aus der Entwicklungsreihe der übrigen Wirbeltiere ausschloß, zeigt besonders klar seine Vergleichung des menschlichen Schädels mit demjenigen niederer Säugetiere. Er bezeichnet hier ausdrücklich mehrere Stellen am menschlichen Schädel als Reste des tierischen Schädels, die sich bei solcher geringen Organi sation im stärkeren Maße befinden, und die sich beim Menschen, troz seiner Höhe noch nicht ganz verloren haben".
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Nicht weniger zeugt dafür die berühmte Entdeckung des Zwischenliefers. Da der Mensch Schneidezähne gleich den anderen Sängetieren besizt, schloß Goethe, daß auch der Zwischen fieferknochen, in dem sie bei lezteren wurzeln, beim Menschen ebenso vorhanden sein müsse; und er wies durch die sorgfältigste anatomische Untersuchung denselben in der Tat nach, obgleich er von den angesehenſten anatomischen Autoritäten bestritten wurde.
Sehr merkwürdig ist ferner in dieser Hinsicht die Zustim mung, welche Goethe zu der bezüglichen Ansicht Kants in seiner „ Kritik der Urteilstraft" ausspricht, einem Werke, dessen große Hauptgedanken seinem eigenen bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog waren". Der große Königsberger Philo soph hatte die Abstammung aller organischen Wesen von einer gemeinschaftlichen Urmutter( vom Menschen bis zum Polypen herunter) für eine Hypotese erklärt, welche allein in Uebereinstimmung sei mit dem Prinzip des Mechanismus der Natur, ohne das es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann; er hatte aber diese Deszendenzhypotese zugleich ein gewagtes Abenteuer der Vernunft" genannt. Hierzu bemerkt nun Goethe: Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Triebe auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen."
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In hohem Maße zu bedauern ist es, daß Goethe die höchst bedeutende, 1809 erschienene Philosophie Zoologique non La marck ganz unbekannt blieb. Denn gerade in der Entwicklungslehre dieses ganz anders gefügten und streng systematisch verfaßten Werkes würde er vieles gefunden haben, was ihm fehlte; vieles, was ihm die willkommenste Ergänzung für seine eigenen unvollständigen Studien geliefert hätte. Jnbezug sowohl auf die einheitliche und vollständige Durchführung der Entwicklungsidee, als auf deren vielseitige empirische Begründung ist das große Wert von Jean Lamarck weit bedeutender, als die ähnlichen Versuche aller seiner Zeitgenossen, insbesondere als das gleichnamige Werk von Geoffroy St. Hilaire.
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Wir müssen es als eine wahrhaft tragische Tatsache ansehen, daß die Philosophie Zoologique" von Lamarck , eines der größten Erzeugnisse der großen Literaturepoche im Anfange unseres Jahrhunderts, von Anbeginn an nur eine äußerst geringe Beachtung fand und binnen wenigen Jahren ganz vergessen wurde. Erst als Darwin volle fünfzig Jahre später dem darin begründeten Transformismus neues Leben einhauchte, wurde der vergrabene Schaz wieder gefunden, und wir können jezt nicht umhin, ihn als die vollkommenste Darstellung der Entwicklungsteorie vor Darwin zu bezeichnen. Ja, es erscheint uns als die notwendige Sühne einer großen historischen Ungerechtigkeit, wenn wir heute hier abermals( wie schon vor sechzehn Jahren in der„ Generellen Morphologie" geschehen) den großen Franzosen neben den größeren Briten und den größten Deutschen stellen. Jede der drei großen Kulturnationen von Mitteleuropa hat der Menschheit im Laufe eines Jahrhun derts einen Geisteshelden ersten Ranges geschenkt, der den Grundgedanken der einheitlichen Weltentwicklung aus natürlichen Ursachen in seiner ganzen Bedeutung erfaßte.
