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40 Versorgungshäuser. Troz alledem zogen die Leute bandenweise aus, um ihr Leben zu fristen. Die Not und das schlechte Beispiel sind gute Lehrmeister. Wenn man auf Weg und Steg Kapuziner, Franziskaner , Barfüßer, Schlingel von sechs Fuß Länge, die, start wie die Stiere, einen Schubkarren voll Boden auf einmal ausschaufeln könnten wenn man die jeden Tag mit ihren langen Bärten und haarigen Armen vorüber kommen und ohne Scham und Schen die Hand ausstrecken und für zwei Pfennige Gesichter schneiden sah, wie konnte man da von den Armen verlangen, daß sie nicht betteln? Leider ist's mit dem Betteln allein nicht getan, wenn man Hunger hat und Brod kriegen will; die andern müssen auch welches haben und hergeben wollen. Damals aber galt der Spruch:" Jeder für sich und Gott für alle!" Deshalb traten noch zu allen Plagen organisirte Räuberbanden hinzu, welche das Land durchzogen und brandschazten. Und nun stelle man sich die Lage dieser Unglücklichen vor: Tage lang nichts zu essen, nachts im Winter ohne Feuer und ohne Decke, in beständiger Furcht vor Räubern, vor dem Steuereinnehmer, dem Gensdarmen, dem Waldschüzen, dem Presser! Wahrlich ein trauriges Dasein! Die Bürger hatten nämlich das Mittel gefunden, die örtlichen Lasten und Abgaben so zu reguliren, daß sie nicht auf ihnen lasteten, sondern Hauptsächlich von den unteren Klassen getragen wurden. Nun ist aber unter allen Mitteln, die Menschen zu unterscheiden und in Klassen zu sondern, die Ungleichheit in der Besteuerung das verderb= lichste, weil es am meisten geeignet ist, die Kluft zwischen dem armen Volfe und allen andern Klassen immer größer und unheilbarer zu machen, und in der Tat war der Bürgerstand, d. h. die besizende Mittelklasse, fast ebenso gesondert vom Volke, wie der Edelmann vom Bürger gesondert war. Fast alle die Gebrechen, fast alle die Irrtümer und verderblichen Vorurteile, an welchen die alte Gesellschaft krankte und welche schließlich ihren Untergang herbeiführten, verdankten ihr Entstehen jener Kunst, welche schon die älteren französischen Könige kannten, nämlich die Menschen zu trennen, um sie desto unumschränkter zu beherrschen. Denn für eine absolute Regierung ist es außer ordentlich günstig, wenn die Untertanen in Klassen scharf ge= sondert sind, welche sich einander weder nähern, noch zu gemeinsamem Widerstand vereinigen können, so daß die Regierung es stets nur mit einer kleinen Anzahl getrennter Menschen auf einmal zu tun hat.
Man braucht sich deshalb auch nicht zu verwundern, wenn man sieht, in welcher seltsamen Sicherheit alle diejenigen lebten, die in dem Augenblicke, wo die Revolution begann, die oberen und mittleren Stockwerke des Gebäudes der Gesellschaft inne hatten, und wie sie untereinander sinnreiche Gespräche führten über die Tugenden des Volkes, über seine Sanftmut, seine Hingebung, seine Geduld, während bereits das Jahr 93 vor der Tür stand!
Der Bürger lebte ebenso gesondert vom Volke, als der Edelmann. Weit entfernt, sich den Bauern zu nähern, hatte er die Berührung mit ihrem Elende geflohen; statt sich eng mit ihnen zu vereinigen, um gemeinsam gegen die gemeinsame Ungleichheit zu kämpfen, hatte er nur getrachtet, neue Ungerechtigkeiten zu seinem Vorteil einzuführen, sich Begünstigungen zu verschaffen mit demselben Eifer, den der Edelmann aufwendete, seine Privilegien zu behaupten. Diese Bauern, aus deren Mitte er stammte, waren ihm nicht nur fremd, sondern auch sozusagen unbekannt geworden, und erst nachdem er ihnen die Waffen in die Hand gegeben, ward er inne, daß er Leidenschaften geweckt hatte, von denen er nicht einmal eine Ahnung gehabt, die er ebensowenig zu zügeln als zu lenken vermochte und deren Opfer er werden sollte, nachdem er ihr Urheber gewesen war.
Diese im bisherigen geschilderten allgemeinen und zumteil in früheren Zeiten wurzelnden Erscheinungen bildeten die unerläßlichen Vorbedingungen zu den besondern und unmittelbaren Tatsachen, welche schließlich den Schauplaz, die Geburt und den Karakter der Revolution bestimmt haben.
