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Gottsched, Götze, Lessing.
Ein Stück Kulturgeschichte.
Das vorige Jahrhundert hat der Welt die französische Revolution gebracht, der gesammten Menschenwelt, denn welches Kulturvolk wäre nicht im Gange seiner politischen und materiellen, seiner intellektuellen und moralischen Entwicklung durch die politischen und sozialen Umgestaltungen, die revolutionären Gedanken und die sittlichen Anregungen, welche der französischen Nation seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu danken sind, beeinflußt und befruchtet, angespornt und gefördert worden?
Dasselbe vorige Jahrhundert hat derselben gesammten Kulturwelt eine andere Revolution geschenkt, welche darum nicht unbedeutender ist als jene, weil sie bis heute lange nicht so gewürdigt wurde, bei weitem nicht so leicht Verständnis fand und finden konnte, eine Revolution, welche in der Art, wie sie sich vollzog, für den wahren Kulturmenschen unfraglich viel höher zu achten ist, als jene, weil sie sich vollzog ohne Pulver und Blei, ohne Blut und Eisen, ohne den Laternengalgen und die Massenmezgerei der Guillotine.
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Diese leztgedachte, unscheinbarere Revolution ward geboren, wurde groß und mächtig in Deutschland , eine Revolution des Geistes, die in dem Triumvirate Lessing , Schiller, Goethe ihre höchste Verkörperung, ihre gewaltigsten Apostel fand. Es gibt heute noch in den Reihen aller politischen Parteien und auf den verschiedensten Bildungsstufen Leute, welche an der stillen Arbeit des Geistes, an dem meist anscheinend langsamen Wachsen der Volksintelligenz achtlos vorübergehen und nur Interesse finden an den Spektakelstücken, welche sich polternd und staubaufwirbelnd im Vordergrunde der Weltbühne abspielen.
Bisher hieß man Weltgeschichte die geistlos zusammenges tragenen Erzählungen aller möglichen Kriegsbrutalitäten und der rein äußerlich und oberflächlich aufgefaßten Ereignisse das Leben der Fürsten - und Priesterschaft.
Jezt gibt es gebildete und ungebildete, das Beste und das Schlechteste wollende Menschen genug, welche es ansehen für die höchste Leistung, die der Geschichte zugemutet werden kann, wenn an Stelle jener historischen Schauer- und Trauergeschichten, jener blöden Lobhudeleien und widerlichen Klätschereien, die genau so oberflächliche Beschreibung der Aeußerlichkeiten des Volkslebens, an Stelle der Brutalitäten der Fürsten -, Racenund Religionskriege die denn der Zweck heiligt nicht die Mittel! völlig gleichwärtigen Roheiten der blutigen Volks aufstände gesezt würden.
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Unvermeidlich waren die Kriege aller Art, die Kreuzzüge sowohl als die Bürgerkriege der Volkserhebungen, die einen wie die andern legitime Kinder der geistigen Beschränktheit der Völker, die für die Niedertracht vieler von denen, welche ein glückliches Geschick über die Masse und ihren Unverstand erhoben, den Boden des Gedeihens und das Feld der Betätigung gab. Unvermeidlich waren sie ob und wie lange noch sie unvermeidlich sein werden daran Behauptungen oder gar Ab
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| handlungen zu verschwenden, überlassen wir den guten Leuten, die als Zukunftsmusikanten so zweifelhafter Güte besonders qualifizirt sind, den Propheten und den Narren.
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Aber jede Art und jede Erscheinungsform der Völkerrauferei ist nichts weiter als ein immer neues Aufflackern der ursprünglichen Tierheit des Menschenkarakters, während das stille Weben und Wachsen unsrer Gedankenwelt das von jener Tierheit sich losringende Rein- und Edelmenschliche in unsrer Entwicklungsgeschichte repräsentirt.
Darum wird die Menschengeschichte im Gegensaz zur bisherigen sogenannten Welthistorie nur Kulturgeschichte sein und mehr und mehr sich verbreiten über und sich vertiefen in das innere Leben und Streben, Schaffen und Wirken aller Menschen, die zu geistigem Leben überhaupt erwacht und emporgediehen sind.
Besonders interessant aber werden für den Kulturforscher diejenigen Zeiten sein, in denen eine höhere Welterkenntnis und Lebensanschauung sich Bahn gebrochen hat, und, soweit sich der Entwicklungsgang der Kulturvölker überschauen und würdigen läßt, am allerinteressantesten wohl die Epoche, in der unsre Kulturwelt die Kinderschuhe der mittelalterlich- christlich- scholastischen Weltauffassung mit Bewußtsein und Absicht abzulegen begann.
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Während des gesammten Mittelalters hatte es Menschen gegeben, die da erkannten, in wie tiefer Geistesnacht ihre Mitwelt umhertappe, und denen ein vergleichsweise heller Strahl der Erkenntnis zuteil geworden, aber diese Erleuchteten mußten vereinzelt bleiben weil der Menge oder besser der großen Herde der Menschen die Fähigkeit solchen Erkennens völlig abging und sie sich zum willigen Werkzeug ihrer„ Hirten" ge brauchen ließ, welche die christlich- scholastische Geistes finsternis brauchten, um unter ihrem Schuze möglichst unbeachtet und un gestört ihre Schafe scheeren zu können.
Erst mit der schneidigen Kritik und Polemik der Encyklo pädisten in Frankreich und dem gewaltigen Schaffen der deutschen Klassiker der schönen Literatur brach jene Epoche für die ge sammte Kulturmenschheit an,- jene vorwiegend das Alte, Törichte, Verderbliche angreifend, zersezend, zerstörend, dieses wesentlich die Saat des Wahren, Guten, Schönen säend, das Fundament edel- menschlicher Lebensgestaltung in dauerhaftem Gestein aufrichtend.
Zu den pikantesten und zugleich lehrreichsten Episoden aus der Geschichte jener mächtigen Schöpfungszeit gehören die Kämpfe, welche Lessing gegen die Größen der Literatur, der Gelehrsam keit und der Kirche seiner Zeit geführt hat.
Wir greifen im Folgenden die belangreichsten heraus, die gegen den dereinstigen Beherrscher deutscher Literatur, Joh. Christian Gottsched , und den Vorkämpfer christlicher Rechtgläubigkeit, den hamburger Hauptpastor Göße, und hoffen damit unseren Lesern ein gut Teil von den Wurzeln und dem Werden unserer modernsten Kultur enthüllen zu können.
( Fortsezung folgt.)
Proben deutscher Volkspoesie der Gegenwart.
Das Volkslied.
Kennt ihr den zaubrisch wunderbaren Klang, Der mächtig sich von Mund zu Munde schwinget, Unwiderstehlich in die Herzen dringet, Bald hochaufjauchzend, flüsternd bald so bang?
Jezt schäumt es auf in ungestümer Lust, Dem Kinde gleich, die Freude harmlos zeigend, Der Lerche gleich, die hoch zum Himmel steigend Laut jubilirt aus freier, voller Brust.
Dann wieder lispelts leis, geheimnisvoll, Und offenbart des Herzens schönste Triebe, Das hölde Glück der süßen Jugendliebe, Von dem der Busen einst so mächtig schwoll.
Und wieder hallt's wie banger Klageton, Wie heißes, wildes, ungestilltes Sehnen, Es klagt der Menschen töricht eitles wähnen, Klingt wie enttäuschten Hoffens bittrer Hohn.
Oft braust's auch wie ein brüllender Orkan, Der Tod und Unheil rings umher bereitet, Der Glocke gleich, die wild zum Sturme läutet, Die Männer ruft zum Kampf auf blut'ger Bahn.