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Hoffnungen vor seine Augen. Die Mehrzahl der Männer, welche an der Spize der Bewegung standen, huldigten dem Egoismus, sie wollten sich zu Herren erheben, deren Aussprüche und Be­fehle allein regierten, in ihrer Großmannssucht waren sie so verblendet, sich die Talente zuzutrauen, die durchaus nötig sind, um eine so ernste Angelegenheit zum Ziele zu bringen; der große untergeordnete Haufen zählte zu den Selbstschmeichlern, denen es Vergnügen macht, sich als Retter und Schüzer ihrer Landsleute bis an die Zähne bewaffnet und bewundert zu wissen. Vergebens hatte Doktor Philipp es versucht, durch Mahnungen manches zu ändern, man sagte ihm einfach: dir fehlt es an Mut... gehe nachhause, das ist das beste für dich.

Er ging nicht, seine Ehre stand ja auf dem Spiele. Sie jedoch waren nicht nachhause gegangen, wohl aber in stockdunkler Nacht von Hause gewichen, und er lag unfähig zu dem einen oder anderen in der Klinik, seine Ehre war teuer errungen. Nach drei Wochen war er wieder hergestellt.

Der Oberchirurg sagte zu ihm: Heute noch holt man euch ab, Kollege Philipp, ihr werdet mit einem Transport Gefangener nach Hannover gebracht und habt durch eure Kurzeit hier in der Klinik nur das erspart, daß ihr unsere Ratsgefängnisse nicht kennen lerntet. Den Verlust habt ihr nicht zu betrauern."

Gegen Mittag verließ Doktor Philipp die Klinik in des Oberchirurgen Begleitung, der ihn nach den Ratsgefängnissen brachte, wo bereits ein Trupp Gefangener des Transports nach Hannover Harrte. Der Anblick seiner Unglücksgefährten, in deren Aeußerem die bereits bestandene Haft in den Ratsgefängnissen sich recht sichtbar kundgab, erschreckte ihn. Waren das blasse, Waren das blasse, bergrämte Gesichter! Was sie zu erwarten hatten, gehörte zu dem Schlimmsten, das Gefangenen bevorstehen kann, über ihre nächste Zukunft sollte das lezte Urteil gefällt werden... ihnen galt das Zuchthaus als einzige Aussicht.

Gleich einem schlimmen Omen drängte sich ihm das Wieder­sehen des groben Rottmeisters vor Augen, der, als der Wagen zur Abfahrt bereit stand und alle eingestiegen waren, auf das Trittbrett trat und ihre Namen verlas. Als auch Doktor Philipp boll Scham sein hier!" mit halber Stimme abgegeben, rief der Rottmeister spöttisch: Na, gute Unterhaltung im Zuchthause!"

Im selben Moment legte sich eine Hand schwer auf das Säbelgefäß des Lesenden, so daß derselbe einen niederziehenden Druck des Bandeliers auf der Schulter fühlte und zornig nieder sah, aber gewaltig erschrat, als er den Oberchirurg erblickte, der mit sehr ernster Stimme zu ihm sagte: Darüber wird er sich zu verantworten haben, merke er sich's."

Wenige Minuten nachher rollte der langgebaute Transport wagen von dannen.

8. Anter Freunden.

Es gibt ein norddeutsches Kanaan und das ist das Fürsten­ tum Calenberg , das Land der Altsachsen zwischen Deister und Leine, wo die Giebel der Häuser das seit Wodan's Zeiten heilige Sachsenzeichen, zwei in gekreuzter Lage angebrachte Pferde­töpfe, präsentiren. Dort ist alles harmonisch, die Bauern sind mit ihrem Grund und Boden so zu sagen verwachsen, denn wenn sie von ihren Feldern kommen, schleppen sie einen halben Acker an ihren Stiefeln mit in ihr Gehöft. Der Boden ist so zähe und schwer wie sein Bauer, aber die Ernten haben fast den gleichen Körnerfegen wie die des Nildelta und die Wiesen spen den die prächtigsten Weiden für die zahlreichen Viehherden, auf welche jeder calenberger Viehzüchter mit recht stolz ist. Dort hat die uralte Zeit, obwohl viele Neuerungen sich einheimisch gemacht haben, doch noch viel Bestand. Das größte Gehöft ist das des Ueber- Meiers. Ueber- Meier, Voll- Meier, Halb- Meier stammen aus des tapferen Sachsenherzogs Wittekind Zeit, der so schwere Kämpfe gegen Kaiser Karl den Großen führte, zulezt unterlag und sich taufen ließ, welchem Beispiel sein treues Volt folgte. Kein Edelmann aus altem Adelshause kann stolzer auf seinen Stammbaum sein, als der Ueber- Meier auf seinen min­destens tausendjährigen Titel und jeder Calenberger neigt sich

ehrfurchtsvoll vor ihm, denn er sieht in ihm einen Repräsentanten der alten Kraft und des Ruhms seines eigenen Volkes. Um dieser hoheitsvollen Erinnerung aus der Urväter Zeit willen gehören die Gehöfte dieses Bauernadels zumeist immer noch der alten Bauart an, wie sie zu Wittekind's verklungenen Tagen üblich war.

