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Dieselben lieben es, mit möglichstem Aufgebot an sittlichem| Patos auf die Folgen der Trunksucht hinzuweisen, um von dem abzuschrecken, was sie für eine zwar tief eingewurzelte, immerhin aber doch nicht allzuschwer abzulegende üble Gewohnheit halten. Und wo es sich um die sogenante Gewohnheitstrunk­sucht, den chronischen Alkoholismus, handelt, jenen Zustand, in welchem ein Mensch in kurzen Zwischenräumen stets von neuem solche Mengen alkoholischer Getränke zu sich nimmt, daß sein Leben aus einer mehr oder minder zusammenhängenden Reihe von Räuschen besteht, da treten wirklich, wie jedermann weiß, Folgen ernsthafter, gefährlichster, gradezu vernichtender Art auf.

Zerrüttung des Körpers, Verkommenheit des Geistes sind das Ziel, auf das alle Gewohnheitssäufer, der eine rascher, der andre langsamer, sehr viele unaufhaltsam, zumarschiren.

Gehen wir etwas näher auf die einzelnen Glieder der Ge­folgschaft der Trunksucht ein.

Zunächst stellen sich als Warner allerlei Erkrankungen des Verdauungsapparates ein: Appetitlosigkeit, Säurebildung, Er­brechen, Verstopfung, Rachen- und Magenkatarrh, und diesen Uebeln auf dem Fuße nachziehend empfindliche Ernährungs­störungen und fehlerhafte Blutmischung,- das sind Vortrab und Verbindungstruppen des Heeres der Krankheiten, welches sich bei dem Gewohnheitssäufer wie in Feindesland verheerend einquartirt. Als Gros der Armee ziehen die übermäßigen Fett­ablagerungen unter der äußeren Haut und in den inneren Dr­ganen hinterdrein. Das Herz ist der Hypertrophie( Ueber­nährung) ausgesezt, und der Herzmuskel und die größeren Ge­fäße fettiger Entartung; auch die Leber wird häufig größer, schwer und von Fett durchwachsen. Als schwere, sehr lästige Reiterei nisten sich in den Atmungsorganen chronische Kehlkopf­und Lungenkatarrhe ein und verursachen die bläulich- rote Ge­sichtsfarbe, die oft garnicht zu überwindende Heiserkeit und Kurzatmigkeit. Auch die Nieren werden durch die Steigerung ihrer den Harn absondernden Tätigkeit sehr oft in Mitleiden­schaft gezogen und von der äußerst gefährlichen sogenannten Brigthschen Krankheit heimgesucht, welche in einer Aus­schwizung von eiweißartigen Blutbestandteilen in den die feinen Harnkanälchen der Niere umspannenden Haargefäßengen besteht, infolge der Beraubung des Blutes an Eiweißteilen in allge­meine Wassersucht übergeht und gleichzeitig durch Verstopfung der Harnkanälchen den Harnstoff im Blute zurückhält und Harn­vergiftung verursacht. Das Nervensystem des Gewohnheits­trinkers bleibt gleichfalls nicht unbeschädigt, im Gegenteil, es erweist sich als ein Haupttummelplaz für die Folgen der Trunk­sucht. Das Gehirn und seine Häute werden mit Blut über­füllt und die lezteren dadurch verdickt, die Hirnsubstanz wird entzündet und erliegt allgemach dem Hirnschwund oder es treten durch Blutergüsse in das Gehirn die vielbekannten Schlagflüsse ein; desgleichen erkranken das Rückenmark und die Sinnes­organe, alles das sich äußernd in Hallucinationen und Deli­rium, in Blödsinn, Irrsinn und allgemeiner Paralyse( Lähmung).

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Daß diese schlimmen Folgen sich nicht nur auf einzelne wenige Säufer beschränken, kann man am besten in England und einem Teile von Nordamerika   erfahren, wo die Statistik nicht erst seit neuester Zeit, wie bei uns, in die düstersten Tiefen des sozialen Lebens einzudringen sich bemüht. In den 27 Jahren von 1847 bis 1874 gingen nach den amtlichen Feststellungen 22 723 Menschen nur an den unmittelbaren Folgen der Trunk sucht zugrunde, während in New- York   in den 38 Jahren von 1840 bis 1878 sogar 190 000 daran starben. Daneben ist auch ein erheblicher Teil der tötlichen Verunglückungen der Wir­fung des Alkohols auf das Schuldkonto zu sezen. So verun­glückten neuestens in Frankreich   jährlich im Mittel 404 Menschen in der Trunkenheit; in Preußen befanden sich von 1869 bis 1873 unter 33 371 tötlich Verlezten 1554, d. h. mehr als 412 Prozent durch den Trunk zur Verunglückung gekommne, und im Königreich Sachsen während des Zeitraumes vou 1847 bis 76 unter 17 939 tötlich Verlezten 1111 oder über 6 Prozent durch Trunksucht oder in Trunkenheit Geschädigte.

