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ein furchtbares Knutenregiment entstehen und die Ernährung| könnte das äußere täuschen. So gehe man in die blühenden des Volkes sicher eine viel schlechtere werden, als sie es heute ist. Die Bauern würden jedenfalls noch ärger hungern, als sie es jezt schon tun müssen.

Bon staatlicher Seite ist keine Verbesserung der Zustände zu erwarten; die Regierung hat keinerlei Interesse daran, die Judenfrage rationell zu lösen; zu irgend welchen durchgreifenden politischen und wirtschaftlichen Reformen befizt sie auch weder das erforderliche Verständnis noch die zur Durchführung derselben notwendige Macht. So wird der Zustand der Unsicherheit sich so lange erhalten, bis der Despotismus in Rußland sein Ende gefunden und ein tiefgehender Sittenumschwung plazgegriffen hat. Es wäre verhängnisvoll, wollten die Juden in der Zwischen­zeit die Hände untätig in den Schoß legen. Die Hezen sind sür sie selbst eine Mahnung, im eigenen Kreise Umschau zu halten und Anstoß erregende Mißstände zu beseitigen, so weit dies im Bereiche ihrer Macht steht. In der Regel sind gute und schlechte Erscheinungen im Gesellschaftsleben ein Ausfluß desselben, und der einzelne bemüht sich scheinbar vergeblich, da­gegen anzufämpfen. Doch schon der Versuch des einzelnen bleibt nicht ohne eine gewisse erregende Rückwirkung auf das ganze, auf die Gesammtheit, und wenn die Juden nichts weiter damit erzielten, als höhere Achtung seitens ihrer christlichen Mitbürger, so wäre ein solches Ziel des energischsten Strebens schon wert. Im folgenden sollen die Leser mit einem interessanten Emanzipationsversuche der Juden bekannt gemacht werden, über dessen Ursprung und Verlauf nur wenig bekannt geworden ist, der aber insofern große Bedeutung besizt, da er uns die Juden in der Ausübung des schwersten Beruss, des landwirtschaft lichen, zeigt, und uns gestattet, die wichtige Frage ihrer Be­fähigung zum Ackerbau zu beantworten.

Im Gouvernement Cherson finden wir eine ganze Reihe jüdischer Kolonien.

Nach der Angabe der statistischen Kommission vom Jahre 1879 wohnten in den Bezirkskreisen des Gouvernements Cherson 2323, in den nicht etatmäßigen Städten 711 und auf dem Lande selbst 22 909 jüdische Kolonisten. Aus 21 von diesen Kolonien liegen aus dem Jahre 1877 eingehendere Nachrichten über die Bevölkerung vor. Danach erhielt die größte derselben, Inguley, 1050 männliche und 944 weibliche Bewohner. Es folgt die Groß- Seidemenucha mit 1042 männlichen und 992 weiblichen, Bobrovy- Kul mit 1019 männlichen und 930 weib lichen, Neu- Poltewfa mit 964 männlichen und 937 weiblichen, Dobraja mit 849 männlichen und 750 weiblichen Bewohnern. Die fleinste Kolonie war Gromatleja mit 176 männlichen und 154 weiblichen, und Klein- Nakartow mit 130 männlichen und 127 weiblichen Bewohnern.

Es sind diese Kolonien, wie schon bei früherer Gelegenheit erwähnt, nicht die einzigen jüdischen in Rußland . Wir finden solche auch in Polen mit einer acerbautreibenden Bevölkerung von 28 391 Seelen; in den Gouvernements von Südrußland befinden sich zusammen 85 Ackerbaufolonien mit 26 396 Seelen und 205 603 Deßi. Land.( Russ . Staatswörterbuch, II. Bd. " Juden".) In Kiew , Volhynien, Podolien gab es 1869 zu jammen 56 Kolonien, die von 20,665 Juden bearbeitet wurden. ( Arbeiten der ethn.- statistischen Expedition, Bd. 7, pag. 186 bis 188.) In Weiß- und Kleinrußland befizen die Juden große landwirtschaftliche Niederlassungen mit regem Betriebe. Hierzu treten die jüdischen Bauern in Kaukasien und Trans­fautasien. Die Gesammtzahl der jüdischen Ackerbaubevölkerung wurde auf 100 000 veranschlagt.

