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Eine Charfreitagsfeier am Südabhang der Alpen  . Von Carl Stichler.

Die Charfreitagsfeier im nahen Mendrisio   müßten Sie Sich unbedingt mit ansehen, sie werden dann so recht den Unter­schied zwischen unserem Volte und Ihren nordischen Landsleuten fennen lernen!" so sprach ein liebenswürdiger Luganese zu mir, als wir im Restaurant soeben die Zeitungslektüre beendet hatten.

Daß der Tag Johannis des Täufers und damit auch seine Enthauptung in der Umgegend von Lugano   mit Tanzmusik und mit entsprechender Belustigung gefeiert wurde, war mir hin­reichend bekannt, und nicht minder, daß in den italienischen Katedralen gelegentlich des Hochamtes sehr flotte weltliche Musik­stücke, mitunter beliebte und pikante Partien aus modernen Operetten, von den Kirchenorgeln und von den dieselben unter­stüzenden und begleitenden Orchestern herabtönen; daß aber auch der Charfreitag die Gestalt eines Volksfestes annehmen und neben verschiedenen Andachtsübungen auch Prunk und Glanz, zerstreu­ung und Belustigung für tausende bieten könne, war mir durch­aus etwas Neues.

Wohl hatte ich früher einmal in Mendrisio  , in diesem süd­lichst gelegenen Städtchen der Schweiz  , Gelegenheit gehabt, während flüchtigen Aufenthalts ein wenig von der Charfreitag illumination wahrzunehmen. Dabei hatte ich auch gesehen, daß in der romantisch gelegenen Kirche beim dortigen Kantonsspitale die Andächtigen hinaus- und hineineilten, drinnen beteten und die Wundmale des ausgestellten Leichnames Christi tüßten, dann aber wieder bei dem dicht an der Kirchentür im Betrieb be= findlichen und stark in Anspruch genommenen Karussel verweilten, um sich dort entweder passiv an den zweifelhaften Klängen der Dreh­orgel zu ergözen oder um an dem Vergnügen des Herumschwebens auf hölzernen Pferdchen und in engen Kästen sich zu beteiligen.

Das hatte einen sonderbaren Eindruck auf mich hervorge­bracht, und als ich wieder in diese Gegend zurückkehrte, stand mein Vorsaz fest, am nächsten Charfreitage die Feier desselben im Städtchen Mendrisio   mitanzusehen.

Der Frühling hatte sich endlich wieder eingestellt und lockte mit seinen milden, lauen Lüften auf's neue eine farbenprächtige Vegetation hervor.

Die Charwoche und mit ihr der Charfreitag war heran­gekommen und auf nach Mendrisio  !" dachte ich, als ich zum hochgelegenen, einer fürstlichen Villa gleichendem Bahnhofe von Lugano   emporstieg. Bald hatte ich in einem der Waggons ein Pläzchen gefunden, das reiche und verhältnismäßig unbehinderte Aussicht gewährte, und fuhr nun auf diesem südlichsten Teile der Gotthardbahn   dem Städtchen Mendrisio   zu.

Seit länger denn einem halben Jahrzehnt ist der Betrieb dieser Verkehrsstrecke eröffnet, und jedenfalls zählt dieser Teil der außerordentlich wichtigen Bahnlinie zu den interessantesten, schönsten und romantischsten derselben.

Der von Lugano   nach Mendrisio   führende Schienenweg bietet eine überraschend vielseitige Fülle großartiger Landschaftsbilder, die zumteil den Anblick ausgedehnter Seeflächen, wildzerklüfteter Fels- und Bergkolosse, sowie auch anmutigerer Hügelgelände, von imposanten Gebirgsmassen überragt, aufweisen.

Vom Bahnhofe bei Lugano   eilte der Zug abwärts über eine fühn geschwungene Brücke hinweg und über den Abhängen ent­lang zum Monte San Salvatore  . Ein greller Pfiff der Loko­motive weckte hier das Echo der Berge, und gleich darauf rasselte die kurze Waggonreihe in einen kühlen, dunklen Felstunnel hinab, um am jenseitigen Ende desselben, nur wenig über dem See­spiegel, auf dem glatten Eisenpfade rastlos weiter zu eilen.

Westlich, zeigte sich die gigantische, drohende Felsenwand des Monte S. Salvatore; östlich breitete sich der von steilen, hohen Gebirgsufern umfäumte Spiegel des Luganer Sees aus, und jenseits desselben zeigte sich, dicht am Ufer des Sees gelegen und von malerischen Bergzügen umrahmt und überragt, das ur­alte Dorf Campione  .

