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Bevor wir das Mittelalter abschließen, müssen wir noch einen Satirifer ersten Ranges vom Auslande erwähnen, den Franzosen Franz Rabelais( geb. 1483 zu Chinon , gest. 1553 zu Paris ). Er nahm zuerst die Kutte eines Franziskaners, dann die eines Benediktiners, fand aber auch diese zu eng, legte sie ab, zog eine zeitlang im Gewande eines Weltpriesters im Lande umher, wurde dann Doktor der Arzneikunst, welche er zu Lyon und Montpellier abwechselnd ausübte und lehrte. Die Bildung seiner Zeit vollstänt ig umfassend und ihre Schäden, Laster und Torheiten die Verderbnis der Kirche, den Ser­vilismus und die dummstolze Wortfüchserei der Gelehrten, die unwissende Marktschreierei der Aerzte, die unter einem Wust römischer Rechtsformeln nur schlecht verdeckte Rechtlosigkeit, die ganze Scheinheiligkeit, Unnatur und Hanswursterei jener Tage mit dem unerbittlichen Messer des Anatomen untersuchend und aufdeckend, vertrat Rabelais in Frankreich genialer als sonst irgend ein Schriftsteller von damals das reformatorische Element, welches während seines Lebens in Deutschland zum Durchbruch fam. Aber Rabelais war kein Reformator, er war ein Sati­rifer, ein ebenbürtiger, moderner Zwillingsbruder des Aristo­ phanes . Er begnügte sich, das Leben seiner Zeit im satirischen Hohlspiegel aufzufangen und dasselbe in gigantischer Verzer rung seinen Zeitgenossen vor Augen zu bringen. Er verschrieb der furchtbaren sozialen Krankheit, die er rings um sich her wüten sah, ungeheure Dosen des Spotts. Alles ist bei ihm Alles ist bei ihm folossal, also auch der Zynismus und die Zote, die unausbleib lichen Begleiter jeder durchschlagenden Komik. Im Gewande der wahnwizigsten Possen birgt sich oft die sinnigste Weisheit und immer die schneidendste Satire. Es ist gewiß, daß aus

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all der ungeheuerlichen Phantastik seiner Werke, unter welchen das weitaus bedeutendste seine Romane Gargantua und Pan­tagruel" ist( die neueste meisterhafte Uebersezung ins Deutsche hat Gelbke geliefert), die geschichtliche Wirklichkeit seiner Zeit mit Bestimmtheit und Schärfe hervortritt, daß sich in ihm die Bildung einer neuen Periode siegreich ankündigt und vermöge derselben die Romantik als überwunden erscheint.

Wenn man will, kann man auch den berühmten florentinischen Staatsmann Niccolo Macchiavelli ( 1459-1527) unter die berühmten Satirifer einreihen, nicht blos wegen seiner Komödie " Mandragola", welche ebenso genial im Entwurf, wie vollendet in der Durchführung, die bedeutendste Komödie der italienischen Literatur ist, sondern auch mit Bezug auf sein vielfach argver­kanntes, berühmtes Il principe Der Fürst". Dieses Buch, worin Macchiavelli das Bild eines Fürsten aufstellt, der, ohne Rücksicht auf Tugend, Treue, Recht, Völferglück, durch Schlau­heit und Konsequenz in dem von ihm unterjochten Staate seine Alleinherrschaft zu begründen und seinen Willen zum Gesez zu machen weiß, ist keineswegs eine Verherrlichung despotischen Egoismus, wie z. B. auch Friedrich II. von Preußen und Vol­taire glaubten, welche daher die Grundsäze dieses Buches zu widerlegen unternahmen. Der weite und kühne Geist des großen vom Unverstand vielverlästerten republikanischen Patrioten hat vielmehr in seinen Prinzipe eine furchtbare Analyse des Despotis­mus selbst gegeben, er hat einen klassischen Fürstenspiegel" geschaffen und sein schreckliches und doch in jedem Zuge der Wirklichkeit abgelauschtes Gemälde den Völkern als eine War­mungstafel hingestellt für alle Zeiten.

Berliner statistische Streiflichter.

Das Wohl und Wehe des Volkes prägt sich am sichersten| in seinem Gesundheitszustand aus. Dieser genau erkannt zeigt uns die Bevölkerung, wie sie ist, wie sie war, wie sie sein würde, was ihr geschadet, was ihr noch not tut, und was ihr bevorsteht. Erst wenn man ein flares Bild von dem Gesund­heitszustand des Volkes vor sich hat, kann man beurteilen, ob die vorhandenen Einrichtungen das allgemeine Wohl fördern oder dasselbe schädigen. Erst dann wird sich aber auch das öffentliche Gewissen regen, um diejenigen Maßregeln zu treffen, die das allgemeine Wohl erheischt. Von diesem Gesichtspunkt aus soll hier versucht werden, auf Grund statistischer Ermittlungen Stizzen von dem Gesundheitszustand der Hauptstadt des neuen deutschen Reiches zu entwerfen. Dies Bild des Gesundheits­zustandes von Berlin wird zugleich, wenn es auch verschie dene Eigenheiten enthält, im allgemeinen ein Bild des Gesund heitszustandes jeder modernen Großstadt sein. Dabei ist zu bemerken, daß der Gesundheitszustand einer Bevölkerung, wie die Berlins , nicht gleichmäßig in allen seinen Teilen, nicht unveränderlich ist. Er hat sich herausgebildet im Laufe der Jahre, eigentümlich gegenüber anderen Orten, er ist verschieden in den einzelnen Jahreszeiten, in den einzelnen Stadtteilen, in den einzelnen Bevölkerungsschichten, Berufsklassen, Altersklassen und Geschlechtern.

Um einen Maßstab für die Beurteilung des Gesundheits­zustandes zu haben, scheint die Vergleichung mit dem normalen menschlichen Gesundheitszustande das Nächstliegende und Sicherste zu sein. Diese Vergleichung ist aber heut nur in sehr be­schränkter Weise möglich. Denn unsere Kenntnis des nor­malen menschlichen Gesundheitszustandes und der menschlichen Sterblichkeit ist heut noch eine sehr lücken- und mangelhafte, weil noch keine genügenden Erfahrungen vorliegen, wie die all­gemeine Gesundheit bei einer ganz naturgemäßen Lebensweise und bei gesunden sozialen Verhältnissen ist oder sein würde.

Nur einige feste Anhaltspunkte hat man, deren Berechtigung aller­

dings nicht bestritten werden kann. Insbesondere gilt die Lebens­dauer, und mit Recht, als ein Maßstab für die Gesundheit. Aber wie man heut für die menschliche Gesundheit überhaupt kein bestimmtes Maß feststellen kann, so auch nicht für die nor male menschliche Lebensdauer. Die sozialen Zustände haben auch hier die Begriffe vielfach verschoben, so daß heut ein Alter von 50 bis 60 Jahren häufig schon als ein hohes und ein Alter von 100 Jahren als ein wahres Wunder betrachtet wird. Und doch überschreiten so viele dieses Alter noch um ein be deutendes. Um nur einige Beispiele anzuführen, sei hier er wähnt, daß Haller, der bekannte 1777 gestorbene Gelehrte und Dichter, welcher die meisten der zu seiner Zeit in Europa be­kannten Fälle von hohem Alter sammelte, mehr als 1000 Per sonen verzeichnete, die ein Alter von 100 bis 110 Jahren erreichten, 60 Personen von 110 bis 120 Jahren, 29 Per sonen von 120 bis 130 Jahren, 15 Personen von 133 bis 140 Jahren, 6 Personen von 140 bis 150 Jahren und 1 Person von 169 Jahren. In den Sterbelisten von England und Wales von 1813 bis 1830 finden sich mehr als 700 Personen, die das Alter von 100 Jahren überschritten hatten, und um in der Nähe und in der Gegenwart zu bleiben, so brachte der" Dres dener Anzeiger" vor einiger Zeit aus Dresden die Nachricht, Alter von 107 Jahren stehe, und daß in der engen unfreunds daß dort seit Jahren ein Herr von Kotzebue lebt, der jezt im lichen Webergasse daselbst eine alte Jungfer lebe, die 94 Jahre alt, täglich noch ihre vier Treppen rüstig auf und ab läuft, und in der Ziegelgasse daselbst ein Mütterchen, das nahezu 100 Jahre sich bei der Volkszählung am 1. Dezember 1871 bei einer zählt, sich täglich ihren Blümchenkaffee focht. In Berlin ergaben Gesammtbevölkerung von 26 341 Personen nur vier weibliche Personen über 100 Jahre, und nur 11 Personen( 3 männliche und 8 weibliche) über 96 Jahren; und von den im Jahre 1876 Wenn nun ein solches Alter unter günstigen Umständen

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