Wer die jüdischen Bauern im Gouvernement Cherson bei der Landwirtschaft betrachtet, der wird sich er staunend bemerken, daß sie sich nur unwesentlich von dem kleinrussischen Berufs­genossen unterscheiden, und daß sie in ihrem Aeußeren, ihren Be wegungen, ihrem ganzen Auftreten durchaus Bauern geworden sind, die in ihrem Wesen schon den Beweis dafür liefern, daß die Juden, wie für jeden Beruf, so auch für den schwersten, für den landwirtschaftlichen, wohl geeignet sind.- Vielleicht aber

deutschen Musterkolonien, deren Bauern die vorzüglichsten Land­wirte sind und frage sic, wen sie am liebsten als Feldarbeiter engagiren. Die Antwort wird sicher lauten: Die Juden ". Tatsächlich werden die jüdischen Feldarbeiter von ihnen allen anderen vorgezogen, weil sie fleißig, intelligent und in ihren Ansprüchen die bescheidensten sind. Wie die deutschen Bauern und Gutsbesizer, so bedienen sich ihrer mit Vorliebe auch die bulgarischen. Die alte Garde, welche die Kolonien ins Leben rief, sie ist schon lange vom Schauplaz ihres landwirtschaft­lichen Wirkens abgetreten, richtiger wol, in den schweren Stür­men, welche über die Kolonien hinweggebraust sind, verloren gegangen. Die Bauern, welche gegenwärtig die Kolonien be­völfern, sie bilden einen jungen Nachwuchs.

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Es sind trübe Schicksale, welche den Kolonien und Kolonisten hier beschieden waren, Schicksale, die in den rosigen Geburts­stunden der Kolonisirungs- Idee niemand voraussehen konnte! Man will die Entstehung einzelner Kolonien bereits in das voraufgegangene Jahrhundert, namentlich in die Zeit versezen, wo die Zeparoyschen Kosaken aus ihren alten Gebieten ver­trieben wurden. Die Gründung der Kolonien Neurußlands aber fällt jedenfalls in den Anfang unseres Jahrhunderts, wo eine mächtige ideale Strömung die jüdische Welt des russischen Barenreichs bewegte. Ein heißes Sehnen nach Beendigung der Knechtschaft, nach Freiheit und Gleichberechtigung mit den christ­lichen Russen erfüllte damals die Herzen aller intelligenten Juden. Ein gewaltiger Schritt auf der Bahn der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung sollte geschehen, die äußere Scheidewand zwischen Juden und Christen fallen soweit dies im Bereiche der Möglichkeit lag. Die Juden konnten nicht die Höhe der Gesellschaft erklimmen, das verwehrte ihnen das Gesez ihrer Gegner; aber hinabsteigen konnten sie zum Volke, auf die gleiche Stufe mit den im Schweiße ihres Angesichts arbeitenden Bauern sich stellen bei denen man damals die aus der höheren rus­sischen Gesellschaft längst schon entflohene Rechtlichkeit und Sitt­lichkeit suchen zu dürfen glaubte. Das wollten die Juden, das dachten und träumten ihre edelsten Geister, und in hoher Ve­geisterung für die Idee predigten sie das Verlassen des Han­delsberufs und die Zuwendung zur Landwirtschaft. Es war damals ein großer Zeitabschnitt in der jüdischen Geschichte voll weihevoller Stunden, in denen die Juden das Morgenrot einer glücklichen Zukunft am Lebenshorizonte sich erheben sahen, einer Zukunft, die keine jüdischen Knechte, keine Verachteten und Ver­fluchten mehr kannte, die vielmehr dem erbarmungslos gehezten Wilde der Christen ein freundliches Heim, ein geschüztes, ge sichertes Asyl, ein menschenwürdiges Leben gewährte. Wie fieberhaft bewegt war doch diese Zeit, wie erfüllt von heiligen Wünschen und glühenden Hoffnungen! Es ist von jeher ein erhebendes Schauspiel gewesen, wenn ein Volt seine ganze Lebenskraft für seine Freiheit und sein Menschentum einsezt. Voller Interesse waren denn auch in jenen Tagen die Blätter des Westens den russischen Juden zugewendet, die durch die schwerste Arbeit die Achtung der Christen, das Anerkenntnis der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit sich erringen wollten.

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Die Anregung fiel auf fruchtbaren Boden, und weite Kreise fanden sich, die mit der Vergangenheit brachen und den ersten Schritt zur Emanzipation tun wollten. Vergeblich erhoben die Rabbiner, die der drohende Verfall der jüdischen Gemeinden erschreckte, abmahnend ihre Stimme; sie vermochten gegen die allgemeine Strömung nicht aufzukommen. Die Juden gingen rasch an's Werk. Von der Regierung begünstigt, entstanden in den verschiedenen den Juden erschlossenen Gouvernements Acker baukolonien. Männer, die in schriftstellerischer Tätigkeit ergrant zündendes Beispiel. waren, wurden Bauern, und gaben ihren Glaubensgenossen ein

Es ist rührend, die Geschichte jener Tage zu durchblättern und dabei zu wissen, daß diesen Frühling ein eisiger Reif ereilte, der alle seine buntschillernden Blüten mit rauher Hand vernichtete.

( Schluß folgt.)