Auch zu den Opfern des Jrrsinns stellen die Trunkenbolde ein beträchtliches Kontingent. Innerhalb der fünf Jahre von 1872 bis 75 belief sich die Zahl der in 55 englischen Irren­ anstalten   Aufgenommenen auf 38 527 und darunter waren 3172, fast 10 Prozent, Trunksüchtige oder mit andren Worten all­jährlich mußten in diese Anstalten 700 durch den Gewohnheits­trunk irrsinnig Gewordene untergebracht werden.

Ungeheuer viele Selbstmorde hat der Alkoholismus ebenfalls auf dem Gewissen. 1875 fonnten in Preußen 8 Prozent, in Sachsen   10, in Frankreich   17, in Dänemark   172, in Ruß­ land   38 Prozent aller Selbsttötungen auf übermäßigen Genuß alkoholhaltiger Flüssigkeiten zurückgeführt werden.

Unter den Verbrechern bilden die Trinker nicht minder eine große Zahl. Nach den Untersuchungen von Dr. A. Bauer war nachzuweisen, daß von je 100 Fällen der Mord in 46, der Totschlag in 68, leichte Körperverlezung in gleichfalls 68, schwere in 74, Widerstand gegen die Staatsgewalt in 76 und Vergehen gegen die Sittlichkeit in 77 Fällen in Trunkenheit verübt worden war. In England ist ganz dasselbe der Fall: vier Fünftel bis zwei Drittel aller Verbrechen stehen im Zu­sammenhang mit übermäßigem Alkoholgenuß.

Ich denke, nach all' dem Angeführten wird man mir nicht vorwerfen können, daß ich das Sündenregister des Alkohols zu schmälern versucht hätte.

Wenn aber jemand glauben sollte, daß ich nun geneigt wäre, in den Ruf: Weg mit dem Alkohol! Nieder mit den Trinkern! Zum Teufel mit allen Schenken! Die Enthaltsamkeit und das Wasser sollen leben allein leben, allein genossen und als Retter des mit der Alkoholflasche in der Hand unab­wendbarem Verderben entgegeneilenden Menschengeschlechts ver­ehrt werden, der würde sich denn doch gewaltig irren.

Als ich das erste kleine Kind, das ich in seinem kleinen Tun und Treiben beobachtete, an der Kalfwand krazen und lecken sah, da schien mir die bequeme Altweiberweisheit, die Kinder steckten eben alle von Mutterleibe an voller Unarten und selbstmörderischer Neigungen, die man ihnen am besten aus­prügle, garnicht so ohne. Zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, daß ich damals noch sehr jung, recht unerfahren und mit nützlicher Wissenschaft äußerst mäßig ausgestattet war. Als ich bei einem zweiten, dritten und vierten Kinde dieselbe Unart" wieder sah und je mehr ich auch sonst in der Welt mich mit eigenen Augen umsah, also, daß die Altweiberweisheit bei mir in Mißkredit kam, da suchte ich mir denn auch inbezug auf Kinderleben und Pflege einige wissenschaftliche Kenntnis zu erwerben. Und da lernte ich denn bald, daß die vermeintliche Unart des Kaltessens und dergleichen bei den Kindern aus dringendem Bedürfnisse, sich ihnen sonst nicht in genügendem Maße zugeführtes Baumaterial für ihr kleines Körperchen zu­gänglich zu machen, entspringt.

Seit der Zeit weiß ich, daß man von den kleinen Kindern mehr lernen kann, als von den alten Weibern, ich bemerke hier ausdrücklich, daß mir alte Frau und altes Weib keines­wegs gleichbedeutend sind, daß ich die alten Frauen, die da wissen, was sie wissen und nicht wissen, so hochachte wie irgendwen sonst in der Welt, während ich die alten Weiber, die alles wissen, über alles reden, skandaliren und schmälen in der Welt, überall sonst, als bei ihnen selbst, Unarten, Laster und Ver­brechen sehen, begeifern und denunziren daß ich die eben so oft in Mannskleidern habe auf der Straße herumlaufen, auf den Katedern doziren, auf den Kanzeln predigen und in den Volks­versammlungen deklamiren hören, als in Weibsröcken hinter dem Kaffeetasse oder in den Ressourcen, den Adels- und Bürger­gesellschaften flatschen.

Die kleinen falflutschenden Kinder haben mich auch früh­zeitig auf den Gedanken gebracht, daß die großen vielleicht auch garnicht so übermäßig unmotivirt, töricht und lasterhaft handeln, wenn sie das Glas mit der alkoholischen Flüssigkeit zu Munde führen. Vielleicht, dachte ich, liegt da auch ein durch die Natur der Menschen oder die sozialen Verhältnisse begründetes Be­dürfnis zugrunde.