Von den deutschen Klassikern, deren Werke den kostbaren Schaz und den unerschöpflich fruchtbaren Boden modernen Geistes bilden, wissen die auf unsren Gymnasien gebildeten„ Gebildeten" in der Tat lächerlich oder vielmehr beschämend wenig, und die deutsche Sprache mißhandeln die meisten von ihnen in oft wirklich abscheulicher Weise.
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Ein paar Beispiele aus der Praxis des Schreibers dieser Zeilen mögen die Ausführungen Dubois- Reymonds für unsre Leser illustriren.
In einer Gesellschaft„ Gebildeter" erwähnte ich gelegentlich, daß ich eben wieder einmal daran sei, mich an Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts von tausendfältigem Aerger zu erholen,-- nebenbei gesagt für mich ein Radikalmittel, welches noch nie verfehlt hat, mich über alle Niedrigkeit der Gesinnung, die mir begegnet, alle Jämmerlichkeit des Existenzkampfes, der sich niemand ganz entziehen kann, zu trösten,- da erwiderte mir achselzuckend ein noch ziemlich junger Jurist, ein Mann, der seine Staatsexamen mit allen Ehren bestanden hatte und nicht nur für gewöhnlich gebildet, sondern sogar für hochgebildet gelten wollte und bei vielen Leuten wirklich galt:
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" Die Prosaschriften Schillers pah die sind doch längst vollständig antiquirt."
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wenn solch ein Menschenbruder auf der leipziger Messe einmal in einer Schaubude ausgestellt wäre.
Und was erst die gute" deutsche Sprache angeht, lieber Himmel!
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du
Ein ,, klassischer Philologe ein Gymnasialoberlehrer schrieb mir einmal:
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,, Unser gemeinschaftlicher Freund, der, nachdem er zwei Tage hier zu Besuch gewesen, nach Wien weitergereist ist, wünscht, Ihre Liebenswürdigkeit in Anspruch nehmend und davon, daß Sie ihm diese Gefälligkeit erweisen können, überzeugt, indem er Sie herzlich zu grüßen mir aufgetragen, Sie möchten die Güte haben, für ihn von der leipziger akademischen Lesehalle, deren Mitglied er Sie weiß, den lezten Jahrgang der ,, Göt tingischen gelehrten Anzeigen ", welche, wie ihm mitgeteilt, eine Rezension über das Buch seines Lehrers N. gebracht haben, auszuleihen."
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Diesem häßlich verzwickten, undeutschen Sazgefüge sieht man den ,, klassischen" Philologen denke ich deutlich genug an. So- Relativsäze und Partizipialfonstruktionen wie ein römischer Rededrechselmeister häufend schreiben viele, sehr viele unserer Hochgebildeten, nur oft noch häßlicher, noch verzwickter, noch undeutscher, zumal wenn sie ein grausames Schicksal mit noch mehr„ klassischer" Bildung überschüttet hat, als meinen Ober
" Haben Sie Schillers Prosaschriften nicht nur gelesen, sondern lehrer. einmal gründlich studirt, Herr Assessor?" fragte ich.
"
Behüte,- das fehlte mir noch, dazu hatte ich nie Zeit,- das steht ja auch ganz fest, daß der gute Schiller , wo er Prosa geschrieben hat, ungenießbar ist."
Im ersten Augenblick war es mir, als stünden mir alle Haare zu Berge. Der gute Schiller " hat mir aber auch diesen Hochgebildeten genießbar" gemacht. Ich betrachte ihn, seit er das eben zitirte denkwürdige Dittum geleistet, stets mit den höchsten Interesse, gleich wie ich einen Botofuden betrachten würde,
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Ich kann ohne zu übertreiben hinzufügen, daß von all' den etlichen hundert ,, Gebildeten" und ,, Gelehrten", von welchen mir während zehnjähriger Redaktionstätigkeit schriftliche Leistungen unter den Blauſtift gekommen sind, nicht der zehnte Teil ein Deutsch schrieb, welches ohne sorgfältige Bearbeitung und teilweis totale Umackerung hätte veröffentlicht werden können, während bestenfalls erst unter je fünfzig einer war, bei dessen Arbeiten der Redaktionsstift garnicht in Tätigkeit gesezt zu werden brauchte. ( Schluß folgt.)
