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Von A. M.
Es ist eine vielfach zutage tretende Erscheinung, daß von den Fluten der Völkerbewegung, heute wie vor Jahrtausenden, sich schwächere und unterliegende Volksstämme in abgelegene, schwer zugängliche Gebirgstäler flüchten, dort als ehrwürdige Reste ehemaliger Völkerschaften sich erhalten und troz der nivellirenden Zeit alte Sitten, Gebräuche, Lebensgewohnheiten bewahrt haben. Fast in jedem Gebirgslande Europas finden wir infolge der natürlichen Abgeschlossenheit bei den Bewohnern Abweichungen in Tracht, Sprache, Bauart der Wohnungen 2c. gegenüber denen des Flachlandes, nicht minder allerhand Altertümer, alte Gefäße, Waffen, Münzen und dergl., die dort im sichern Hafen der Verborgenheit ruhen.
Derartige Völkertrümmer treten uns in den Pyrenäen , in der Bretagne , in Portugal , in den schweizer Alpen sowie in Dalmatien , vorzüglich aber in dem durch Virchows neuerliche Mitteilungen erhöhtes Interesse beanspruchenden Kaukasus, der sagenreichen europäischen Völkerwiege, entgegen; so die Abchasen, troz ihrer Anzahl ein ganz isolirter Volksstamm, Reste der Udiner, Abichen 2c.
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Ueber ein solch vereinzeltes, jezt unter russischer Herrschaft sich befindendes Völkchen im Kaukasus geben die Mitteilungen der kaukasischen Abteilung der kaiserlich russischen geographischen Gesellschaft" interessante Aufschlüsse. Das kaukasische Alpenland ist eine Gebirgsmasse von ganz eigentümlich plateauartiger Bildung. Während in anderen Alpenländern verhältnismäßig breite Täler den Gebirgsstöcken anliegen, finden wir hier terrassenförmige Hochflächen von bedeutender Erhebung, welche von schmalen, tief eingerissenen, von wilden Gebirgswassern durchrauschten Talspalten durchschnitten, den Verkehr hemmen und die Zugänglich keit des Gebirgs erschweren. Diese Gestaltung des Gebirges hat der Eroberung durch Rußland größere Schwierigkeiten bereitet, als die Tapferkeit der Gebirgsvölker. Nur in der Nähe der höchsten Gebirgsknoten, zwischen Elbrus ( 5660 Meter= 17 425 par. Fuß) und Kasbek ( 5042 Meter= 15 524 par. Fuß) gibt es breitere Täler im Quellgebiet der Flüsse Terek und Kuban .
Aus der Vereinigung der auf dem westlichen Abhange des Elbrus entspringenden kleinen Gebirgsflüsse Ulu- Kam und Utsch kulan, bei dem gleichnamigen Aul( tartarische Dorfschaft), entsteht der Kuban , der in nördlicher Richtung die kaukasischen Vorberge durchschneidet. Die Täler der genannten Flüsse werden bis etwa 45 Kilometer nach ihrer Vereinigung von einem Bergvolfe tartarischer Abstammung bewohnt, den Karatschajern, die in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts der russischen Herrschaft unterworfen wurden. Wenn auch ihre Unterwerfung unter Rußland und die russischen Geseze offiziell eine Aenderung in den innern Einrichtungen bedingte, so sind doch in der Tat ihre Sitten und Gebräuche durchaus unverändert geblieben.
Auf Anordnung der russischen Regierung wurde die zu dicht gewordene Bevölkerung nach andern Nebenflüssen des Kuban , dem Daut, der Teberta und Mara angesiedelt, so daß außer den ursprünglichen Auls Chursuk, Utschkulan und Kart Dschurt, noch die Aule Daut, Dschasluck und Teberta entstanden, wodurch nunmehr das ganze obere Stromgebiet des Kuban bis zum Chumara, an der Einmündung des gleichnamigen Flusses, von den Karatschajern bewohnt wird, die nach offiziellen Angaben etwa 21 000 Köpfen stark sind.
