wirklich auf Ueberzeugung beruhen und nicht blos auf sophistischen Trugschlüssen, können nur aus einer argen Verkennung dessen erklärt werden, was den eigentlichen Kern der wahren Religion bildet. Dieser Kern beruht nicht auf der speziellen Form des Glaubensbekenntnisses, der Konfession, sondern vielmehr auf der fritischen Ueberzeugung von einem lezten unerkennbaren gemein­samen Untergrunde aller Dinge, und auf der praktischen Sitten lehre, die sich aus der geläuterten Naturanschauung unmittelbar ergibt.

In diesem Zugeständnisse, daß der lezte Urgrund aller Erscheinungen bei der gegenwärtigen Organisation unseres Ge­hirns uns nicht erkennbar ist, begegnet sich die kritische Natur­philosophie mit der dogmatischen Religion. Natürlich nimmt aber dieser Gottesglaube(!!) unendlich verschiedene Formen des Bekenntnisses an, entsprechend dem unendlich verschiedenen Grade der Naturerkenntnis. Je weiter wir in der lezteren fortschreiten, desto mehr nähern wir uns jenem unerreichbaren Urgrunde, desto reiner wird unser Gottesbegriff*).

Die geläuterte Naturerkenntnis der Gegenwart fennt nur jene natürliche Offenbarung, die im Buche der Natur für jeder mann offen daliegt, und die jeder vorurteilsfreie, mit gesunden Sinnen und gesunder Vernunft ausgestattete Mensch aus diesem Buche lernen kann. Es ergibt sich daraus jene monistische reinste Glaubensform, die in der Ueberzeugung von der Einheit Gottes und der Natur gipfelt und die in den panteistischen Bekennt nissen unserer größten Dichter und Denker, Goethe und Lessing voran, schon längst ihren vollkommensten Ausdruck gefunden hat.

Diese monistische Religion der Humanität steht mit den jenigen Grundlehren des Christentums, die dessen wahren Wert begründen, keineswegs im Widerspruch. Denn die allgemeine Menschenliebe, als Grundprinzip der Sittlichkeit, ist in der ersteren ebenso wie in dem lezteren enthalten. Die Urquelle derselben ist, wie Darwin gezeigt hat, in den sozialen Instinkten der höheren Tiere zu suchen, jenen psychischen Funktionen, welche die lezteren durch Anpassung an das gesellige Zusammenleben erworben und durch Vererbung auf den Menschen übertragen haben.

Denn der Mensch kann nur in gesezmäßig geordneter Gesell schaft die wahre und volle Ausbildung des höheren Menschen wesens erlangen. Das ist aber nur möglich, wenn der natür­liche Selbsterhaltungstrieb, der Egoismus, eingeschränkt und berichtigt wird durch die Rücksicht auf die Gesellschaft, durch den Altruismus. Je höher sich der Mensch auf der Stufen leiter der Kultur erhebt, desto größer sind die Opfer, welche er der Gesellschaft bringen muß. Denn die Interessen der lezteren gestalten sich immer mehr zugleich zum Vorteil jedes einzelnen; sowie umgekehrt die geordnete Gemeinschaft um so besser gedeiht, jemehr die Bedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigt sind. Es ist daher eine ganz einfache Naturnotwendigkeit, welches ein gesundes Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus zur ersten Forderung der natürlichen Sittenlehre erhebt. Die größten Feinde der Menschheit sind von jeher bis auf den heutigen Tag Unwissenheit und Aberglaube gewesen; ihre größten Wohltäter aber die hehren Geisteshelden, welche die lezteren mit dem Schwerte ihres freien Gedankens mutig be­fämpft haben. Unter diesen ehrwürdigen Geisteskämpfern stehen Darwin , Goethe und Lamarc obenan, in einer Reihe mit New ton, Galilei und Kopernikus . Indem diese großen Naturdenker ihre reichen Geistesgaben, allen Anfechtungen trozend, zur Ent­deckung der erhabensten natürlichen Wahrheiten verwendeten, sind sie zu wahren Erlösern der hilfsbedürftigen Menschheit ge­worden und haben einen weit höheren Grad von christlicher Menschenliebe betätigt, als die Schriftgelehrten und Pharisäer, welche dieses Wort stets im Munde, das Gegenteil aber im Herzen führen.

