ist aber erst geschehen, nachdem die zivilisirte Welt ihr zu Ge-| walttaten ermunterndes Verhalten gebrandmarkt, nachdem die wirtschaftlichen Folgen der grauenhaften Exzesse in erschreckender Weise sich eingestellt und der gestörte Kredit und Handel die christlich- russischen Handels- und Industriekreise selbst in tiefe Mitleidenschaft gezogen hat. Das heutige Eintreten der rus­sischen Regierung ist ein Aft der Klugheit, der Wahrung der eigenen Interessen, niemals aber ein Beweis für die Erfüllung der einfachsten Gebote der staatlichen Gerechtigkeit.

Wir wollen nicht alle Schuld an den schrecklichen Ereig­nissen der einen Seite zuschieben, vielmehr die Tatsache zu­geben, daß das Wesen der Juden, die Tätigkeit einzelner von ihnen Anstoß erregte, die Massen verbitterte. Aber fiele nicht auch das wieder auf diejenigen zurück, die nichts zur Emanzi pation der Juden getan haben, die sie in ihrem Elende beließen, ihre Isolirung mit allen Mitteln des Rechts und der Gewalt aufrechterhielten und die ihnen jede Möglichkeit verweigerten, mit den Christen ein Volk zu bilden? Vielleicht auch spielte das angebliche Parasitentum der Juden bei den Hezen eine Rolle, vielleicht war es der Haß gegen die jüdische Ausbeu tung, der bei den Verfolgungen seinen Ausdruck fand, so daß diese als Akte der Volksjustiz aufzufassen wären! Wir haben bereits auf die harten Steine hingewiesen, welche in Rußland das Volk in materieller und geistiger Richtung zermalmten. Doch auch kleine Nadelstiche schmerzen, sie können sogar zuweilen eher zur Verzweiflung treiben, als betäubende Keulenschläge es zu tun vermögen. Wir wollen uns deshalb in den folgenden Blättern auf den Schauplaz der Hezen selbst versezen und einen Blick auf die Tätigkeit der Juden im Gouvernement Cherson werfen, jener Unglücksstätte, von der die Judenhezen ihren Ausgang nahmen und auf deren Boden sie ihre blutige Wie­derholung fanden. Zahlen und Tatsachen mögen sprechen und zeigen, ob und wie groß die Mitschuld der Juden an den Verfolgungen ist, welchen sie ausgesezt gewesen sind. Werfen wir zunächst einen Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Gouvernements Cherson , das bekanntlich zum fruchtbaren Teile des unermeßlichen südrussischen Steppengebiets, zur so­genannten Kornkammer Europa's" gehört. Die Bevölkerung gewährt ein buntes Nationalitätengemisch: Groß-, Klein- und Weißrussen , Polen , Bulgaren , griechische Bulgaren , Griechen, Moldauer, Armenier, Deutsche , Schweden , Franzosen , Italiener und Juden. Von der Gesammtbevölkerung des Gouvernements von 1 184 600 Seelen gehören 903 950 den verschiedenen rus­sischen Gruppen, 109 660 den Moldauern, 83 190 den Juden, 47 410 den Deutschen , 12 200 den Bulgaren an. Der Rest fällt den übrigen Nationalitäten zu. Juden wohnten hier, bevor noch der Fuß eines Russen oder Polen die Steppe be­betrat; die große Mehrzahl derselben jedoch ist eingewandert, freiwillig oder von den Wellen der Judenhezen hieher ver­schlagen.

an.

Die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung besteht im Acker­bau, in der Getreide und Weidewirtschaft, in der industriellen Verarbeitung und im Absaz der landwirtschaftlichen Produkte. Landwirtschaft, Industrie und Handel stehen zueinander in innigster Beziehung, und jedes Gewerbe und jeder spezielle Be­ruf, der sich einer dieser drei Hauptproduktionen zuweisen läßt, wird als ein nüzlicher angesehen werden müssen. Die jüdische Bevölkerung nun trifft man in jedem dieser Produktionszweige Sie ist es namentlich, die in der Geschichte der handels­politischen Entwicklung Chersons und des südlichen Rußland eine wichtige Rolle spielt. Ihr vor allen ist der große Auf­schwung ees Exporthandels zu verdanken, sowie die Errichtung zahlreicher Fabriken zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Pro dukte. Sie stellt ein starkes Kontingent zum Handwerkerstand und ist bereits in stattlicher Zahl in der Landwirtschaft selbst anzutreffen. Da man es gewöhnt ist, die produktive Arbeit der Juden nach ihrer Beteiligung am Handwerke zu beurteilen, sei diese zuerst in Erörterung gezogen.