Diese Häuser sind langgestreckt, haben nur Erdgeschoß und Dach. Nach der Straße zugekehrt ist eine gewaltige Türe zum Einfahren des hochbeladenen vierspännigen Korn- oder Heuwagens. Dann öffnet sich die lehmgestampfte Tenne, Diele genannt. Zur rechten Seite stehen die Kühe und Rinder in langer Reihe, die Köpfe neugierig über die Krippe streckend, während auf der anderen Seite die Pferdeställe und die Schlafstätten der Knechte und Mägde sich befinden. Der großen Haustür gegenüber brennt ein offenes Feuer auf niedrigem Heerde und oben unter dem Balkon hängen Speckseiten, Würste und Schinken. Zu beiden Seiten des Heerdes führen Türen in den Hof, in den Garten und in die verschiedenen Stuben und Kammern. Das ist das Innere eines altsächsischen Bauernhauses.

Im Gehöft des Ueber- Meiers Hartschlag gab es allemal viel Lust und Lachen, wenn die Kühe von der Weide nachhause kamen, denn zu dieser Zeit fehlten die Kinder des Hausherrn niemals auf der Tenne, um die muntern, gutmütigen Tiere mit einer ihnen sehr angenehmen Spende zu empfangen. Das Jung­vieh besonders war, wie man sprichwörtlich zu sagen pflegt, sämmtlich vom Bändel los und tollte in spaßhaften Kapriolen und Kreuz- und Duersprüngen in den weiten Raum herein. Der Ueber- Meier hatte acht Kinder, zwei Jungen und sechs Mädel, und zu diesen lezteren war seit einem Jahre eine Kost­gängerin gekommen, welche damals, als sie hierher gebracht wurde, wenig Hoffnung gab, daß ihre Körperschwäche sich allmälich mindern werde, und doch war es so gekommen, der Genuß der frischen, würzigen Landluft hatte sie wieder stark und kräftig ge­macht, und was nicht wenig dazu beitrug, das war der heitere Umgang mit den Kindern des Ueber- Meiers, welcher sich von großer Einwirkung auf sie erwies. Freilich machte sich der An­flug einer jeweilig sie überraschenden trüben Stimmung bei ihr noch merkbar, indes diese verschwand doch bald wieder. Sie war noch zu jung, um sich dem aufmunternden, lustigen Treiben ihrer Gespielinnen, die es so herzlich mit ihr meinten, entziehen zu können und zu wollen.

Gretchen Philipp hatte wohl Ursache, sich manches zu Herzen zu nehmen. Sie war mutterlos seit ihrer zartesten Kindheit und für ihre lebhafte Phantasie wäre es besonders erhebend ge­wesen, wenn sie sich wenigstens eine bildliche Vorstellung von der Toten hätte machen können, wie ihr Vater und ihre Amme seit einigen Jahren übereinstimmend die Mutter bezeichneten. Nicht einmal ein Porträt besaß der Vater von ihr, und da er, wenn sie die Rede auf die Mutter brachte, allemal finster und mißlaunig wurde, so schwieg sie bald darüber; aber daß zwischen beiden viel schlimmes geschehen sein mußte, dieser Gedanke bildete sich bei ihr rasch aus, obwohl sie erst elf Jahre zählte und noch Vielleicht würde keine Ahnung von solchem Eheunglück hatte. dies Geheimnis ihr nicht unbekannt geblieben sein, wenn sie sich an einige ihrer Schulfreundinnen gewandt hätte, deren Eltern und Bekannte doch gewiß mehr von der Sache wußten; aber Gretchen empfand eine tiefe Scheu vor solcher Nachforschung, sie erschien ihr ehrenrührig gegen ihres Vaters Namen und zu­gleich eine Schändung des Andenkens der aus dem Leben ge­schiedenen Mutter, deren Liebe zu ihr der Vater ihr selbst be­stätigt hatte. Es schmerzte sie, im Dunkeln über die rätselvolle Trennung ihrer Eltern bleiben zu müssen, denn auch von der Amme konnte sie keine diesen Gegenstand betreffende Aufklärung erlangen. Die sonst treue und in jeder Beziehung rechtschaffene Dienstperson wollte nichts weiter wissen, als daß sich zwischen dem Herrn Doktor und seiner Gattin ein großer Streit erhoben... worüber? das wisse sie nicht... der endlich damit geendet habe, daß sie sich vom Gericht hätten scheiden lassen und die Frau an einem frühen Morgen fortgereist sei. Gretchen erkannte, daß ihr nichts übrig bleibe, als diese auf ihr so erdrückend laſtende