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austoben läßt, zulezt doch die Vernunft und Sitte oben bleibt, daß die erhaltenden Mächte des Lebens sich siegreich behaupten und daß schließlich(!) doch noch etwas gutes herauskommt... Ein Mann, der sein Vaterland aufgibt, muß notwendigerweise die Fühlung mit ihm verlieren(!). Mit der Verpflanzung in einen andern Boden fängt er an, andere Anschauungen, andere Begriffe in sich aufzunehmen. Er ändert sich, meist ohne es zu wissen, mit seinen Umgebungen, und sobald er an's andere Ufer getreten ist, fließt ihm alles lebendige, unmittelbar wirkende, nicht reflektirte Leben nicht mehr von Deutschland zu. Er wird ein Bestandteil des Volkes, unter das er sich begibt. Beim Kolonisten, der in ein bisher unbekanntes Land zicht, welches er der Kultur erst abgewinnen soll, dauert dieser Prozeß einige Menschenalter länger, einmal, weil seine geistigen Stüzen hinter ihm in der Heimat liegen, dann aber, weil er mehr Zeit braucht, um ein selbständiges Leben aus sich heraus zu ent­wickeln. Wenn er aber schließlich in diesen Entnationalisirungs­prozeß eintritt, so gewinnt er ihn nicht etwa durch engeren Anschluß an's Mutterland, sondern durch anfänglichen Unge­horsam, spätere offene Auflehnung und endliche staatliche Unab­hängigkeit."

Ich habe diesen Worten des vielgenannten und vielgewandten Herrn Friedrich Kapp hier nicht allein deswegen einen ver­hältnismäßig großen Raum gewährt, weil sie an sich recht in­teressant und für die liberale Anschauung der Kolonisations und Auswanderungsfrage karakteristisch sind, sondern weil sie auch das ohne Rückhalt, wenn auch mit einem erstaunlichen Aufgebot schöner Redensarten, enthüllen, was Herr Rohlfs und mit oder wohl vor ihm die liberal" gesinnten Herrschaften alle eine gesunde" Kolonisation nennen.

Gesund ist die Kolonisation, wenn die Kolonisten Jahr­hunderte oder wenigstens Jahrzehnte lang mit allen nur denkbaren Unglücksfällen, mit der allerhärtesten Not zu käm­pfen gehabt,-

gesund ist sie, wenn die Kolonisten fleißig an einander mit Revolver und Bowiemesser herumoperiren,

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gesund ist sie, wenn der Kolonist mit seinem Vaterlande die Fühlung verliert, um sie nimmer wieder zu gewinnen.

Sowohl die sehr zahlreichen Vertreter der Ansicht des Herrn Kapp, als auch Herr Rohlfs werden gegen diese meine übrigens streng sachlichen" Ausschnitte aus dem künstlerisch gefügten Phrasenkonglomerat der Kapp'schen Rede mancherlei einzuwenden

haben.

Die lange Dauer und die Schwierigkeiten des Existenz­kampfes ebenso wie die Herrschaft des Revolvers und seines schneidigen Kumpans, des Bowieknife, sind unvermeidliche Uebel, unvermeidlich so lange eine Kolonisation in den Windeln läge, - werden sie sagen. Und Herr Rohlfs wird sogar gegen die Wahrheit des dritten meiner aus Kapps brillanter Rede extra­hirten Lehrsazes energisch protestiren,- denn warum wollte er sonst deutsche Kolonien von Deutschland selbst angelegt sehen?

Herr Kapp hätte gut getan, in seiner oben wiedergegebenen Ausführung die angeblich notwendigen Uebel von dem über sie tröstenden, sie an Bedeutung weit überragendem Guten, das die Kolonisation, wie er sie für die einzig wahre hält und wie sie ihm so herrliche Beweise für die Unverwüstlichkeit der guten Menschennatur" liefert, äußerlich für jedermann erkennbar zu behandeln.

Dieses Guten ist nämlich in der Tat mehreres ernsthaft zu berücksichtigen.

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Einmal ist es in der Tat von durchaus vorteilhafter Wir­fung, wenn der Kolonist von den beengenden Schranken, welche ihm im Mutterlande herrschende Anschauungen, Herkommen, Sitte, obrigkeitliche Verordnungen und Geseze ziehen, frei ist. Dadurch gewinnt er an Selbstvertrauen und geistiger Spann­fraft und verliert die Schen vor körperlicher Arbeit überhaupt, wenn er den sogenannt besseren, sich wirklich oder einge­bildetermaßen mehr geistig beschäftigenden Gesellschaftskreisen angehört hat, oder doch die Schen vor der nicht eigens in mehrjährigem Lehrlingskursus erlernten Arbeit wie auch vor

der niedern Arbeit bis zum Straßenkehren und Stiefelpuzen hinab.

