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Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Bolk.

1882.

№o 45.

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In Heften à 35 Pfennig. Erscheint wöchentlich. Preis vierteljährlich 1 Mark 50 Pfennig. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter.

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Verschlungene Lebenswege.

Roman von Franz Carion.

Gegen ein Uhr zur Mittagszeit wechselte stets das schau­luſtige Publikum in der Galerie. Die bürgerliche Gesellschaft verließ dieselbe gewöhnlich noch vor dieser Zeit, ihre häuslichen Einrichtungen machten dies nötig, man speist am Familientische und zufinden. Mistreß Lucie begab sich um ein Uhr stets an die Kaſſe und jedesmal in sehr gewählter Kleidung, die aristokra­tischen Besucher und Besucherinnen liebten diese ihnen erzeigte Aufmerksamkeit und fanden sie als die ihnen gebührende Ehren­bezeugung ganz in der Drdnung, auch harmonirte die elegante Kleidung der Kaffendame mit der prunkhaften Ausstattung des Entrées der Galerie, man trat in dieselbe mit der Ueberzeugung

ein, Schönes zu sehen.

Eben hatte Mistreß Lucie die von ihrer Wohnung in den ersten Saal herabführende Treppe hinter sich, als ihre Freundin, die gute Stanhope, eilig in dem mit Läusern belegten engen Gange hinter den Tableaux vom Eingange her auf sie zukam und ihr leise zuraunte: Die Clinton's und ein paar andere hohe Lordsfamilien sind socben vorgefahren, die Galerie wird heute sehr zahlreich besucht werden."

" Ja, die Clinton's, der alte dicke Lord mit seiner Schwägerin, der Lady, deren Gesicht wie von Hochmut steif gefroren zu sein scheint und deren Sohn, Sir Richard Clinton mit seiner jungen

Gemahlin..."

Keine Auseinandersezungen, liebe Stanhope," unterbrach Lucie sie. Ich habe keine Ursache, diese hochgeborne Familie zu lieben. Ich werde nicht an die Kasse gehen, sagen Sie das

ich werde ihn dafür honoriren. Gehen Sie! gehen Sie!"

( 18. Fortsezung.)

gestoßen, machte sie vor Abschen zittern. Wie ein loher Brand durchglühte tiefe Empörung bei der Erinnerung an diese ihr angetane unauslöschliche Beschimpfung ihre Seele. Geräusch vom Eingang des Saales her deutete auf den Eintritt der vor­nehmen Gesellschaft, sie hörte mehrere Stimmen durcheinander sprechen, nur nicht die Richard's und sehen wollten sie ihn, sehen, um zu wissen, ob über sein jugendlich schönes Gesicht die Reue ihren verfinsternden Schleier geworfen habe. Wie sehr sah sie sich getäuscht! Durch ein Loch im Hintergrund des Tableau, welcher aus starker Leinwand bestand, war es ihr möglich, die vor die Szene hintretenden Beschauer zu erkennen und sie sah ihn in Mitte einiger jungen Damen... am Arme

hing ihm Vally, seine reiche Gemahlin aus Yorkshire  , sie sah blaß, leidend aus; das aber störte ihren Gemahl nicht, sich sehr heiter mit den Damen zu unterhalten. Da mehrere zugleich sprachen, wurde es Lucien fast unmöglich, die von ihm einge­worfenen Bemerkungen unterscheiden zu können, aber sie mußten sehr heiteren Inhalts sein, denn seine vornehme Umgebung lachte

darüber und er stimmte mit ein.

In seinem Gesichte war auch nicht die mindeste An­deutung von irgend einem unterdrückten Grame zu bemerken. Aeußerte seine Gemahlin etwas gegen ihn, so hörte er mit großer Ruhe zu; aber in seinen Zügen zeigte sich keine Spur

von Regung, der Bann derselben Gleichgiltigkeit, wie seiner hochgeborenen Mama Antliz trug, sprach sich dann in dem seinen aus. Lucie glaubte in diesem Zeichen den Beweis zu finden,

daß seine Ehe mit der reichen yorkshirer Dame keine glückliche sein könne, seine Heiterkeit erschien ihr frivol und obwohl sie

nicht Ursache hatte, diese Lady, um deren willen sie so Schlimmes

Aber unter welcher Entschuldigung? Alles hat doch eine erlebt, zu beklagen, so bemächtigte sich ihrer doch ein Gefühl

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Ursache."

"

Gewiß, ich leide an Migraine  ."

" Sie sehen wirklich sehr angegriffen aus."

von Mitleid für sie und leise sagte sie zu sich:" Sie ist durch ihn unglücklich, wie er mich gemacht hat, nur in anderer Weise."

Da sich der große Saal rasch von vornehmen Besuchern füllte, mischten sich die Clintons und deren Freunde und Freundinnen unter die Gesellschaft und verließen das Tableau. Auch Mistreß Lucie trat an die Wand des engen Ganges   zurück. Fast gleich­

" Also gehen Sie, gute Stanhope... ich warte hier." Mistreß Lucie schien alle Beweglichkeit des Körpers ver­loren zu haben, sie blieb an die Wand gelehnt stehen. Der Gedanke, denjenigen wiederzusehen, der sie schmachvoll von sich zeitig kam Mistreß Stanhope von der Kasse zurück. Haben Sie

VII. Stuttgart  , 5. August 1882.

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