Der kritische Verstand fragt: Wo sind die Somnambulen, deren Weissagungen nicht eintreffen? Ohne Zweifel würde man sie finden, wenn man sie suchte. Und eine einzige solche negative Instanz würde hinreichen, aller Welt den Glauben an die Unfehlbarkeit solcher Weissagungen zu nehmen, alle Welt zu überzeugen, daß hier andere Kräfte im Spiele sind als dämonische oder gar göttliche. Als man jemand in einem Tempel die Votivtafeln der Geretteten zeigte und ihn dann fragte, ob er jezt die gnädige Gottheit anerkenne, antwortete er sehr richtig: Aber wo stehen die berzeichnet, die troz ihrer Gelübde im Schiffbruch umgekommen sind? Und diese Bewandtnis hat es mit jeglichem Aberglauben, mit Träumen, Wahrzeichen u. s. f. Die Menschen, die sich an solchen leeren Dingen ergözen, bemerken immer nur die Fälle, wo die Sache zufällig eintrifft, die erfolglosen da
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gegen, obwohl sie bei weitem die Mehrzahl bilden, lassen sie außer Acht. Und auch in der bisherigen Wissenschaft hat sich, wie Baco sagt, der Verstand mehr durch positive Instanzen als durch negative bestimmen lassen, während er sich doch beiden mit gleicher Unparteilichkeit hingeben soll.
Mit der von ihm begründeten Metode der Induktion hat Baco dem Geist der Forschung gleichsam ein neues Instrument geschaffen, dessen Anwendung die neuere Naturwissenschaft ihre großartigen Fortschritte, die Mehrzahl ihrer Entdeckungen und Erfindungen verdankt. Wie Luther der Reformator der Religion, so wurde Baco von Verulam als Bekämpfer des wissenschaftlichen Autoritätsglaubens und Begründer der induktiven Metode der Reformator der Wissenschaft.
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Gerade im Zentrum des europäischen Rußland , an der Moskwa, erhebt sich das alte heilige" Moskau , jene merkwürdige Stadt, wo das Leben des Occidents und des Orients ineinander übergreifen. Im Gegensaz zu dem modern an= gelegten und eingerichteten Petersburg hat das Leben in Moskau mehr von den national- russischen Formen behalten. Schon das Aeußere der Stadt deutet darauf hin. Dieses Häusermeer mit seinen mehr als 1500 Türmen und zahlreichen Kuppeln, von denen ein Teil vergoldet, ein anderer mit den buntesten Farben geschmückt ist, übt auf den fremden Beschauer einen geradezu magischen Eindruck aus; man glaubt an der Schwelle der er= schlossenen Märchenwelt des Orients sich zu befinden. Dieser Eindruck wird allerdings bedeutend abgeschwächt, wenn man die Straßen der Stadt betritt, bei denen man vielfach die Regelmäßigkeit vermißt.
Den Mittelpunkt, um den sich diese berühmte und so oft in Asche gesunkene Stadt gruppirt, bildet der alte Zarenpalast, der Kreml , der für sich einen ganzen Stadtteil ausmacht. Dieser Kompler von alten und großartigen Gebäuden, in dem jüngst die Krönung Aleranders III. to: sich ging, liegt auf einer Insel und ist von einer mit Zinnen versehenen Mauer umgeben, in welche achtzehn Türme eingefügt sind. Fünf Tore bilden die Zugänge, und unter diesen ist das berühmteste die heilige Pforte mit dem Erlöserbilde, vor dem die Vorübergehenden heute noch das Haupt entblößen müssen, laut eines Ulfas von 1660. Es sind zweiunddreißig Kirchen und eine Anzahl von Palästen und andern Gebäuden, die den Kreml bilden. Hier sehen wir alles überladen mit jener maßlosen orientalischen Pracht, die im einzelnen uns oft abstoßend und plump erscheint, die aber im ganzen durch ihre Massenhaftigkeit wie berauschend auf den Sinn wirkt. Hier ist ein großer Teil der Schäze der Zaren aufgespeichert und eine Masse kriegerischer Trophäen ist auf gestellt, unter anderm die 1812 erbeuteten französischen Kanonen.
Die Kirchen sind größtenteils mit vergoldeten Kreuzen geschmückt, darunter jenes riesenhohe Kreuz der Jwanskirche, das Napolcon 1812 abnehmen ließ und nach Paris schaffen lassen wollte, das aber auf dem Rückzuge im Stich gelassen wurde und den Russen wieder in die Hände fiel. Hier befindet sich auch die größte Glocke der Welt( 3arkolokol), die gesprungen ist, wie denn Moskau im ganzen über 2000 Glocken zählt. Der Kreml enthält eine Menge von Grabmälern von Zaren und von allen möglichen Großen des russischen Reichs.
Alles strozt hier von Gold und Edelsteinen; hier befindet sich unter andern auch das sogenannte Palladium des russischen Reichs, ein Bild der Maria, das der Evangelist Lukas (?) gemalt haben soll und das von Edelsteinen im Werte von 200000 Rubelu eingefaßt ist. Diesem Bilde und seiner Wunder fraft schreibt man im abergläubischen Rußland heute noch den Sieg über die Tartaren im Jahr 1395 zu.
Die kostbarsten Skulpturen bedecken alle Wände, und dabei sind die Säle, in denen bisher immer die Krönungsfestlichkeiten
vor sich gegangen sind, groß genug, um 20000 Menschen zu fassen. Man nennt diese Säle die Ordenssäle; die eigentliche Krönung ist bekanntlich in der Katedrale vor sich gegangen, der Kirche, die auf dem höchsten Teile des Kreml sich erhebt und neun Türme hat. Unter den Palästen ist der achtstöckige Kaiserpalast natürlich der großartigste.
Der Kreml , in dem sich so die Schäze des heiligen" Ruß land aufgehäuft finden, war über vier Jahrhunderte der unbestrittene Siz des russischen Zarentums, der feste Punkt, von dem aus es seine Eroberungszüge unternahm und wo es seine Macht, seine Schäze und seinen Lugus konzentrirte. Die Geschichte, die sich an diese alten Mauern knüpft, ist düster, dunkel und grausenhaft, unheimlich, wie das ganze alte Gebäude selber, ungeheuerlich, wie die Formen dieser Riesenpaläste, und öde wie ihre unermeßlichen Säle. Welche Kämpfe, welches Blutvergießen, welche Schreckensszenen, unter denen sich diese Schäze anhäuften! Es gehört eben russischer Geschmack dazu, die an dem Kreml haftenden Erinnerungen andächtig zu verehren und damit das Gebäude selbst zu einer Art Nationalheiligtum zu machen.
Die russische Geschichte von der Eroberung des Landes durch die Waräger und der Herrschaft Ruriks bis auf die neuere Zeit bildet einen wüsten Knäuel von Schlachten und Länderverheerun gen, von Brand und Blut, von Mord und Plünderung. Und nicht allein im Innern tobten diese grauenvollen Kämpfe; es kamen dazu noch die Kriege mit den Mongolen, die Rußland so lange Zeit tributpflichtig erhielten, die Einfälle der Lithauer und der deutschen Ordensritter, die Kämpfe mit den Magyaren, Polen u. 5. w. Bei all diesen wechselvollen Kämpfen sah Moskau verschiedene male den siegreichen Feind in seinen Mauern und ging etwa sechs mal teils ganz, teils in einzelnen Stadtteilen in Flammen auf. Grauenvolle Schlächtereien, Aufstände, Hinrichtungen in Masse hat diese Stadt gesehen und zulezt noch, 1812, fant sie in Asche, von russischer Hand in Flammen gesteckt, um Napoleon hinauszutreiben, ein Fanatismus, der nur bei einem Nationalrussen möglich ist.
Aber die unheilvolle Rolle, die der Kreml in der russischen Geschichte spielt, ist noch eine andere. Hier befestigte sich jener furchtbare Despotismus, der seit so langer Zeit Rußland wie mit eisernen Klammern umspannt hält und der sich mit all seiner Macht der modernen Entwicklung entgegenstemmt, derselbe Despotismus, der dem europäischen Rußland eine Verfassung nach europäischem Muster vorenthält und so die Schuld daran trägt, daß das Land heute in zwei sich mit so furchtbarem Haſſe bekämpfende feindliche Lager gespalten ist. Es gab eine Zeit, da in Rußland mehr Freiheiten bestanden, wie heute. Es gab früher einen Reichstag, der allerdings fast nur aus den Würdenträgern des Reichs bestand, allein derselbe war doch eine Schranke für den Despotismus im Kreml . Vom ersten russischen Reichstage von 1097 vernehmen wir allerdings, daß auf dem selben Vertreter des Adels, der Geistlichkeit und des Bürgerstandes erschienen sind, und noch im Jahre 1566 hielt der Bar