unwissend darauf Fußende in seinen Schlund hinabreißt. Wie wäre es möglich gewesen, daß Richard am Neujahrsabend so liebevoll gegen sie hätte sein können, wenn er die Absicht ge­habt, sie von sich zu stoßen? Hatte sie auch vorher an seiner Treue Sezweifelt, jezt glaubte sie unerschütterlich, seine Liebe gehöre ihr noch so sicher, wie an jenem Tage, wo sie an seiner Seite den Simson" im hamburger Hafen besteigen wollte, um mit ihm zu fliehen.

Wenn auch, da er ihr bis zur Mitte Februar kein Lebens­zeichen von sich zuschickte, zuweilen eine Bangigkeit ihr Denken durchzitterte, daß sie nur mit Mühe derselben sich erwehren fonnte, so erhob sie sich doch rasch wieder aus diesem Zweifels­drange, der sie wie eine unheimliche gespenstige Macht überfiel. Selbst gegen Mistreß Stanhope äußerte sie nichts davon, obwohl sie nicht nur großes Vertrauen auf diese sezte, sondern auch auf deren freundschaftlichen Rat mit Sicherheit sich hätte verlassen fönnen. Im Erlernen der englischen Sprache hatte Lucie be­deutende Fortschritte gemacht. Mistreß Stanhope ließ sich keine Mühe dabei verdrießen und da ihre Schülerin nur auf den Umgang mit ihr angewiesen war, so lag es in der Natur der Sache, daß Lucie alles, was an ihr lag, aufbot, um ihr den Unterricht nicht schwer zu machen.

431

Die vor Neujahr durch eisige Nordstürme sich sehr empfind­lich machende Kälte hatte im Verlaufe des Januar einer mil­deren Temperatur Plaz gemacht, und dieser Umstand vergönnte| Lucien und der Mistreß oft im Park zu promeniren. Hier waren sie geschüzt vor jeder Wettereinwirkung. Das Rauschen des Windes in den hohen Tannen- und Kieferbäumen, der Schuz dichten Gesträuchs, dessen kahle Ruten sich großartig vor den die gut gehaltenen Wege Begehenden neigten, der Friede in dieser aus Laub- und Nadelholz der verschiedensten Arten be­ſtehenden, wohlgepflegten Waldregion hatte so viel Trauliches, daß Mistreß Stanhope sich sehr heiter fühlte und Lucien von ihren mannigfachen Reisen, die sie mit ihrem verstorbenen Manne auf dem Festlande gemacht hatte, erzählte. Dies hier ist nur ein kleines Landhaus," sagte sie... aber es gleicht auf's Har einem Schmuckkästchen, um das man einen Kranz gewunden.

Der

Gewiß, es ist ein recht augengefälliges, architektonisches Bild, das sich in einem freundlichen Naturrahmen präsentirt. Park bildet den Hintergrund, der sich immer frisch erhält, weil die der Themse entsteigenden Nebel sich auf ihren Ufern nieder­senken und der Baumwelt und den Rasenpläzen Feuchtigkeit spenden, welche sie vor dem Welken bewahrt."

"

Es ist hier sehr einsam, vergessen Sie das nicht, gute Mistreß," entgegnete Lucie., Sie wohnen am Strand, wie Sie mir sagten... es gibt da wohl keine oder doch sehr wenige Das hat auch Gärten, dafür aber ein großes rühriges Leben. einen Wert... glauben Sie das nicht?"

"

Warum sollte ich es nicht glauben? Ich bin ja davon seit mehreren Jahre lang überzeugt. Ach, was mir einfällt! Ich lade Sie für die ersten schönen Frühlingstage ein, mich zu besuchen." Dabei zog sie ein Notizbuch aus der Kleidtasche und überreichte ihr eine goldgedruckte Adreßkarte mit der Woh­Sie finden mich in keinem nungsangabe: Milford lane 6. Prachthotel, Miß Lucie, aber ich bin sehr zufrieden mit meiner Wohnung, sie bietet mir die Aussicht auf die Themse und somit eine unabreißbare Unterhaltung vom frühesten Morgen bis zum Abend."