Im Jahre 1880 existirten in der Stadt Cherson 618 Hand­werker, davon waren 317 Juden, und diese erscheinen aus­

schließlich als Müzenmacher, Posamentiere, Goldweber und Sticker, Kürschner, Drechsler und Uhrmacher, Gold-, Kupfer­und Blecharbeiter, Lampenfabrikanten, Verzinner, Färber, Schorn­steinfeger, Graveure, Xylographen. Vorherrschend sind auch Schneider, Modisten, Schuhmacher, Glaser , Buchbinder und Damenschuhfabrikanten; weniger zahlreich trifft man sie als Schlosser und Tischler, Sattler und Barbiere an. Gerber, Töpfer, Dachdecker, Gießer, Schmiede, Stellmacher, Wagen­bauer, Tapezierer, Maler u. s. w. sind fast ausschließlich Russen*).

Diese Gruppirung der Handwerke ist in Südrußland allge­mein; sie ändert sich in den westlichen und nordwestlichen Gou­vernements insofern, als dort die Juden auch den mehr oder weniger schweren und schwersten Geschäften obliegen, wo sie Laftträger, Schiffer, Schmiede u. s. w. sind. Es wird den jüdischen Handwerkern, Künstlern u. s. w. ein emfiger Fleiß nachgerühmt. Wo ihr Beruf ihnen eine halbwegs erträgliche Existenz sichert, da fehlt es ihnen auch nicht an großer Aus­dauer und Arbeitsfreudigkeit. Ueberhaupt unterscheidet die jü­dischen Handwerker von den russischen ein regerer Schaffens­trieb und im allgemeinen eine größere Berufstreue. Auf den auffallenden Mangel beider Eigenschaften bei den Russen ver­wies schon Harthausen. Unzufrieden mit seinem Geschäfte, sagt er, verläßt es der Russe, um an Stelle desselben ein anderes zu errichten. Vom Schuster wird er Schneider oder Tischler, und vertauscht so mit der größten Sorglosigkeit einen gewerb­lichen Beruf mit einem künstlerischen und diesen wieder mit der ersten besten Industrie. Gelingt es ihm, ein wenig Geld zu bekommen, so beeilt er sich, den Ankauf eines Pferdes und Wagens zu bewirken, sie in Betrieb zu sezen, von Süd nach Nord, von einem Gouvernement ins andere zu reisen, und wenn das Glück seine kleine Spekulation begünstigt, zögert er nicht, sich als Händler zu etabliren, um nach Verlauf einiger Jahre ein reicher Kaufmann zu werden. Der Kaufmann macht es wie der Handwerker; wie jener hat er keine Liebe für seinen Stand, und betrachtet den Handel nur als ein Mittel, Geld zu gewinnen. Der Bauer ist im allgemeinen gut, einfach und ehrenhaft, sowie er aber in den Stand des Kaufmanns und Spekulanten tritt, wird er ein abgefeimter Schelm.

Das ganze Streben des der Leibeigenschaft entstiegenen Russen ist nach diesem kompetenten Urteile darauf gerichtet, auf irgend eine Weise Geld zu verdienen. Das ist jedenfalls kein Verbrechen. Wenn es aber die Juden tun, wenn sie mit un­ermüdlichem Fleiße und der erstaunlichsten Zähigkeit gegen die schwierigsten Lebensverhältnisse ankämpfen, wenn sie unablässig danach trachten, dem Elende sich zu entreißen, dann ist das freilich vom Uebel, dann hat man es mit einer häßlichen Rassen­eigentümlichkeit zu tun! Harthausen führt die Unstätigkeit der russischen Handwerker, die im auffallenden Gegensaz zum zähesten Festhalten der Juden an ihren Beschäftigungen steht, auf das herrschende System zurück. herrschende System zurück. Den Beruf des Bauernsohnes, sagt er, bestimmt nach Belieben, ohne Rücksicht auf Anlagen und Befähigung, der Herr des Leibeigenen, und im Militär kom­mandirt der Oberst die erforderliche Zahl Soldaten zum Hand­werksdienst im Regimente u. s. w. Die Knechtschaft aber ist es, die in ihnen die Arbeitsfreudigkeit erstickte. Es ist ein eigen Ding mit der Arbeitsfreudigkeit. Sie ist heutzutage eine seltene Blume geworden, die nicht überall, nicht auf jedem Boden gedeiht, und am allerwenigsten auf dem der Knecht­schaft. Wie diese den Arbeitssinn, den Mut und Schaffens­trieb ertötet, so tut es aber auch das offene und schleichende Elend, das den rüstigsten Arm umstrickt und erschlafft. haben nicht nur unsere am Rande des Ruins befindlichen Hand­werker, sondern auch die jüdischen in Rußland erfahren, deren Elend bei gewaltiger Konkurrenz im allgemeinen ein perma­nentes und außerordentliches ist. Wenn bei den Russen die Despotie die Arbeitsfreudigkeit ertötet, so mußte der Druck der

Das

*) Diese Angaben sind einer interessanten Arbeit von Blumen­feld in Nr. 9 des Woschod", Jahrgang 1881, entnommen.