Ferner ist nicht minder vorteilhaft, wenn der Kolonist sich ganz und allein auf sein können und Vollbringen angewiesen fühlt; wenn ihm die Verhältnisse begreiflich machen, daß er vor der Alternative steht, mit Aufgebot aller Kräfte zu arbeiten und dabei ein wenn schon mühseliges Dasein zu fristen, oder rasch und, ohne daß sich auch nur eine hülfreiche Hand nach ihm ausstreckt, auch nur ein Bettelgroschen für ihn abfällt, elend unterzugehen. Wer nicht arbeiten, ehrlich und angestrengt ar­dieser köstliche Bibel­beiten will, der soll auch nicht essen,- grundsaz soll und müßte in allen Kolonien gelten, hoffentlich gilt er in nicht allzuferner Zeit nicht nur in Ko­lonien.

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Schließlich ist es auch keineswegs so übel, daß in Kolonien der in seinem Berufe Schiffbrüchige, dann das verbummelte Genie und endlich auch derjenige, der diesen oder jenen schlechten Streich auf seinem Gewissen, diese oder jene kriminelle Bestra­fung auf dem Kerbholze der Gerichtsnotorietät hat, drüben" neben jeden bisher noch unbestraften", selbst neben den wirk­lich ehrenhaften Mann treten, mit ihm in redlicher Arbeit sich messen darf, wenn er es noch vermag.

Damit sind wir denn aber auch, meiner Meinung nach, mit allem am Rande, was als wirklich nuzenschaffend, segen­bringend aus dem Kapp'schen Dithyrambus auf die aller staat­lichen Ordnung baaren, sich selbst langsam aus dem Chaos sozialer Ursprünglichkeit herausarbeitenden Kolonien herausge schält werden kann. Aber selbst an das, was wir dem aus dem Munde des Herrn Kapp sprechenden Liberalismus zuzu­gestehen vermochten, müssen noch einige gewichtige Fragen resp. Bemerkungen gehängt werden.

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Zunächst die Bemerkung: Wenn es auch entschieden zu billigen ist, daß in den Kolonien kein Vorurteil dem Berufs­losen, dem Verbummelten und dem ehemaligen Sträfling als Gleichberechtigter neben Besseren seinen Unterhalt zu erarbeiten unmöglich macht, so ist es doch kaum gut oder gar herrlich, daß die stets zur Zuchtlosigkeit sich auswachsende Ordnungslosig keit dem Strolch erlaubt, mit dem Revolver oder dem Bowie­messer in der Faust dem arbeitsamen und braven Menschen das ehrlich Erworbene abzunehmen oder mit Hilfe der Spielbank oder des Würfels, des Pferdediebstahls oder sonstiger Ränke und Halunkerei abzuschwindeln und abzujagen?

Die liberalen Kolonialanarchisten vom Schlage des Herrn Kapp werden antworten: Der Brave mag sich und wird sich mit dem Revolver verteidigen, und wer zwingt ihn zu spielen?

Schon recht! Unglücklicherweise kann das Verteidigen nicht früher beginnen, als das Angegriffenwerden, und was ein rechter Revolverheld ist, der weiß in den meisten Fällen seine Angriffe so einzurichten, daß die Verteidigung erst im besseren Jenseits beginnen könnte. Und das Spielen und sonstige Begaunert­werden? Wer die Langeweile eines über alle Maßen eintönigen Kolonistenlebens kennt, wer da weiß, daß unter zehn Menschen kaum einer dem immer wieder vor sein Auge tretenden bösen Beispiel zu widerstehen die moralische Kraft hat, wer da an sich oder andern die täglich, stündlich von neuem einzuheimsende Erfahrung ge­macht hat, daß die ehrlichen Leute fast immer und bis in den tausendsten Wiederholungsfall die vertrauensseligen und jedem Schurken bequemen Leute sind- der wird ohne weiteres zu geben, daß da, wo die einzigen Regulatoren des sozialen Lebens Revolver und Bewieknise sind, die Chancen der Schurken, ihr Leben zu fristen und sogar zu Vermögen zu gelangen, gegen über denen der Ehrenmänner anfänglich sicherlich mindestens wie zehn zu eins stehen.

Freilich wird trozdem die Anarchie nicht gar zu lange dauern, Vernunft und Sitte" oder vielmehr eine stetig sich mehr festigende | politisch- soziale Ordnung wird das jammervolle Ungetüm der Anarchie verdrängen.

Aber ob daran nur oder hauptsächlich die herrliche, unver wüstliche Menschennatur Schuld ist, scheint mir doch sehr die Frage; gar oft entdeckt der Geschichtsforscher im Dienste der