sie kaum begriff, wie sie so lange ohne dieselbe hatte leben können. Ueberall, wo sie ging und stand, in der Einsamkeit, während ihre geschickte Hand die Farben mischte oder während sie in angeſtrengter geistiger Arbeit über die Rätsel des Lebens nachsann und Trost und Belehrung schöpfte aus den Gedanken, mit welchen ernste Denker sich über diese ewigen, qualvollen

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Rätsel hinweggeholfen, im Verkehr mit andern, im Gespräch über die gleichgiltigsten Dinge der Welt: in jedem Augenblicke war sie sich dieses Gefühls der Zusammengehörigkeit mit dem Geliebten bewußt. Und dieses Bewußtsein gab ihr eine Ruhe und Glückseligkeit, die ihre Augen höher glänzen machten und die Rosen wieder blühen ließen auf ihrem bleichen, abgehärmten Gesichtchen.

( Forts. folgt.)

3. D. H.

"

Heinrich Heine bezeichnet die Westfalen als sentimentale Eichen", und wenn es je einen Westfalen gegeben hat, auf den diese Bezeichnung zutraf, so ist es der alte Temme gewesen, der Mann mit dem unbeugsamen Gerech= tigkeitsgefühl, der un­wandelbaren Gesin­nungslauterkeit und dem weichen, poeti­schen Gemüt. Und das ist es auch, was ihm bei allen Gutge­sinnten ein ehrendes Andenken hinterlassen hat. Dreifach war das Wirken dieses selbst­losen und fleißigen Mannes; als Jurist, als tonſtitutionell- de­mokratischer Politiker und als geschickter und fruchtbarer Novellist hat er seinem Namen Ruhm und Anschen verschafft. Man darf dieses Leben voll stür­mischer Ereignisse und voll ernster Arbeit nicht in den engen Rahmen vorgefaßter Anschauungen zwän­gen wollen; wir haben es hier mit einem auf­richtigen Streben für das Wohl der Ge­sammtheit zu tun, dessen Reinheit für den Vorurteilslosen immer ungetrübt blei­ben wird.

Die Jugend Tem­mes schien durchaus angelegt, ihm ein ge­

Temme.

geschieden. Allein Temme war eben kein Bureaukrat, sondern ein wahrhaft freisinniger Mann, der in seiner Jugend die demokratische Atmosphäre der Freiheitskriege gegen Napoleon

J. D. H. Temme.

sichertes und ruhiges Dasein verschaffen zu sollen und ließ nichts von den stürmischen Zwischenfällen ahnen, die ihn später heimsuchen sollten. Geboren 1798 zu Lette in Westfalen , machte er die gewöhnlichen Vorschulen zum akademischen Studium durch, das er 1814 in Münster begann. Er studirte daselbst und in Göttingen Jurisprudenz, wurde Auskultator und Assessor beim Oberlandesgericht in Paderborn , und besuchte als Erzieher eines Prinzen von Bentheim- Tecklenburg noch mehrere Universitäten, worauf er sich dann ganz seiner Beamtenkarriere widmete. Sie führte ihn weit umher, von Westfalen nach Litauen , von da nach der Mark Brandenburg und nach Pommern , dann nach Berlin , dann nach Ostpreußen , dann wieder nach Berlin und von da nach Westfalen zurück.

Wäre Temme ein einfacher preußischer Bureaukrat gewesen, so wäre er in hoher Stellung, mit Drden bedeckt und mit reich licher Pension versehen, in seinen alten Tagen aus dem Dienſte

eingeatmet hatte und der in den trüben Zei­Metternichscher

ten und

bundestägiger Reaktion mit doppel­ter Treue und Energie für das eintrat, was er einmal für richtig erkannt hatte.

Im Anfange der vierziger Jahre regte es sich allerwärts ge­gen das bureaukra= tisch absolutistische Regiment und auch in Preußen kam bald ein reges politisches Leben in Fluß, hauptsächlich angeregt durch Johann Jacobys ,, Vier Fragen eines Ostpreußen ". Temme machte aus seinen Gesinnungen fein Hehl und wurde dadurch bei der Re­gierung so mißliebig, daß man ihn, der schon 1839 zweiter Direk­tor des berliner Kri­minalgerichts gewor­den war, 1844 zum Stadt- und Landes­gerichtsdirektor in Til­ sit machte. Diese Ver­sezung in eine kleine und ferne Stadt kam allerdings einer Strafe gleich.

Aber wie es immer zu geschehen pflegt, so

wuchs aus dieser Zurücksezung dem Manne die Sympatie des Volkes. Ohnehin hatte sich Temme in der wissenschaftlichen Welt durch eine Anzahl gediegener juristischer Arbeiten, bei den größeren Volksmassen durch verschiedene, sehr gut aufgenommene Romane und Novellen einen bekannten und geachteten Namen gemacht. Als das Jahr 1848 mit seinen Stürmen hereinbrach und die Re­gierungen dem Volkswillen nachgaben, glaubte daher die preu­ßische Regierung dem Volke einen Beweis ihrer Freisinnigkeit und Aufrichtigkeit zu geben, indem sie Temme als Staats­anwalt nach Berlin berief. Aber diese Stellung vertrug sich nicht lange mit der politischen Haltung Temmes und er wurde noch in demselben Jahre zum Direktor des Oberlandesgerichts in Münster ernannt.

Inzwischen aber wurde Temme mitten in den Strudel der sich überſtürzenden Ereignisse hineingedrängt. Der Kreis Raqnit in Litauen , wo er früher Kreisjustizrat gewesen war, wählte