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stab einer verständigen Kritik an die Vergangenheit legte und in der die Poesie vielfach den Karakter der Publizistik annahm. Den Uebergang von der mittelalterlichen Lehrdichtung zur sa­tirischen Polemik bildet der klassisch gebildete und gesinnungs­tüchtige Dr. Sebastian Brandt  , Rechtsgelehrter aus Straßburg  ( 1458-1521) mit seinem Narrenschiff oder Schiff aus Narragonien", das ein äußerst belebtes, epochemachendes Werk ward und nicht nur eine Menge Herausgeber, Erklärer und Nachahmer fand, sondern auch in die meisten europäischen   Sprachen übersezt wurde. Wie hoch das Werk damals im Ansehen stand, fann daraus ersehen werden, daß man nicht nur Kollegien darüber las, sondern daß der berühmte Kanzelredner Geiler von Kaisers­berg( 1510) die einzelnen Kapitel des Buches seinen Pre­digten als Text unterlegte. Jede der 110 Predigten, die Geiler über das Narrenschiff hielt, trug die Ueberschrift Stultorum numerus est infinitus( die Zahl der Narren ist unendlich). Brand geißelt die Laster und Gebrechen aller Stände und zwar in Ton und Manier der Volksdichtung, gegen die er doch zu Felde zieht. Er bekämpft zuerst die neue Literatur des heiligen Grobianus", welche lehre, daß man die höfische Eitte umstoßen und den Trieben einer ungezähmten Natur freien Lauf lassen solle. Doch will er nicht die früheren Sitten zurückholen, cr ist kein Lobredner des Alten und Tadler des Neuen, sondern er stellt ein höheres Normalprinzip auf, die praktische Tugend der alten Welt. Er behandelt die Laster nicht als Sünden, die Gott strafe, sondern als Torheiten, die der menschlichen Ver­nunft widerstreben. Selbsterkenntnis ist der Mittelpunkt seiner Lehre; darum weist er beständig auf die Griechen hin, deren praktische Weisheit vor Selbstsucht und Eigennuz geschüzt und edle Freundschaft und andere schöne Karaktereigenschaften er­zeugt habe.

Um dieselbe Zeit wurde auch das berühmte satirische Tier­cpos Reineke Voß aus den Elementen der alten deutschen Volkssage in niederdeutscher Sprache dem Volfe wieder erneuert ( erstmals in Lübeck   1498 gedruckt). In dem merkwürdigen, aus tiefer Welt- und Menschenkenntnis hervorgegangenen Ge­dichte, über das im vorigen Jahrgange der N. W. eingehend geschrieben worden ist, werden die Eigenschaften der gemeinen Menschennatur an dem Leben und Treiben der Tiere versinnlicht, in deren instinktivem Wesen sich die Naturanlage getreuer ab­spiegelt als bei den Menschen.

Der Reineke Voß, dem sein niederdeutsches Gewand vor­trefflich ansteht, führte recht eigentlich den Reigen der Satiriker, welche nun auftraten. Als erster von diesen ist der Franzis fanermönch Thomas Murner   aus Straßburg   zu nennen, ein Nachahmer von Sebastian Brandt  . Seine Narrenbeschwörung verhöhnt aufs derbste die unpraktische Gelehrsamkeit, die Hab­sucht, Unwissenheit und Entartung des Klerus, die Verkehrtheit der Regenten und Fürsten   und die Rabulisterei der Advokaten. In der Schelmenzunft, worin Sprüchwörter das Tema zu den Satiren abgeben, züchtigt er die Laster und Gebrechen des geselligen Verkehrs.

Einer der bedeutendsten Satiriker jener Epoche war auch der hochherzige Ulrich von Hutten  , der edle Humanist, der fühnste und kräftigste Kämpfer für die neue Bildung und für Deutschlands   Unabhängigkeit von jeder fremden Macht. Geboren 1488, entfloh er 1504 dem Kloster in Fulda  , wo ihn sein Vater mit Gewalt zurückhalten wollte, und mußte, ein zweiter Odysseus, unter Gefahren und Entbehrungen, unter Mühsal und Armut lange umherirren, bald in Deutschland   von Unterstützung lebend, in Italien   sein Brod mit dem Schwerte   in den Heeren Karls V. erwerbend, immer den Studien obliegend und geistig tätig. Und als ihn nach des Vaters Tod die zärtliche Mutter mit Tränen anflehte, die Vorteile seines Standes zu genießen, entsagte er freiwillig dem Besiz und einer gesicherten Existenz auf dem alten Stammschloß Stackelberg, um ein freies Dichterleben zu führen und ungehemmt die ganze Kraft seiner starken Secle der Be­freiung Deutschlands   von den vielen Ketten, die es fesselten, zuzuwenden. Unter den Leiden einer drückenden Krankheit, unter der Last der Armut, der Mißachtung, der Verfolgung schritt