Während Lamarck alle wesentlichen Grundgedanken unserer heutigen Abstammungslehre flar ausspricht und durch die Tiefe seiner morphologischen Erkenntnis unsere Bewunderung erregt, überrascht er uns nicht weniger durch die vorausschauende Klarheit seiner physiologischen Auffassung. Während damals noch ganz allgemein die falsche Lehre von einer übernatürlichen
Lebenskraft in Geltung war, erkannte Lamarck dieselbe nicht an, sondern behauptete, daß das Leben nur ein sehr verwickeltes physikalisches Phänomen sei. Denn alle Lebenserscheinungen beruhen auf mechanischen Vorgängen, die durch die Beschaffenheit der organischen Materie selbst bedingt sind. Auch die Erscheinungen des Seelenlebens sind in dieser Beziehung, von den übrigen Lebenserscheinungen nicht verschieden. Denn die Vorstellungen und die Tätigkeiten des Verstandes beruhen auf Bewegungsvorgängen im Centralnervensystem; der Wille ist in Wahrheit niemals frei, und die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwicklung und Verbindung der Urteile.
In diesen und anderen Säzen erhebt sich Lamarck weit über die allgemeine Naturanschauung seiner meisten Zeitgenossen und entwirft ein Programm für die Biologie der Zukunft, das erst in unseren Tagen zur Ausführung gelangt. Bei der großen Klarheit und Konsequenz seines Systems ist es selbstverständlich, daß er auch dem Menschen seinen naturgemäßen Plaz an der Spize der Wirbeltiere anweist, und die Ursachen seiner Umbildung aus affenartigen Säugetieren erläutert. Mit gleichem Scharfsinne bespricht er aber auch eine der dunkelsten und schwierigsten Fragen der ganzen Entwicklungslehre, die Frage nach der Entstehung der ersten lebenden Wesen auf unserem Erdball. Zur Beantwortung derselben nimmt er an, daß die gemeinsamen ältesten Stammformen aller Organismen absolut einfache Wesen waren, und daß diese durch Urzeugung, unter dem Zusammenwirken verschiedener physikalischen Ursachen, unmittelbar aus anorganischer Materie im Wasser entstanden. Der gleichen einfachste Organismen waren aber damals noch garnicht beobachtet; sie wurden erst ein halbes Jahrhundert später in den Moneren wirklich entdeckt.
Lamarck erreichte das hohe Alter von fünfundachtzig Jahren; er lebte mithin zwei Jahre länger als Goethe, zwölf Jahre länger als Darwin . Während aber die beiden lezteren das Glück genossen, ihren langen schönen Lebensabend von dem Sonnenglanze des Erfolges und des Weltruhms verklärt zu sehen, beschloß der arme Lamarck sein langes und arbeitsreiches Leben verkannt, einsam und in Dürftigkeit. Er hatte sogar das Unglück, zehn Jahre vor seinem Tode zu erblinden, und konnte den lezten Teil seiner großen Naturgeschichte der wirbellosen Tiere nur aus dem Gedächtnis seinen beiden Töchtern diktiren, die ihn zärtlich pflegten, und die er ohne alle Unterstützung zurück lassen mußte.
Die Vergleichung der drei großen Naturphilosophen, in denen der grundlegende Entwicklungsgedanke unserer heutigen Naturforschung am bedeutendsten und umfassendsten sich offenbarte, ist von hohem Interesse.
Auf ganz verschiedenen Wegen und durch Anwendung ganz verschiedener Untersuchungsmetoden gelangen alle drei Naturforscher schließlich zu derselben Ueberzeugung, zu der Annahme einer einheitlichen und zusammenhängent en Entwicklung der ganzen organischen Natur, allein durch die Wirkung natürlicher Ursachen, mit Ausschluß aller übernatürlichen Schöpfungswunder. Da aber alle drei zugleich tiefdenkende Philosophen sind und beständig die Einheit der gesammten Erscheinungswelt im Auge behalten, so erweitert sich ihre Entwicklungsidee zu einer großartigen panteistischen Weltauffassung, zu derjenigen Einheitslehre, die das Wesen unserer heutigen monistischen Naturanschauung bildet.
Ich persönlich wiederhole hier meine feste Ueberzeugung, daß man diesen Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis künftig als den größten Wendepunkt in der Geistesgeschichte der Menschheit betrachten wird.
Gerade die versöhnende und ausgleichende Wirkung unserer genetischen Naturanschauung möchten wir hier ganz besonders betonen, um so mehr als unsere Gegner fortdauernd bestrebt sind, derselben zerstörende und zersezende Bestrebungen unterzuschieben. Diese destruktiven Tendenzen sollen nicht allein gegen die Wissenschaft, sondern auch gegen die Religion, und somit überhaupt gegen die wichtigsten Grundlagen unseres Kulturlebens gerichtet sein. Solche schwere Beschuldigungen, wenn sie