Aus diesen Angaben des Jahresberichts eines der vornehm sten preußischen Gymnasien erhellt, daß wir sehr wohl deutschen Studenten, die ihr Gymnasialabiturienteneɣamen mit aller Aus­zeichnung bestanden haben, begegnen können, die von der ge­sammten neueren deutschen Literatur von Klopstock und Lessing bis Gußkow und Gottschall absolut nichts weiter gelesen haben, - von den für fromme Kinder zugeschnittenen Fragmenten der Lesebücher" gebührendermaßen zu geschweigen, als etliche Gedichte Schillers, Nathan den Weisen, Wallensteins Tod, Maria Stuart , einiges aus Wahrheit und Dichtung " und vielleicht noch ein oder zwei Dramen von Lessing und Goethe. Von ersterem vielleicht eine Kleinigkeit aus der Dramaturgie und etwas vom Laokoon.

Vergegenwärtigt man sich nun, daß die Ueberhäufung mit Schularbeiten, besonders in den obersten Klassen des Gymnasiums, höchstens den begabtesten und gleichzeitig strebsamsten Schülern eine Spanne Zeit übrig läßt zur Privatlektüre von Werken deutscher Literatur; daß des weitern das bekanntermaßen flotte Burschenleben dem Studenten selten mehr Muße gönnt, als zu den unumgänglichsten Fachstudien erforderlich ist, so wird man sich wohl nicht wundern, wenn der Verfasser dieser Ab­

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handlung behauptet, daß er in allen Kreisen unserer gebildeten Welt, unter Richtern, Aerzten, Gymnasiallehrern, höheren Beamten u. s. w., keineswegs selten Leute gefunden hat, denen eine erschreckend große Zahl der vorzüglichsten Werke unserer eigenen Literatur nur dem Namen nach oder selbst nicht einmal dem Namen nach bekannt waren.

Fügt man diese Vernachlässigung unserer schönen Literatur, dieses besten Quellgebietes von Erkenntnis und schöner Mensch­lichkeit, hinzu zu der Tatsache der rücksichtslosen Hintansezung der modernen Naturwissenschaften auf den Gymnasien, so wird man zu dem Urteile sich gedrängt sehen, daß ein sehr wesentlicher Teil unserer sogenannten Gebildeten in Betracht dessen, was hauptsächlich unsere Bildung ausmachen sollte, eine Art geistigen Botokudentums darstellt, dem man Verständnis für modernes Leben und Streben weder zu­trauen noch zumuten darf.

Von diesem unsern Standpunkte aus hätten die Reformen des höhern Unterrichtswesens offenbar sehr weitreichende und tiefeindringende sein müssen, denn weiter Spielraum für die neuere deutsche, insbesondere die klassische Literatur und für die modernen Naturwissenschaften ist unsere Parole.

Die Cholera.

Von Professor von Vettenkofer in München .

Die 13. Auflage von Brockhaus' Conversations Lexikon, mit ungefähr 100 000 Artifeln und 6000 Abbil­dungen auf 400 Tafeln und im Texte, in 16 Bänden, wovon bereits 5 vorliegen( jeder Band gebunden in Halbfranz 9 Mt. 50 Pf.), enthält folgenden von dem in der Ueberschrift ge­nannten berühmten Hygieinisten verfaßten Artikel, den wir un seren Lesern mit Erlaubnis der Verlagshandlung mitteilen:

Cholera( nach gewöhnlicher Annahme von dem griech. Worte Chole, Galle , nach andern von dem hebr. Worte Cholera, die böse Krankheit) bezeichnet überhaupt ein massenhaftes, rasch eintretendes Erbrechen und Lariren, einen Brechdurchfall. Dieser häufig vorkommende Zustand beruht auf sehr verschie denen, die Magen- und Darmschleimhäute reizenden oder ent­zündenden oder die Nerven dieser Unterleibsorgane sonst er­regenden Ursachen( Vergiftungen, Genuß unverdaulicher oder verdorbener Speisen und Getränke, Verlezung gewisser Nerven partien u. s. w.). In den heißen Sommermonaten namentlich kommen solche Zustände alljährlich vor, die man unter Brech ruhr, Sommer- oder europäischer Cholera( Cholera nostras), begreift und die nur ausnahmsweise sehr heftig wird, wenn über­reiche weiße, reiswasserähnliche Entleerungen nach oben und unten mit Blauwerden und allgemeiner Kälte der Haut, Ein­fallen des Gesichts, Wadenkrämpfen, Unfühlbarwerden des Pulses und Heiserkeit der Stimme sich zeigen. Diese Symptome, welche meistens rasch vorübergehen und sehr selten zum Tode führen, kommen aber regelmäßig auch bei jener Form der Cho­lera vor, welche man die asiatische( auch epidemische, wandernde, indische u. s. w.) nennt, die gleichzeitig oft sehr viele Menschen in einem Orte ergreift und so gefährlich ist, daß in der Regel mehr als die Hälfte der davon Ergriffenen daran stirbt.