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er ohne Wanken auf seiner Bahn voran. Sein Wahlspruch war Alea jacta est( der Würfel ist geworfen), welchen er selbst in seinen deutschen Schriften durch den gleich bedeutenden Saz " Ich habs gewagt!" wiedergab. In Gedichten, Satiren und Flugschriften geißelte er die Juristen und das römische Recht, den rohen Adel und die Tyrannei der Fürsten  , die Unfittlich­keit und die geistige Versunkenheit der Priester und Mönche und die Albernheit der unpraktischen Schulgelehrten. In ihm ver­einigte sich alle tüchtige Strebsamkeit damaliger deutscher   Jugend, aller Freiheitseifer seiner Zeit. Licht, Freiheit, Wahrheit und Recht waren die Ideale, für die er mit Scharfsinn und Wiz, mit flammendem Entusiasmus und todesmutiger Energie ge= kämpft und gelitten hat. Die bekanntesten unter den aus seiner Feder hervorgegangenen satirischen Schriften sind die epistolae virorum obscurorum" Briefe der Dunkelmänner", welche den ganzen Mönchsstand in seiner Sittenlosigkeit, seiner Unwissen­heit und seiner Verfolgungswut mit den lebendigsten Farben schilderten und das korrupte Mönchslatein in ergözlichster Weise nachahmten. Diese Briefe. welche übrigens nur zumteil von Hutten waren, hatten die ungeheuerste Wirkung, so daß die Mönche von diesem furchtbaren Schlage sich nicht wieder erholen

konnten.

Der fruchtbarste und wizigste Schriftsteller in der satirischen Volksmanier jener Zeit ist Johann Fischart  , Rechtsgelehrter aus Mainz  , Amtmann zu Forbach  ( 1589), ein genialer Ge­lehrter in großem Stil, in dem sich vielseitiges Talent, um­fassendstes Wissen und gesinnungsvolle Karakterzüge zur voll­ständigen Einheit verbinden. Fischart war eine durchaus edle Natur von seltener Tiefe des Gemüts. Feurige Liebe zum Guten und Wahren war der Grundzug seines Wesens, und da er die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß das Gute und Wahre sich nur in der Freiheit zur größeren Vollkommenheit entwickeln kann, so war auch die Freiheit die Losung seines Lebens und er trat in religiöser Beziehung als eifriger Protestant, in poli­tischer Hinsicht als begeisterter Republikaner   für sie ein. Er äußert u. a.:" Freiheitblum ist die schönste Blüh: Gott lasse diese werde Blum In Teutschland blühen vmb vnd vmb, So wachst dann Frid, Freud  , Rhu vnd Rhum." Er war bewandert in der alten und neuen Literatur aller zivilisirten Völker und besaß eine merkwürdige Sprachphantasie, welche ihn die verwegensten Wortbildungen, die komischsten Verdeutschungen fremder Wörter zu Stande bringen ließ, so daß er die Sprache, die er mit der übermütigen Meisterschaft eines Aristophanes  behandelt, mit einer Menge neuer Wendungen und origineller Ausdrücke bereicherte. Fischart vermochte auch ernsthaft zu dichten, und unter seinen Werken, deren Zahl sich auf mehr als 50 be­läuft, finden sich auch viele vortreffliche lyrische Dichtungen. Entschiedener aber neigte sich sein Talent zum Didaktischen und in seinen Satiren spiegelt sich das ganze Volksleben seiner Zeit mit allen hervorragenden Namen und Erscheinungen. Mit den Kolben seines Wizes schlug er so ziemlich überall hin, wo es die unzähligen sternamhimmeligen und sandammeerigen" Miß­bräuche seiner Zeit zu verspotten und zu bessern galt. Ganz köstlich in ihrer göttlichen Grobheit sind seine Satiren auf die Pfaffen im allgemeinen und auf die Jesuiten  ( Jesuwider, Schüler des Ignazio Lugiovoll, nennt er sie insbesondere: Der Bar­füßer Sekten- und Kuttenstreit"," der Bienenkorb" ,,, das vier­hörnige Jesuwiderhütlein" u. a.), deren kurz vorher gestifteter Orden eine ungeheure Rührigkeit an den Tag legte und gegen die freiheitliche Entwicklung der despotischen Zustände die ge­waltigsten Hebel in Bewegung sezte. Gewiß, sagt H. Kurz, wäre niemand geeigneter gewesen, als Fischart, diesen Kampf mit den Waffen der Wissenschaft zu führen; allein er wollte ihm eine breitere Grundlage geben und sich daher an das Volk wenden, weil er wohl wußte, daß in solchen Dingen die Stimme des Volkes allein entscheidend ist. So stellte sich ihm die Satire als die geeignetste Form heraus, die er eben deshalb auch bis zur höchsten Meisterschaft entwickelte. Fischarts Hauptwerk ist die dem französischen   Satiriker Rabelais nachgedichtete ,, Ge­schichtsklitterung", ein satirischer Heldenroman, der gegen den