Wann die Karatschajer, deren tartarische Abstammung unzweifelhaft, ihre jezigen Wohnsize eingenommen haben, ist ungewiß; sicher dagegen, daß sie in geschichtlicher Zeit eingewandert sind. Sie selbst erzählen, daß sie in grauer Vorzeit aus einer der Krym benachbarten Gegend-- wahrscheinlich am nördlichen Ufer des asowschen Meeres gedrängt durch zahlreichere und gedrängt durch zahlreichere und stärkere Horden, ausgewandert und zunächst am Jrchis, einem Nebenflusse des großen Selindſchuck( am nördlichen Abhange des Kaukasus ) seßhaft geworden seien. Die fortwährenden Angriffe
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und Feindseligkeiten der umwohnenden Abchasen zwangen sie jedoch weiter zu wandern, und so gelangten sie auf ihrem Zuge nach Osten, auf die Ostseite des Elbrus , wo sie am oberen Laufe des Bakssan ihre Wohnsize aufschlugen; von dort seien sie wahrscheinlich aus gleichen Ursachen vor einigen Jahrhunderten, unter Führung eines noch sagenhaften Mannes Kartscha auf die Westseite des Elbrus in ihre jezigen Wohnsize gelangten, deren Unzugänglichkeit ihnen hinreichenden Schuz gegen feindliche Angriffe boten, gleichzeitig auch durch ihre Abgeschlossenheit die Bewahrung ursprünglicher Sitte und Gebräuche ermöglichten.
Ihre ganzen gesellschaftlichen Einrichtungen sind durchaus patriachalisch, wodurch manche Härten gemildert werden. In drei gesonderte Stände ist die Bevölkerung eingeteilt: die Aeltesten oder Fürsten , die Usden( freie Bauern) und die leibeigenen Bauern. Aller Einfluß und alle Macht ruht in den Händen der Altesten, denen ausschließlich alle Bestimmungen über die inneren Angelgenheiten zustehen, denn obgleich die persönliche Freiheit der Usden feststeht, haben sie doch in Bezug auf die inneren Angelegenheiten keine Stimme und müssen sich den Anordnungen der Aeltesten unbedingt fügen. Dafür genießen sie den unbedingten Schuz der Aeltesten, die ihre Streitigkeiten schlichten und sie durch Geschenke und Begabungen an sich fesseln. In völlig rechtloser Stellung befinden sich die leibeigenen Bauern, mögen deren Herren nun Aeltesten oder Usden sein, so zwar, daß sie nicht einmal über ihre Kinder frei verfügen können. Ein trauriges Loos fürwahr, das durch die patriarchalische Sitte allerdings einigermaßen gemildert wird. Die Herren betrachten die Leibeigenen als zur Familie gehörig und gestatten sich infolge dessen, bei einfacher Sitte, keine Ausschreitugen und willkürliche Bedrückung. Kommt es doch vor, daß der Herr sich in dasselbe Joch mit dem Leibeigenen einspannt und nach vollbrachter mühevoller Arbeit an dem ärmlichen Mahle desselben teilnimmt; ja, daß die Frau des Herrn dem verwaisten Kinde des Bauern mit ihrem eigenen die Brust reicht. Freud und Leid, Arbeit und Vergnügen sind ihnen gemein, und die Anhänglichkeit der Leibeigenen an ihre Herren ist oft so groß, daß sie bei Trauerfällen in der Familie des Herrn sich das Gesicht zerkrazen oder sonst verstümmeln. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit durchdringt alle, als natürliche Folge wohl der früheren Anfeindungen und Verfolgungen.
Man glaubt sich in die Zeiten der Erzväter zurückversezt, wenn man sieht, wie den Anordnungen der Familienhäupter Folge geleistet und welche Ehrerbietung denselben gezollt wird. Der Vater ist das natürliche Haupt der ganzen Familie, nach dessen Tode das älteste Glied derselben an seine Stelle tritt. Seinen Auordnungen fügen sich alle unbedingt. Aber nicht nur den Familienhäuptern, sondern dem Alter überhaupt wird die größte Achtung und Rücksicht entgegengebracht. In Gegenwart alter Männer darf der Jüngere ohne Erlaubnis sich nicht einmal niedersezen, geschweige denn sich ins Gespräch mischen. Er muß demselben unterwegs sein Pferd abtreten und ihm beim Aufsteigen behülflich sein; begegnet er unterwegs einem alten Manne, so muß er ihn so lange begleiten, bis dieser ihm die Erlaubnis zur Fortsezung seines Weges erteilt.
Eigentümlich ist die Stellung des weiblichen Geschlechts; denn während die unverheirateten Frauen große Freiheiten genießen und an allen öffentlichen Festlichkeiten, Gesängen und Tänzen ohne weiteres Anteil nehmen, sind die verheirateten vollständig abgeschlossen von allem Verkehr und jeder Geselligkeit.
Wie bei vielen orientalischen Völkerschaften herrscht auch bei den Karatschajern der schöne Gebrauch der Gastfreundschaft in ausgedehntem Maße, als ein Beweis der Einfachheit und Reinheit der Sitten. Jeder Fremde wird auf das herzlichste empfangen und mit dem besten bewirtet, was das Haus bietet; ihm zu Ehren werden die angesehensten Personen des Auls zum Mahle eingeladen, ja, es haben alle Nachbarn das Recht, sich