Briefe darin. Lezterer durch diese wichtige Mission sehr geschmeichelt, läßt sich sogar noch zu der Aussage übertölpeln, er habe an deren Abfassung geholfen und verliert bei Hofe angekommen sein Leben zur Strafe. Scheinbar Morgengebete lesend und wie ein Bilger gekleidet vor seiner Tür sizend, spielt Reineke bald darauf wieder den harmlos daher kommenden Kaninchen einen Streich und auch der Krähe. Als diese ihre Klagen beim Könige vorgebracht, wird beschlossen, die Burg des Friedensstörers kriegerisch zu überfallen. Grimbart geht aber noch mals und holt ihn. Unterwegs beichtet Reineke wieder seine früher au Wolfe verübten Streiche. Seine Beichte, die er mit den Worten beginnt: „ Durch die Welt sich zu helfen, ist ganz was Eignes; man kann sich Nicht so heilig bewahren als wie im Kloster; das wißt Ihr." ist aber zugleich eine Verteidigung, die alle von seinen Gegnern an Hofe verübten Schlechtigkeiten aufzählt, um schließlich jesuitisch mit fol gendem Saze zu schließen:
,, Nimmt ein armer Teufel wie Reineke irgend ein Hühnchen, Wollen sie Alle gleich über ihn her, ihn suchen und fangen; Und verdammen ihn laut mit einer Stimme zum Tode. Kleine Tiebe hängt man so weg, es haben die großen Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten."
Zu derartigem Moralisiren hat nun wohl der schlaue Fuchs sehr wenig Berechtigung, aber er ist unter den Tierhelden der einzige, der solche Einsicht befizt und sich offen ausspricht. Spekulirt er mit der Beichte auch nur auf eigene Vorteile, so verteidigt er damit doch zu gleich die Volksmassen gegen das schädliche Treiben der Mächtigen Tierstaate. Dafür zeugt auch folgender Ausspruch:
„ Es macht die Geburt uns Weder edel noch gut, noch kann sie zur Schande gereichen. Aber Tugend und Laster, sie unterscheiden die Menschen." Die böse Wirtschaft der Klerisei kommt nicht minder schlecht we und so ruft schließlich der Dachs:„ Oheim ich find es besonders, Ihr beichtet fremde Sünden" und deshalb kommt derselbe denn auch
schließlich zu der Ansicht: