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Die Urbewohner Vorderindiens gehören größtenteils zwei verschiedenen großen Völkerstämmen an, dem arischen, welcher zur kaukasischen, und dem dekhanischen, welcher zur mongolischen Rasse gehört. Der arische Volksstamm besizt den Norden des ganzen Landes, den bei weitem größten Teil des nördlichen Dreiecks, also Hindustan und einen Teil des nördlichen Dekhan. Er scheint einst aus dem Nordwesten her nach dem Indus und Ganges eingewandert zu sein. Stämme dieses eigentlichen Kulturvolts von Indien sind: die Bengalen, die Hindustani, die Radschputen, die Mahratten und die im Westen wohnenden Dschat.
Radschputana, Land der Radschputs, wurde unter der englischen Verwaltung Bezeichnung des Landstrichs von der Größe Preußens, der in Gestalt eines Rhombus zwischen Zentralindien im Osten, Bombay im Süden, Sindh im Westen, Pandschab und Nordwestprovinz im Norden eingelagert ist. Neunzehn Staaten unter eigenem Oberhaupt und autonomer Verwaltung teilen sich in den Besiz. England hat sich in Adschmir nur einen Kreis von der Größe des Herzogtums Oldenburg zur Selbstverwaltung vorbehalten.
An den Höfen der Radschputfürsten sind zu dem Glanze indischen Hoflebens die verfeinerten Genüsse westeuropäischer Kultur getreten, worin besonders der Hof von Dschaipur hervorragt. Dschaipur hat mit 39 419 Quadratkilometern und gegen 2 millionen Einwohnern fast die Größe von Kroatien und Slavonien mit der Militärgrenze ; der Länderumfang ist etwas geringer, die Bevölkerungsdichtigkeit etwas größer. Das Land ist gut bewässert und fast eben zu nennen. Die gegenwärtige Dynastie faßte in Dschaipur Fuß im Jahre 967, die Hof chronisten wissen aber den Stammbaum bis zum Sagenhelden Nama hinaufzurücken. Die neuen Herrscher nahmen Wohnsiz in Amber, der alten Residenzstadt.
Als Siz der Fürsten von Dschaipur strahlte Amber großen Glanz aus; die Wasser des Baches, der von den bewaldeten Hügeln herabfloß, wurden durch einen stattlichen Querdamm zu einem Teiche aufgespeichert, lange Mauern am Rande des Hügels schüzten die Städter vor feindlichen Ueberfällen; aus dem feinsten weißen Marmor erstanden Paläste und Verund Ver: schönerungsbauten, welche den berühmtesten Gebäuden sich würdig anreihen und die weltbekannten Marmorbauten der Alhambra überstrahlen, des herrlichsten Denkmals mittelalterlicher arabischer Baukunst in Europa . Der Moghulfaiser Schah Dschehan soll über solchen Glanz erbost gewesen sein und wollte nicht dulden, daß seine Radschput- Untervasallen in Dschaipur in Großartigkeit der Bauten ihn übertreffen; er gab Befehl, die Dewan- i- thas zu zerstören. Der schlaue Erbauer, Fürst Dschai Singh I., ließ die Pfeiler rasch mit Stuffaturarbeiten im Stile der über ladenen späteren Hindutempelarchitektur überziehen und der mit der Zerstörung betraute General entledigte sich seines Auftrags durch den Bericht, daß die Nachricht falsch gewesen sei, ein die kaiserlichen Hallen in den Schatten stellendes Empfangsgebäude sei nicht angetroffen worden.
Bis 1728 blieb Amber Residenz von Dschaipur; jezt liegt die Stadt öde und verlassen, der Teich hat den untern Stadtteil unter Wasser gesezt, einige Prieſterfamilien bilden die ganze Einwohnerschaft.
Die Zeiten sind vorüber, daß indische Fürsten sich durch Balastbauten staunenswerter Architektur einen Namen zu machen suchen; wenn der heutige Hindu ehrgeizig ist, so arbeitet er nach dem Vorbilde der Engländer für Befriedigung der Bes dürfnisse seiner Untertanen; ein sprechender Beweis für den Wandel der Gesinnungen ist die moderne Fürstenresidenz Dschaipur, seit dem ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts Hauptstadt des Staates.
In der Residenz Dschaipur ist eine an amerikanische Neugründungen erinnernde Regelmäßigkeit der Straßenanlagen an
zutreffen. Der Gründer der Stadt ist Dschai Singh II., Fürst über Dschaipur von 1699 bis 1742, Kenner der indischen astronomischen Wissenschaft. Als Matematiker teilte er seine neue Stadtanlage in gleichseitige Quadrate mit geraden Linien, die sich in rechten Winkeln schneiden, und da der verstorbene Regent die Stadt mit Gas versah, das nicht aus Steinkohlen, sondern aus dem hier sehr billigen Kastoröl( Riziniusöl) dargestellt wird, so gewährt ein Gang durch die Straßen abends einen so glänzenden Anblick als europäische Prachtstädte, denn die Bauart der Häuser ist in gutem indischen Geschmack durch geführt. Wahrzeichen der Stadt sind die zahlreichen Vorbaue mit durchbrochenem Marmorgitter, hinter denen die Frauen vor nehmer Hindus dem Treiben auf der Straße zusehen; die öffentlichen Pläze sind mit Springbrunnen ausgestattet.
In den Straßen ist viel Leben; aber Dschaipur ist keine Handelsstadt, man beobachtet kein fieberhaftes Gedränge. Lange Reihen von Kameelen, Lasten von Steinen und Baumaterial tragend, ab und zu ein Elephant und Ochsenkarren bilden die Staffage; zuweilen eilen moderne europäische Wagen durch die Menge, die sich nur dann staut, wenn ein Bewohner der Berge gezähmte Bären tanzen läßt oder Gaukler Kunststücke aufführen. Die Straßen werden fleißig gereinigt, man stößt auf keine Schmuzhaufen; die Stadt wird von den Engländern im Gefolge des Prinzen von Wales bei seiner indischen Rundreise als reinlicher wie London gerühmt.
Zu den interessantesten Bauten Indiens gehören die Satigrabdenkmäler, welche am häufigsten in Radschputana angetroffen werden. Sati ist weiblicher Eigenname der Tochter des Dakicha, eines Sohnes von Brahma, und die Gattin von Siwa, des mit Brahma um den Vorrang sich streitenden Gottes. Nach der Hinduteologie stürzte sich Sati beim Opfer ihres Vaters in das heilige Feuer, aus Bekümmernis, daß ihr Gatte von Vater Brahma nicht zum Opfer eingeladen war. Seitdem heißt jede Ehefrau, die mit ihrem verstorbenen Manne den Holzstoß besteigt, Sati, der Gebrauch der Witwenverbrennung selbst Sahagamana. An der Stelle, an welcher solche Selbstweihung zur Verbrennung stattfand, errichten die Hindus mindestens eine Denksäule aus Stein, Frauen hoher Hindus wird sogar ein tempelartiges Gebäude errichtet. Witwen, die sich über den Verlust ihres Gatten trösten und sogar wieder heiraten, werden in den heiligen Schriften als nicht würdig erklärt, im Jenseits neben ihren Gebietern einen Plaz einzunehmen; sie sollen von Früchten und Beeren leben und gelten im Volte als Schandfleck der Familie. An diesem Makel haben die modernen Vereine für Witwenverheiratung nur wenig geändert; eine Witwe schreitet noch immer schwer zu zweiter Ehe. Selbst Witwen aus besserer Kaste werden unter der Unmöglichkeit anständiger Versorgung zu Geliebten von Mitgliedern der religiösen Orden, wenn nicht zu Prostituirten. Die englischen Leiter der indischen Verwaltung verhehlten ihren Abscheu gegen die Witwenverbrennung nicht. Unterm 4. Dezember 1829 erließ der englische General gouverneur von Indien ein Gesez, welches das Verbrennen von Witwen für alle Zeiten verbietet. Dem Vollzuge dieses Ver waltungsgesezes stellten sich ganz unerwartete Schwierigkeiten entgegen. Frauen, von Brahmanen aufgehezt, verlangten so ungestüm mit der Leiche ihres Gatten verbrannt zu werden, daß die Verbrennung unter behördlicher Aufsicht gestattet werden mußte, da bei Weigerung bedenkliche Ausbrüche des Fanatismus zu befürchten waren. Noch 1875 wurde bei Lakhnau eine Sati vollzogen, aber das Gericht verurteilte alle Teilnehmer, dreißig an der Zahl, wegen Mordes. Im englischen Reichsgebiet ist seither fein Fall von Sati mehr verzeichnet; in den Vasallen staaten dagegen ist der Brauch noch nicht unterdrückt. In Radschputana kostete es 1874 in Udaipur beim Tode des Fürsten die größte Mühe, zu verhindern, daß die vier Frauen des Verlebten den Scheiterhausen bestiegen. Im Staate