"

Gegen die Stille und Einsamkeit des Landhauses und Parks stellt der Strand allerdings einen so großen Kontrast auf, daß es nicht zu viel behaupten heißt, wenn er den Fremden unbe­dingt als das bequemste, sicherste und interessanteste Duartier angeraten wird. Im fashionablen Teil der Stadt gelegen, zeigt er das londoner Leben in seiner höchsten Entwickwicklung der Tätigkeit. Hier ist alles vereint, was der Fremde wünschen kann, die großen Teater sind in der Nähe, in derselben Nähe die Themse , die schönsten Brücken, dann die wichtigsten Stationen der die Themse befahrenden Dampfboote. Und doch hatte das Landhaus mit seinem Part, trozdem es so weit vom Mittel­punkte der Lebensreize des ungeheuren Londons gelegen, auch seine sehr begünstigte Lage.

( Fortsezung folgt.)

Iphigenie auf Tauris.

Von Dr. Richard Ernst.

Diejenigen, welche es bestreiten, daß die Menschen aus sehr niedrigen Anfängen zur Höhe der Gesittung und Kultur sich mühselig emporarbeiten mußten, welche sich den Urzustand der Menschheit als eine liebliche Idylle voll Unschuld und Anmut vorstellen, gemäß der biblischen Sage, die die ersten Menschen in ein Paradies versezt, kann man am besten mit dem einen Wort Menschenopfer ad absurdum führen. Menschenopfer! Wen durchrieselt nicht ein Schauder beim Klang dieses Wortes, das den Wahn und die Barbarei der Urzeiten mit schrecklicher Deutlichkeit enthüllt! Wer wird nicht von bleichem Entsezen erfaßt, der sich im Geiste an jene Kulturstätten und Altäre ver ſezt, wo blühende Knaben, fräftige Jünglinge und zarte Jung­frauen, die Schläfe mit Blumen und Kränzen umwunden, ge­fnebelt lagen, um vom Schlachtmesser des kannibalischen Priesters, bor einer vertierten Menge, unter dem Getöse einer barbarischen Musik, den Göttern zu Ehren geopfert, d. H. geschlachtet, hierauf verbrannt, zumteil auch verzehrt zu werden! Mütter selbst brachten ihre fallenden Säuglinge herbei, um sie frommen Sinnes in die heißglühenden Arme einer ehernen Bildsäule zu legen und unter schrecklichen Qualen sterben zu sehen.

Wie viele Jahrhunderte mögen dahingegangen sein, bis der Menschengeist, aus seinem Stumpfsinn erwachend, auf das Ver­werfliche eines solchen Kultus sich besann und erleuchtetere Köpfe ihre kräftige Stimme erhoben gegen diese entsezliche Gottes­

verehrung! Wie viele heiße Kämpfe mochte es gekostet haben, die eingewurzelte Sitte auszurotten oder auch nur zu erschüttern, das Volk, die zäh am Ueberkommenen festhaltenden Massen auf­zuklären, die Furcht, die Beseitigung der Menschenopfer möchte die Gottheit erzürnen und nationales wie individuelles Unglück herbeiführen, zu besiegen! Welchen Anfeindungen mögen jene fühnen Neuerer, welche die Beseitigung der Menschenopfer an­strebten, von Seiten der Ortodoxen ihrer Zeit ausgesezt gewesen sein, in deren Augen sie boshafte Verführer und Umstürzler waren, die auf den Abfall von der Religion der Väter und der alten geheiligten Sitte ausgingen. Wie heftig, wie giftig mag der Fanatismus beschränkter und heuchlerischer Priester diese Re­former befehdet haben!

-

Kinder- und Menschenopfer begegnen uns bei allen Völkern des Altertums. Die Götter, von den Menschen nach ihrem Ebenbilde geschaffen und ihnen nur an Macht und Unsterblichkeit überlegen, waren sinnlich, roh, grausam und blutdürftig wie ihre Erzeuger. Die himmlischen Kannibalen waren die Spiegelbilder der irdischen. Bestrebt, diese imaginären unsichtbaren Träger

der Naturmächte und Schicksalsgewalten, die Gutes spenden und Böses verhängen sollten, sich günstig zu stimmen, wußten die Völker hiefür kein besseres Mittel, als blutige Opfer, unter denen Menschenopfer als die vorzüglichsten gelten mußten. Ein finsterer, feindseliger, auf die Sterblichen eifersüchtiger Zug