Der Verlauf der asiatischen oder epidemischen Cholera ist in der Regel folgender: Meist gehen tagelang Abgeschlagenheit, Verdauungsstörungen, namentlich schmerzlose wässerige Durch fälle( Cholerine) voraus; oft fehlen aber auch solche Vor­boten, sodaß das Uebel gleichsam blizschnell befällt. Plözlich, meist in der Nacht, treten stürmische und zahlreiche Ausleerungen ein, welche nur im Anfange noch aus gefärbtem Darminhalt, bald aber aus einer eigentümlichen reiswasserähnlichen, alfali­schen, zahllose Epithelzellen des Dünndarms sowie Fetttröpfchen, Blutkörperchen, Tripelphosphatkrystalle und verschiedene Pilz formen enthaltenden Flüssigkeit bestehen. Dazu gesellt sich reich liches Erbrechen, durch welches zuerst Mageninhalt und Galle, später aber gleichfalls eine reiswasserähnliche Flüssigkeit entleert

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( Schluß folgt.)

wird. Bei der sog. trockenen Cholera( Cholera sicca), einer besonders gefährlichen Form, die aber selten auftritt, fehlen die reiswasserähnlichen Ausleerungen gänzlich, weil der zeitig ge­lähmte Darmkanal die in ihm ausgeschwizten Stoffe nicht aus­zutreiben vermag. Mit dem Eintritt der wässerigen Aus­leerungen stellt sich ein quälender Durst, sowie ein beträchtliches Sinken der Eigenwärme und des Pulses ein, der Herzschlag wird matt, die Glieder, Nase und Ohren werden blau und leichenkalt, das Gesicht ist verfallen, die Augen tiefliegend, die Stimme wird heiser und klanglos, die Harnentleerung hört auf, es stellen sich schmerzhafte Krämpfe in den Waden und Füßen ein u. s. w. Endlich verschwinden, zuweilen unter Nachlaß der Ausleerungen, der Puls, der Herzstoß, sogar die Herztöne gänzlich und der Tod erfolgt gewöhnlich unter den Zeichen eines allgemeinen Blutstandes und einer Nervenlähmung( As­phyktische Cholera). Im glücklichen Falle aber kommen nach und nach die Körperwärme, der Puls und Herzschlag sowie die Harn­entleerung wieder, Schlaf und Kräfte kehren zurück, die Stuhl­gänge werden wieder gallenhaltig und fäculent u. s. w. Oft aber tritt in diesem Zeitabschnitt( der Reaktionsperiode) eine eigentümliche Fieberkrankheit ein, welche dem Typhus ähnlich verläuft, das sog. Choleratyphoid, das bisweilen wochen­lang dauert und die Befallenen oft noch hinwegrafft.

Die Leichenöffnung der an der Cholera Gestorbenen zeigt zwei Haupterscheinungen: einen heftigen, mit massenhafter Aus­schwizung verbundenen Darmkatarrh und eine beträchtliche Ein­dickung der gesammten Blutmasse mit ihren beiderseitigen Folgen. Im Darmrohr, zumteil auch im Magen, findet man eine reich­liche, reiswasserähnliche Flüssigkeit, welche aus massenhaft aus­geschwiztem Blutwasser und zahllosen abgestoßenen Darmepi thelien besteht. Die Darmschleimhaut selbst ist entzündet, zum­teil blutig unterlaufen und stellenweise ihrer schüzenden Decke beraubt; ihre Zotten und Drüschen, oft auch die Gekrösdrüsen, sind angeschwollen und hervorragend. Das Blut ist dunkel­blaurot, mehr oder weniger eingedickt, in den höheren Graden daher teer- oder pechartig zähe. Es zeigt sich im Herzen an­gehäuft, fehlt hingegen in den Haargefäßen, sodaß das Zell­gewebe, die Muskeln und andere Teile blutarm, trocken, zähe und unelastisch, die Haut grau und runzelig, die serösen Häute klebrig gefunden werden. Fast konstant sind die Nieren ver­ändert und zeigen bei schweren Fällen die eigentümliche, unter dem Namen Eiweißniere bekannte Entartung, welche sich auch bei Lebzeiten durch Eiweißgehalt des Harns und zurückhal­