*) In einem demnächst zur Veröffentlichung gelangenden Auffaze werden wir diesen bedeutsamen Passus der häckelschen Rede, gegen den bom wissenschaftlichen Standpunkte der Neuen Welt" wesentliches ein­Red. d. N. W. " zuwenden ist, kritisch beleuchten.

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Wie wenig hingegen der blinde Wunderglaube und die Herrschaft der Ortodoxie imstande ist, wahre Menschenliebe zu betätigen, davon legt leider nicht nur die ganze Geschichte des Mittelalters Zeugnis ab, sondern auch das intolerante und fanatische Gebahren der streitenden Kirche in unsern Tagen. Oder müssen wir nicht mit tiefer Beschämung auf jene recht­gläubigen Christen blicken, die gegenwärtig wieder ihre christ­liche Liebe in der Verfolgung Andersgläubiger und in blindem Rassenhasse zum Ausdruck bringen?

Glücklicherweise dürfen wir diese mittelalterlichen Rückfälle als vorübergehende Verirrungen betrachten, die keine bleibende Wirkung haben. Die unermeßliche praktische Bedeutung der Naturwissenschaften für unser modernes Kulturleben ist jezt so allgemein anerkannt, daß kein Teil desselben sich ihr mehr ent­ziehen kann.

Angesichts der überraschenden Geschwindigkeit, mit der die Entwicklungslehre in den lezten Jahren sich ihren Eingang in die verschiedensten Forschungsgebiete gebahnt hat, dürfen wir hier die Hoffnung aussprechen, daß auch ihr hoher pädagogischer Wert immer mehr anerkannt wird und daß sie den Unterricht der kommenden Generationen ganz gewaltig vervollkommnen wird. Wohl dürfen wir jezt fordern, daß alle Unterrichtsgegen­stände nach der genetischen Metode behandelt werden; dann wird auch die Grundidee der Entwicklungslehre, der ursächliche Zu­sammenhang der Erscheinungen, überall zur Geltung kommen. Wir sind der festen Ueberzeugung, daß dadurch das naturgemäße Denken und Urteilen in weit höherem Maße gefördert werden wird, als durch irgend welche andere Metoden.

Zugleich wird durch diese ausgedehnte Anwendung der Ent­wicklungslehre eines der größten Uebel unserer heutigen Jugend­bildung beseitigt werden: jene Ueberhäufung mit todtem Ge­dächtniskram, welche die besten Kräfte verzehrt und weder Geist noch Körper zur normalen Entwicklung kommen läßt. Diese übermäßige Belastung beruht auf dem alten unausrottbaren Grundirrtum, daß die Quantität der tatsächlichen Kenntnisse die beste Bildung bedinge, während diese in der Tat vielmehr von der Qualität der ursächlichen Erkenntnis abhängt. Wir würden es daher vor allem nüzlich erachten, daß die Auswahl des Lehr­stoffes in den höheren wie in den niederen Schulen viel sorg­fältiger geschehe, und daß dabei nicht diejenigen Lehrfächer bevorzugt werden, welche das Gedächtnis mit Massen von toten Tatsachen belasten, sondern diejenigen, welche das Urteil durch den lebendigen Fluß der Entwicklungsidee bilden. Man lasse unsere geplagte Schuljugend nur halb so viel lernen, lehre sie aber diese Hälfte gründlicher verstehen, und die nächste Genera­tion wird an Seele und Leib doppelt so gesund sein, als die jezige.

In erfreulichster Weise kommen diesen Forderungen die Re­formen entgegen, die sich gleichzeitig auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft vollziehen. Ueberall treiben die er­freulichsten Blüten aus den verschiedensten Zweigen der Wissen­schaft, und ihre Früchte werden übereinstimmend Zeugnis davon ablegen, daß sie alle aus einem einzigen Baume der Erkenntnis entspringen und ihre Nahrung aus einer einzigen Wurzel be­ziehen. Dank und Ehre aber den großen Meistern, die uns durch ihre genetische und monistische Naturanschauung zu dieser lichten Höhe der Erkenntnis geführt haben, auf der wir mit Goethe sagen dürfen:

,, Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesez, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denter, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es, zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf der Ntaur, du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts; prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse, Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit."