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Häckels Vortrag über Die Naturanschauung von Darwin , Goethe und Lamarck ."

Gehalten auf der 55. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Eisenach am 18. September 1882).

Erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts trat die natur­gemäße Reaktion gegen jene dualistische Weltauffassung ein. Man wandte sich endlich wieder dem wahren Urquell aller Erkenntnis, der Natur selbst zu; und vor allem brach für die Kenntnis der lebendigen Naturkörper, für die man seit zwei Jahrtausenden fast allein aus den Schriften des Aristoteles geschöpft hatte, eine neue Aera selbständiger Beobachtung an. Die äußere Form und der innere Bau der Pflanzen und Tiere, ihre Lebenserscheinungen und ihre Entwicklung wurden jezt zum erstenmale Gegenstand eifriger und ausgedehnter Untersuchungen zahlreicher Forscher. Die Fülle interessanter Tatsachen, welche dieser Duell der natürlichen Offenbarung spendete, mußte aber naturgemäß auch die Frage nach den bewirkenden Ursachen wieder anregen, und alsbald bricht sich auch zu deren Beant­wortung die Idee der natürlichen Entwickelung wieder Bahn.

Die sogenannte Schule der älteren Naturphilosophie" gegen Ende des vorigen und im Beginn unseres Jahrhunderts tritt zunächst als Bannerträger dieser Idee wieder auf, gleichzeitig in Deutschland und in Frankreich . Aber auch unabhängig von dieser Schule sehen wir von derselben Jdee eine Anzahl der größten Denker und Dichter unserer klassischen Literaturperiode bewegt; vor allem Goethe, Lessing, Herder , Kant ; später Schel­ ling , Ofen und Treviranus; in Frankreich Lamarck , Geoffroy St. Hilaire und Blainville; in England Erasmus Darwin , den Großvater unseres Reformators, der nach den Gesezen der latenten Vererbung eine ganze Reihe von karakteristischen Geistes­zügen auf seinen Enkel überting.

Die Bedeutung von Goethe als Naturforscher ist in neuerer Zeit so oft und so eingehend von mehreren unserer angesehenen Biologen hervorgehoben worden, daß wir auch davon das meiste als allbekannt voraussezen dürfen. Wir wollen daher nur jenen Punkt derselben hier beleuchten, welcher für uns heute von be­sonderem Interesse und zugleich sehr verschieden aufgefaßt wor­den ist; die Frage, inwieweit die allgemeine Naturanschauung unseres größten Dichters mit derjenigen Darwins zusammen fällt?

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Gleich das Vorwort zu dem kostbaren Vermächtnis, das Gott und Welt" betitelt ist, drückt den monistischen Grund gedanken von Goethes allgemeiner Naturanschauung, die untrenn bare Einheit von Natur und Gott in einer Form aus, die feinen Zweifel übrig läßt:

,, Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemts die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen,

So daß, was in ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie seinen Geist vermißt!" Nehmen wir dazu nun die wundervollen folgenden Dich tungen, die Weltseele, Eins und Alles, Vermächtnis, Para­base, Epirrhema" u. s. w.; nehmen wir dazu sein ausgespro­chenes Bekenntnis zur Lehre Spinozas, so können wir irgend einen wesentlichen Unterschied von unserer heutigen, durch Darwin neu begründeten monistischen Weltauffassung in der Tat nicht finden. Und wie hoch Goethe diese anschlägt, zeigt seine Frage: ., Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen Als daß sich Gott- Natur ihm offenbare, Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!"

Daß sich unser großer Dichterfürst demnach die ganze Welt nur als einen einheitlichen Entwicklungsprozeß im Sinne der hellenischen Naturphilosophie dachte, beweisen u. a. auch die Tialoge zwischen Thales und Anaxagoras in der klassischen Walpurgisnacht, mit welchem er in der Geologie an der Teorie einer allmälichen und ununterbrochenen Entwicklung unseres Planeten und seiner Gebirge festhielt. Von Anfang an war er der entschiedenste Gegner der Irrlehre von den wiederholten

( Schluß.)

gewaltsamen Revolutionen unseres Erdballs, die im Anfange unseres Jahrhunderts sich entwickelte und besonders durch Cuvier zu allgemeiner Geltung gelangte. Das Gewaltsame, Sprung­hafte in dieser Lehre", sagte er, ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht naturgemäß. Die Sache mag sein, wie sie will, so muß geschrieben stehen: daß ich diese vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung verfluche! Und es wird gewiß irgend ein junger Mann aufstehen, der sich diesem all­gemeinen verrückten Konsens zu widersezen Mut hat!" Nur wenige Jahre verflossen, bis diese Zuversicht sich erfüllte. Denn schon 1830 erschien Darwins ebenbürtiger Landsmann, der große Geologe Charles Lyell , und gab uns seine Kontinui­tätsteorie, die heute allgemein angenommene Lehre von der all­mälichen und ununterbrochenen Entwicklung der Erde aus natür­lichen Ursachen; eine mechanische geologische Teorie, die ganz im Sinne Goethes alle gewaltsamen Erdrevolutionen aus über­natürlichen Ursachen ausschloß.

Offenbart sich hier schon auf geologischem Gebiete Goethe als ganz entschiedener Anhänger einer monistischen Entwicklungs­idee, so gilt das noch in weit höherem Maße auf dem biolo­gischen Gebiete. Denn die Erkenntnis des Lebendigen, dieses föstlichen, herrlichen Dinges", war ja sein eigenstes Lieblings­studium; hier hat er namentlich in der Morphologie, der von ihm tief erfaßten Gestaltenlehre", Blicke in das innere Werden und Entstehen der organischen Formen getan, wie sie so tief und flar nur ein Genius tun konnte, der gleichzeitig Denker und Künstler, Naturforscher und Philosoph ist.

Unter den vielen interessanten Beiträgen, welche Goethe zur Morphologie geliefert hat, ist der wertvollste und am meisten ausgearbeitete die 1790 erschienene, Metamorphose der Pflanzen". In diesem reifen Produkte seiner vieljährigen botanischen Stu­dien, das ihn auch auf der Reise nach Italien angelegentlichst beschäftigte, leitet er bekanntlich den ganzen Formenreichtum der Pflanzenwelt von einer einzigen Urpflanze ab und läßt alle die verschiedenen Organe derselben durch mannigfache Umbildung und Ausbildung eines einzigen Grundorgans entstehen, des Blattes. Damit geschah tatsächlich der erste Versuch, die un­endliche Vielheit der einzelnen vegetabilischen Formen auf eine gemeinsame ursprüngliche Einheit genetisch zurückzuführen:

Alle Gestalten sind ähnlich, doch keine gleichet der andern; Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesez!" Dieses geheime Gesez", dieses heilige Rätsel" ist die ge­meinsame Abstammung aller Pflanzen von jener Urpflanze, während ihre speziellen Unterschiede durch Anpassung an die verschiedenen Umstände ihrer Existenzbedingungen bewirkt werden. Goethe gleicherweise auch in der Metamorphose der Tiere" Wie hier in der Metamorphose der Pflanzen", so sucht nach dem gemeinsamen Typus oder Urbilde, aus dem alle ver­wandten Formen durch divergente Entwicklung hervorgegangen sind: Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesezen,

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Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild. Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück. So zeigt sich fest die geordnete Bildung, Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen."

Wie sich aus zahlreichen anderen Stellen seiner morpholo­gischen Studien über Bildung und Umbildung organischer Naturen" flar ergibt, war jenes Urbild" oder der Typus" die innere ursprüngliche Gemeinschaft, welche allen organischen Formen zu Grunde liegt und die ursprüngliche Bildesrichtung durch Vererbung fortpflanzt". Hingegen ist die unaufhaltsam fortschreitende Umbildung, welche aus den notwendigen Be­ziehungsverhältnissen zur Außenwelt entspringt", nichts anderes als die Anpassung an die äußeren Existenzbedingungen.

Daß der große Menschenkenner auch den Menschen nicht