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Serena.
Eine venetianische Novelle von Max Vogler.
,, Wo über Mauern, welche halb verwittern, Ein wilder Lorbeerbusch die Zweige bieget.. Graf von Platen.
I.
Haar inmitten all des südländischen, bunten Menschenvolkes, das hier eilig auf und nieder schwirrt, betrachtet, so will es einem so recht erscheinen wie eine arme, freundlose Fremde, hilfebedürftig und in bitterem Klageton Hilfe erflehend.
Wenigstens schien eine schöne, fostbar gekleidete Dame, die aus einem der schmalen Gäßchen herausgetreten war und eben leichten Schrittes an jener Kirche vorübergehen wollte, diesen Klageton so zu verstehen; denn sie hemmte den Fuß, schlug den Schleier zurück und beugte sich freundlich zu der Kleinen nieder. Wie sich die schlanke hoheitsvolle Gestalt nach vorn neigte und die tiefschwarzen Augen in zärtlicher Fürsorge zu der Kleinen niedersahen, zeigte sich ein Antliz von wahrhaft klassischer Schönheit. Die freie, von tiefdunklem Haar, das sich in vollen Locken über die Schultern hinabringelte, umrahmte Stirn, welche unter leichtem Strohhut noch erkennbar genug hervortrat, der feine, zierliche Schnitt von Nase, Mund und Kinn, der zarte, fast blasse Teint des Gesichts, das aber durch einen kräftigeren Anhauch der Wangen und die frische Röte der Lippen wieder ein lebendigeres Kolorit erhielt, verliehen der ganzen Erscheinung auf den ersten Anblick etwas ungewöhnliches, Vornehmes. Es war eine jener Frauengestalten, die, vor wessen Auge sie immer treten mögen, eine besondere Würde, eine eigentümliche Hoheit aussprechen, in deren zauberhaftem Bann man unwillkürlich den Atem anhält und in wunderbarer Scheu, wie geblendet, den Blick kaum aufzuschlagen wagt.
Abendlicher Dämmer, Stimmengewirr und Menschengewoge auf der Piazza San Marco zu Venedig . Es ist im Sommer und abends acht Uhr. Das ist die Zeit, wann es hier am lebhaftesten zugeht. Vor den Kaffeehäusern in den hochgewölbten Bogengängen der ringsum stehenden, von Zeit und Wetter geschwärzten Paläste sind viele hunderte von Stühlen und Marmortischchen auf die weite Steinfläche des Plazes hinausgestellt, Alt und Jung sizt beisammen und erquickt sich nach der sengenden Hize des Tages in freier Luft an dem erfrischenden Genuß des Eises. Die Blumenmädchen, die Verkäufer von Glas- und Gipsarbeiten, Obstcaramellen, Muscheln und anderen Gegenständen, Musikanten, Deklamatoren und allerhand solchen Volks mischen sich dazwischen und suchen ihre Waare und ihre Kunst an den Mann zu bringen. Von der Piazetta und dem Molo herüber tönen die Rufe der Gondoliere, deren schmucke Fahrzeuge dort am Ufer schaukeln. In ehrfurchtweckendem Schweigen allein steht die mächtige Markuskirche mit ihren Säulenhallen und byzantinischen Kuppeln, unter denen die heiligen Tauben der " Königin der Adria" beisammen ſizen und girren und die Flügel schlagen. Daneben ragt der luftige Glockenturm frei von den Marmorplatten des Plazes empor, und wenn man auf heller, bequemer Holztreppe in Schneckenwindungen hinaufgestiegen ist, mag man von droben hinausschauen über das weite blaugrüne Meer und auf die jezt von seltsamen Schattenspielen überwochens benen Lagunen, hinter denen in westlicher Ferne die Euganeischen Berge bei Padua aufsteigen, während, dem Auge näher, von dreieckiger Landspize her der Turm der langgestreckten Dogana di Mare, des Hauptzollamts, mit der großen vergoldeten Kuppel und der hell glänzenden Fortunagestalt darauf, die noch leis vom Abendglanz angehauchten stolzen Kuppeln der Kirche Santa Maria della Salute und eine gleiche, noch herrlichere von der Isola di San Giorgio maggiore herübergrüßen. Unten an den Marmortischen aber wird's lauter und lauter,- eifriges Gespräch, ausgelassene Scherzworte, helles Gelächter, verstohlenes Gekicher, alles zu summendem, rauschenden, schallenden Tongemisch verwoben, elegant gekleidete Kavaliere, ausdrucksvolle, heitere und ernste Künstlergesichter, schlanke, üppige Frauengestalten mit dunklem, glänzenden Haar, tiefschwarze, verführe rische Mädchenaugen mit heißen, flammenden Blicken, ein Neigen, Winken und Grüßen, und jezt beginnt die Militärmusit die Mandolinata von Paladilhe zu spielen:- das ist das tausendmal begeistert gerühmte, beschriebene und besungene lebensfrohe Venedig zur Stunde der Entfaltung seines eigensten unbeschreiblichen Zaubers...
