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hören und verließ sie stets voll Bewunderung für die Formen-| gewandtheit des Redners. In dieser Beziehung werden Kinkel wenige gleichgekommen sein. Die goldene Pracht seiner Bilder, der stolze Bau seiner Perioden und die Schönheit der ganzen rhetorischen Form war überraschend und imponirend. Dazu der Wohllaut des Organs, mit dem er begabt war und die ganze sympatische Erscheinung. Wir sprachen ihn noch vor kurzer Zeit; die hohe Gestalt war troz der 65 Jahre nicht gebeugt, und der Dichter schritt wie ein Jüngling so leicht und rasch einher. Nur das Haar war weiß geworden. In seinen Jugendjahren soll Kinkel eine ideal schöne Erscheinung gewesen sein.

In Unterstraß   bei Zürich   hatte Kinkel sich ein behagliches und gastliches Heim eingerichtet. Ganz plözlich nahte sich ihm der Tod; ein Schlaganfall raffte im November 1882 den noch so rüstigen Mann hinweg.

Fassen wir unser Endurteil zusammen, so haben wir mit einem Mann zu tun, dessen Dichter- und Künstlerseele uns zu

weich erscheint, um die Härten des politischen Kampfes mit antikrömischer Ruhe ertragen zu können. In den Zeiten des Sturmes war er ganz Leidenschaft und nur Leidenschaft, ein Zustand, auf den gewöhnlich ein Rückschlag folgt. Sein merk­würdiger Entwicklungsgang vom halb ortodoxen Teologen zum fonstitutionellen Professor, von diesem zum roten Republikaner, von diesem zum Fortschrittsmann und bürgerlichen Demokraten  - alle diese Schwankungen haben ihm auch Feinde gemacht, denn in der Politik werden Inkonsequenzen nicht so leicht ver­ziehen. Man vergab sie ihm leichter als anderen, denn seine persönliche Liebenswürdigkeit, sein Haß gegen alles Unrecht, seine stete Hilfsbereitschaft gegen Verfolgte aller Richtungen und seine sittliche Reinheit sicherten ihm eine allseitige Achtung. Aber in dem Politiker Kinkel liegt auch nicht die Bedeutung dieser Erscheinung; der Politiker Kinkel ist schon ziemlich ver­gessen gewesen und bei seinem Tode erinnert man sich wieder an die Affären von Siegburg  , Rastatt   und Spandau  . Dauernd

CABRO

Der Wijent.

gesichert aber ist das Andenken des Dichters und Gelehrten| bracht, sind des Nachruhmes wert, und dem Dichter Kinkel Kinkel; die schönen poetischen Gaben, die er seinem Volfe ge-| wird Deutschland   den Nachruhm auch nicht versagen.

3wei Könige im Tierreich. ( Siche Illustrationen.)

1. Der König der Wüste.

Wenn Freiligrath sein berühmtes Gedicht Löwenritt" mit den Worten beginnt: Wüstenkönig ist der Löwe", so dürfen auch wir diesen monarchischen Tropus adoptiren, ohne unserem demokratischen Bewußtsein zu nahe zu treten, obgleich wir rich tiger mit Pöppig, der das furchtbarste Raubtier, die groß­artigste Gestalt unter den Großkazen am ansprechendsten be­schrieben hat, Tyrann sagen würden, was übrigens auf eins hinauskommt. Es ist die Majestät des Schreckens und der Gewalt, die ihn umgibt. Nicht Stolz oder jener angedichtete

Edelmut, der in vielen alten Sagen einen falschen Glanz um den Löwen   verbreitet, veranlassen seine imponirende Haltung, sie ist vielmehr der Ausdruck des Bewußtseins unbezwinglicher Kraft, des Selbstvertrauens, der Gewohnheit zu siegen. Tritt auch das Heimliche und Falsche des Kazenkarakters etwas zurück, so fehlen doch die Hauptzüge desselben nicht; denn auch der Löwe bedient sich unter Umständen der schleichenden List. Im Sumpfrohr, im dichten Gestrüpp, in buschiger Felskluft oder auch in einer Höhle hat er sein Lager. Dort liegt er während des Tags meist im Schlaf und zwar gewöhnlich einsam, denn nur von der Paarung an bis zu einem gewissen Alter