Seit geraumer Zeit zeichnete sich die französische Nation durch literarische Tätigkeit aus; doch hatten die Schriftsteller
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früher dort niemals den Geist bekundet, den sie gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts zeigten. Unter Ludwig XIV . war jeder Gelehrte ein Vasall der französischen Krone, jedes Buch wurde mit Rücksicht auf die königliche Gunst geschrieben, und die Protektion des Königs wurde als der entschiedenste Beweis geistiger Vortrefflichkeit betrachtet. Zu keiner Zeit wurden Schriftsteller so verschwenderisch belohnt, als unter der Regierung Ludwigs XIV. Dieser Fürst ergab sich während seiner 50 jährigen Regierung der schädlichen Gewohnheit, Männer der Literatur mit großen Summen Geldes zu erkaufen und ihnen vielfache Beweise seiner persönlichen Gunst zu geben. persönlichen Gunst zu geben. Zu feiner Zeit waren aber auch die Schriftsteller so gemein gesinnt, so servil, so gänzlich unfähig, ihren großen Beruf als Verkünder des Wissens und als Prediger der Wahrheit zu erfüllen. Für das Volk ist es aber unumgänglich notwendig, daß die Interessen der Schriftsteller mehr auf seiner Seite, als auf Seiten seiner Herrscher liegen. Denn die Literatur vertritt den Verstand, welcher fortschrittlich ist, die Regierung vertritt die Ordnung, und diese ist stationär. Wenn nun diese beiden großen Mächte sich verbinden, wenn die hergebrachte Ordnung den Verstand bestechen kann, und wenn der Verstand dieser Ordnung nachgibt, so muß die unvermeidliche Folge Despotismus und Knechtschaft sein. Unter einem solchen System erfolgt zuerst die Verknechtung des Genies. dann der Verfall des Wissens und endlich der Verfall des ganzen Landes. In der Tat gab es während der lezten 25 Regierungsjahre Ludwig XIV. , d. h. von 1690-1715 keine bedeutenden Schriftsteller mehr in Frankreich ; Corneille , Racine , Molière, Male branche waren tot oder hatten aufgehört zu schreiben, und von den Werken jener bezahlten Abschreiber, welche so viele Jahre lang sich an den Hof des„ großen" Königs drängten, ist nichts auf uns gekommen. Mit dem Tode Ludwigs XIV. änderte sich alles; als es für gewiß bekannt wurde, daß er seinen Geiſt aufgegeben hatte, wurde das Volk fast wahnsinnig vor Freude. Sofort erhob sich auch die Literatur wieder aus ihrer unwürdigen Stellung, und namentlich war es die rasch überhand nehmende Gewohnheit aller bedeutenderen Franzosen, die englischen Sitten und Geseze zu studiren, welche der französischen Literatur den sie besonders karakterisirenden kühnen und rücksichtslosen Geist einflößte.
Voltaire vor allem widmete sich mit seinem gewöhnlichen Eifer der neuen Aufgabe und erwarb sich in England eine Kenntnis jener radikalen Ansichten, deren Verbreitung ihm später einen so großen Ruhm erwarb. Durch das Beispiel Englands wurden die großen Franzosen des 18. Jahrhunderts zu einer Liebe zum Fortschritt angeregt, welche sie natürlich sehr bald mit den herrschenden Klassen in Unfrieden brachte, und es entstand ein wahrer Kreuzzug gegen das Wissen, welcher nur den Ausbruch der Revolution beschleunigte.
Von der grausamen Verfolgung der Literatur kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß alle Schriftsteller, deren Werke ihre Zeit überlebt haben, bestraft worden sind, und unter denen, die entweder Konfiskationen oder Einsperrung, oder Verbannung, oder Geldbußen, oder Unterdrückung ihrer Werke, oder die Schmach erduldeten, widerrufen zu müssen, finden sich außer einer Menge untergeordneter Schriftsteller die Namen von Buffon, d'Alembert , Diderot , Helvetius , Montesquieu , Raynal , Rousseau und Voltaire. Rousseau und Voltaire. Selbst auf dem Boden der Naturwissenschaft, die man immer als neutrales Gebiet betrachtet hat, wurde derselbe despotische und verfolgungssüchtige Geist entwickelt, und es war, als hätten die Beherrscher Frankreichs gefühlt, daß ihre einzige Sicherheit in der Unwissenheit des Volkes bestände, so sehr widersezten sie sich jeder Art von Wissenschaft. Durch diese unglaubliche Torheit machte sich die Regierung jeden Mann von Geist zu ihrem persönlichen Feinde und brachte am Ende die ganze Intelligenz des Landes gegen sich auf. Wenn man bedenkt, daß im Jahre 1764 ein Defret erlassen wurde, welches alle Werke verbot, worin Regierungsfragen erörtert würden; daß im Jahre 1767 Todesstrafe darauf gesezt wurde, ein Buch zu schreiben, welches geeignet wäre, den öffentlichen Geist aufzuregen oder welches die Religion angriffe oder von