Rouget de Lisle ( sprich ruhscheh delihl), dem Dichter der Marseillaise , hat das dankbare Frankreich am 27. August dieses Jahres in seiner Geburtsstadt Lons- le- Saulnier ( sprich long le johnjeh) ein Standbild errichtet, welches die Begeistrung der Zeit, in der jene Hymne entstand, vortrefflich zur Darstellung bringt. Der Künstler, einer der begabtesten Bildhauer Frank reichs, hat es verstanden, in der Person des Dichters und Sängers der Marseillaise die Marseillaise selbst gewissermaßen zu inkarniren. Die gewaltige Hymne, unter deren brausenden Tönen die jungen Soldaten Frankreichs zum Sieg eilten, hat sich verkörpert, sie ist Mensch geworden und heißt Rouget de Lisle .
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Zur lezten Feier des 14. Juli- des Bastillensturms wurde ein Gipsmodell des Kunstwertes in Paris aufgestellt und bildete den Mittelpunkt des großartigen Nationalfestes.
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Ueber die Entstehung der Marseillaise finden die Leser der„ Neuen Welt" in einem früheren Jahrgang nähere Auf schlüsse. Von Rouget de Lisle ist eigentlich nur zu sagen, daß er der Dichter der Marseillaise ist. Nur" der Marseillaise ? Gleich der Löwin der Fabel, die nur ein Junges hat,„ aber einen Löwen ," hat er nur ein Werk geschaffen, aber einen Löwen ". Ein Werk, das unsterblich ist. Nicht, als ob Rouget sonst gar nichts geleistet und erzeugt habe. Er war TonKünstler und hat zahlreiche Musikstücke, Opern und so weiter komponirt, allein es sind nur mittelmäßige Sachen, Eintagsfliegen, wie sie der folgende Tag tötet und vergißt. Wie
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aber konnte jemand, der sonst- unverblümt ausgedrückt so unbedeutend war, ein Werk wie die Marseillaise schaffen? Vielleicht gerade, weil er so unbedeutend war. Hätte er eine stärker ausgeprägte Individualität und Original- Schöpfungskraft besessen, so würde er mehr von seiner Individualität in den Text und in die Weise gelegt haben und hätte den Geist seiner Zeit nicht so voll und ganz, nicht so unverfälscht und rein, ohne eigenen Zusaz zum Ausdruck bringen fönnen. Rouget de Lisle hat überhaupt die Marseillaise gar nicht gedichtet. Die Zeit, die französische Revolution hat sie gedichtet, und in dem begeisterten jungen Mann, der Rouget de Lisle hieß, fand die Zeit, fand die Revolution das Organ, durch welches sie zu dem französischen Volke, zu den übrigen Völkern der Erde reden fonnte. Die Zeit, die Revolution dichtete aus Rouget de Lisle heraus, der ihre Zunge, ihr Dolmetsch wurde.
Geboren am 10. Mai 1760 überlebte der Sänger und Dichter der Marseillaise die Revolution, das Kaiserreich, die Bourbonenmonarchie und starb 6 Jahre nach der Julirevolution am 26. Juni 1836.
Nach der Revolution, deren Hymne er gedichtet, lebte er zurückgezogen, jedes junge Talent bereitwillig und freudig an erfennend, von einer wahrhaft rührenden Bescheidenheit beseelt; ein Karakterzug, der namentlich unter Musikern außerordentlich selten zu finden ist. Der Dichter der Marseillaise konnte bescheiden sein. Seine unsterbliche Schöpfung sichert ihm die Unsterblichkeit.