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Auch in den engen Gassen und Straßen, durch deren wunderlich verschlungenes Gewirr nur der kundige Fuß sich zu finden weiß, herrscht jezt noch regeres Leben als sonst; in der nach dem Markusplaz ausmündenden Merceria, der schönsten Straße Venedigs mit glänzenden Kaufläden, zumal wogt und wallt ein sich immer auf's neue verstärkender Menschenstrom auf und ab, und Gondel an Gondel gleitet in den Kanälen zwischen den Steindämmen dahin.
In das Schreien und Rufen und Schrittegeräusch auf einem der kleinen Pläze in der Nähe der Piazza San Marco, deren die Lagunenstadt so viele befizt, mischt sich das laute Weinen eines Kindes, das allein und verlassen auf den Stufen vor dem Eingang einer Kirche sizt. Niemand achtet in diesem Lärmen, Treiben und Drängen, wo jeder seine besonderen Zwecke verfolgt, darauf, und wenn man das weinende Mädchen mit dem weißen, weichen Antliz, den hellen, blauen Augen und den blonden, in zwei starten Zöpfen über den Nacken hinabfallendem
Die Dame hatte ihre von elegantem grauen Glacéhandschuh umhüllte Rechte ausgestreckt und damit die des weinenden Mäderfaßt.
„ Was fehlt dir, mein Kind?" fragte sie jezt mit überaus weicher Stimme, indem sie den Blick forschend über ihre Züge gleiten ließ.
Die Kleine sah mit großen Blicken auf, dicke Tränen rollten ihr noch über die Wangen. „ Ach, mein Bruder,
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mein lieber Bruder!" antwortete sie schluchzend in der Sprache des Landes und mit einem Accent, der über ihre innige Vertrautheit mit derselben keinen Zweifel ließ, und zugleich quoll es wieder in großen, heißen Tropfen unter den langen, zarten Wimpern hervor.
Die freundliche Fragerin neigte sich jezt noch tiefer zu ihr herab und forschte weiter:
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Dein Bruder?- Aber wer ist dein Bruder, und was klagst du um ihn?"
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Ach, ich habe ihn verloren!" sagte die Kleine und be gann immer heftiger zu schluchzen. Wir waren mitsammen ausgegangen, und da er in einem Haus ein Geschäft hatte, ließ er mich auf der Straße zurück, bis er wiedergekommen wäre, und
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Das Schluchzen erstickte wieder ihre Stimme, und erst nachdem die junge Dame ihr freundlich das Haar gestreichelt und sie zu beruhigen gesucht hatte, fuhr sie mit vieler Anstrengung fort:
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„ Ach, und es wurde mir die Zeit lang, und ich war neugierig und wollte die Leute in den anderen Gassen sehen, da bin ich langsam fortgelaufen die Straße und die Straße- ich glaub', so herum ich glaub', so herum" sie beschrieb mit der einen Hand die Richtung von links nach rechts und nun fann ich mich nicht wieder zurückfinden, und der arme Bruder wird voller Angst sein und mich suchen Angst sein und mich suchen ach, du armer Camillo!"
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Und dabei ließ sie das Köpfchen traurig anf die Brust sinken und weinte noch bitterlicher und heftiger denn zuvor.
" Nun, dann komm schnell!" sagte die fremde Dame, indem ie die Kleine bei der Hand ergriff und sie zärtlich an sich zog. , Vielleicht können wir den Bruder in den Gassen dort noch finden!"
Die kleine Verirrte wußte sich noch zu entsinnen, aus welcher