Schon vor einem Jahrtausend schenkte ein deutscher Kaiser ( Ludwig II.  , 855-875) dieses Dörschen dem Kloster S. Am­brosio zu Mailand  ; und dieses Abhängigkeitsverhältnis erhielt sich bis auf die heutige Zeit und bedingte in der Gegenwart eine recht sonderbare Ausnahmsstellung der Ortschaft. Sie bildet mit ihrer unmittelbaren Umgebung ein Stück des Königreichs Italien  , ist von eidgenössischem Gebiete umgeben und erfreut sich daher diverser Einrichtungen, die durch ihre Eigenschaft als En­klave bedingt werden.

Berühmt ist das Dorf seit einem halben Jahrtausend als Künstlerheimat. Das erste der berühmten Staligermonumente in Verona  ( 1374 errichtet), sowie die frühesten Skulpturen am mailänder Dome wurden von den Campionesi" geschaffen, die noch in der klassischen Kunstperiode Italiens   als bewährte und tüchtige Kräfte hochgeschäzt wurden. Bald entschwindet das Dörf­lein den Blicken, und der Zug hält für die Dauer weniger Minuten in dem auf einer Halbinsel gelegenen Dörfchen Melide  . Auch dieses ist als Künstlerheimat bekannt. Domenico Fontana  , der berühmte Architekt Sixtus V.  , der den Obelisk auf dem Petersplaze zu Rom   aufrichtete sowie die weltberühmte Kuppel der Peterskirche fertig stellte, wurde hier mit anderen, später ebenfalls berühmt gewordenen Baukünstlern geboren. Es waren Bauernknaben, die mit geringen Mitteln und schwachen Vor­kenntnissen von dem unansehnlichen Dörfchen schieden und dann in glänzenden Residenzeu als Künstler hervorragten.

Weiter eilt der Zug; ein schmaler Bahndamm mit mehreren Brücken und Durchlässen durchschneidet den See, und über diese interessante Terrainpartie stürmt die Waggonreihe zum gegen überliegenden Ufer. Gewaltige, fühngeformte Fels- und Berg­massen umfäumen auch hier die Seeflächen, die das Tal aus­füllen und nur an den Abhängen einigen romantisch gelegenen Ortschaften Raum gönnen.

Dann verläßt der Bahndamm den Luganer See   und führt, nachdem mehrere Tunnel passirt sind, von neuem in eine Tal gegend hinaus, in der sich östlich, auf Hügeln malerisch errichtet und im Hintergrunde vom Monte Generoso   überragt, das Städt chen Mendrisio   erhebt.

Vom Bahnhofe geht es bergauf zum Städtchen, dem aus Gebirg und Tal zahlreiche Scharen festlich gepuzter Landleute zueilen.

Der Lärm, den die schwazenden, plaudernden und lachenden Massen verursachten, war nicht gering; von einer ernſten, er greifenden Feier konnte hier keine Rede sein, der ,, venerdi santo  " ( heiliger Freitag) war hier zum Volksfest gleich irgend einem Jahrmarkte und Schüzenfeste geworden, und seine eigentliche Be deutung schien selbst den Geistlichen, die man hie und da er­blickte, total gleichgültig zu sein,

In ihren eigentümlichen Kostümen waren die Diener der Kirche leicht von den anderen zu unterscheiden. Die schwarzen, dreieckigen Hüte mit den aufwärts gebogenen Krämpen, die Knie hosen und langen Strümpfe, die Schnallenschuhe 2c. 2c. erinnerten an das Zeitalter des siebenjährigen Krieges.

Die Herren hatten es für gut befunden, ihre Schäflein heute am Charfreitag nach Mendrisio   zu begleiten und väterlich zu überwachen. Ist doch Mendrisio  , das neben anderen nüzlichen Instituten auch eine ziemlich leistungsfähige Bierbrauerei bejizt, in der ganzen Gegend als Siz des radikalsten und gotlosesten Liberalismus troz seiner demonstrativen Charfreitagsfeier ver rufen.

Das Talent, schon mit wenigen künstlichen Hülfsmitteln Außer ordentliches in dekorativer Beziehung zu leisten, ist den Italienern eigen. Bei Nachtfesten und Illuminationen, wo es gilt fünft liche und überraschende Farbeneffekte hervorzubringen, gelangt diese Befähigung in der Regel zur vollen Geltung.