Kirche und Messe noch volles Leben haben und also voll verstanden werden. Sollte man da nicht doch am Ende an die Wirksamkeit des schnellen oder bequemen Sprechens glauben? Ja, ja; es bleibt nichts anderes übrig, wenn man bei den Buchstaben auf dem Papier bleibt; ja auch wohl nichts anderes, wenn man, wenigstens etwas näher ans Leben, bis zu den gesprochenen Lauten vorgeht. Wie aber, wenn man das Leben ganz nachahmte und sich beim Wort zugleich möglichst rund und voll die ganze Sache vorstellte? Was ist Kirms, was Kirchmeß? Kirchmeß sagen dieselben Leute, die das Wort Kirms brauchen, noch heute zu der gottesdienstlichen Handlung der Messe in der Kirche. Wo die Sache ganz die geblieben, die sie war, für die das Wort Kirch- meß bezeichnend ist, hat sich das Wort gehalten. Kirms ist aber doch der Markt mit seinem Kauf und Trödel, und Trinken, Tanz und Spiel, zu dem ursprünglich die Kirchmeß den Anlaß gab durch das Zusammenströmen so vieler Menschen. Als so eine Sache und ein Begriff sich neu gebildet, auf die das Merkmal Kirch und Meß nicht mehr bezeichnend anzuwenden war, konnte man das ganze Wort doch nicht mehr erhalten, ja ganz gab es eben feinen Sinn. Daß das neue Wort, das man eigentlich nötig hatte, so allmälich mit dem Wandel der Sache aus dem ursprünglichen hervorging, liegt ja wohl nahe. Daß es nun wirklich die lebendige Seele ist, und nicht das äußerliche Moment des schnellen Sprechens, das die Wortform modelt, kann man sich recht klar machen an einem täglichen Erlebnis. Gesegnete und Mahlzeit, werden zu gesegen Mahlzeit, g'fing' Mahlzeit, sing Mahlzeit,' Mahlzeit. Wann, wie? Man trete z. B. in eine Restauration ein; statt der schon gewohnten Gesichter sehe man neue und wenig sympatische; was wird man sagen? Sich ganz ohne Gruß an den Tisch sezen geht nicht wohl an. und gesegnet ganz voll und deutlich aussprechen geht gar zu sehr gegen die Stimmung, erschiene wohl als Lüge. So kommt heraus? Mahlzeit. Ein lieber Verwandter war lange frank. Mit dem so zarten Rot der Genesenen sizt er wieder hellen Blickes vor dem Teller. Boll freudigen Vertrauens auf die wiederkehrende Gesundheit hat er die Schüssel ziemlich voll genommen; mit innigem Anteil, herzlichem Wunsch und etwas Erstaunen sagen wir: Na, gesegnete Mahlzeit! Ebenso: Guten Abend, gu'n Abend, ge'n Abend, n'Abend. Wie aber das Sprachbewußtsein sich geradezu sträubt, eine alte, aber als Wort voll verständliche Form zu behalten, wenn man sie chrlicher Weise nicht länger für die Sache bezeichnend anwenden kann, läßt uns folgendes Beispiel erkennen. In Hamburg gibt es einen Marktplaz, der auf behördliche Anordnung ein Namenschild trägt mit der deutlichen Ausschrift: Großer Neumarft, wie er von altersher im Stadterbebuch genannt wird. Trozdem sagt selbst die„ Bildungs- Hochdeutsch" redende gute Gesellschaft„ auf dem Groß- Nemarkt," wo sie sonst doch„ neu" sagt. Warum? Erstens ist dieser Marktplaz jezt schon recht alt; das allein würde nicht genügen, das„ neu" zu verstümmeln, gäbe es im Gegensaz noch einen Altmarkt; der heißt aber seit langer, langer Zeit Fischmarkt; und selbst das groß" ist soweit unlebendig, daß es nicht mehr mit flektirt wird, weil sondern, auch seit längerer Zeit, Rödingsmarkt heißt. Wem dies Heimatsort ähnliche, ich möchte sagen Erlebnisse, hat, wird den Namen De- streich, und auch gewiß Dester- reich, wohl ebenso anſehen. Dem heutigen Schulmenschen, der in der Geschichtsſtunde aufmerksam war, ist, wenn er eigens darüber befragt wird, dies Wort wieder deutlich, nicht aber dem Volf. Als man mit dem Namen meinte östliches( Franken-) Reich, sagte man Ostar- richi, und hätte man es noch heute voll so im Sinn, man würde vom Ost- reich sprechen; zwar sprechen auch wir heute das heute- Rußland ist. Sagte man nun heute verständlicher Weise Ost- reich, so könnte man das verständiger Weise doch nur von einem gewiſſen Standpunkte aus, der aber doch Da nun die österreichisch- ungarische
Wem
39
Regierung ein Interesse daran hat, daß ihre Untertanen den richtigen Standpunkt auch in Gedanken nicht einnehmen, so wird sie gewiß nicht, obwohl sie mindestens einen Buchstaben sparte, für Verdeutlichung sein, die hier wahrlich Verdeutschung wäre. Die gegenwärtigen Einwohner der Provinz Holstein werden sich nicht mehr holt- seten( Holzfassen) nennen dürfen; ſie ſizen eben nicht mehr, wie einst die Väter, im Holz; wohin man sieht: Felder und Triften, und nur an besonders begnadeten Orten zum Schmuck, oder jagenden„ Herren" zum Vergnügen, hat man Schonung geübt. Ja, das alte Holzland ist heute die holzärmste aller deutschen Provinzen; während HessenNassau und Rheinpfalz über 35 Prozent ihrer Gesammtfläche mit Wald bestanden haben, hat Schleswig- Holstein unter 10 Prozent.
Wie Wort und Begriff zusammenhängen, kann man vielleicht recht deutlich an den Zahlwörtern elf und zwölf sehen. Betrachtet man nur das rechnerische Ergebnis, so ist ja wohl so ziemlich gewiß kein Unterschied zwischen altem einlif und heutigem elf; zwischen ehemaligem zuelif und gegenwärtigem zwölf. Aber auch für das jeweilige Sprachbewußtsein nicht? Man kann häufig Kinder beim Abzählen sich das sinnige Sprachvergnügen machen hören: sechs, sieben, acht, neun, zehn, einzehn, zweizehn, dreizehn, vierzehn 2c. zu zählen. Und ist da für ihren Sprachsinn nicht ein deutlicher Unterschied zwischen einzehn und elf, zweizehn und zwölf. Nicht am Ende so groß wie zwischen schweizerischem septante, octante und gemeinfranzösischem soixante- dix und quatre- vingt? Ob man nun das-lif für ein altes Wort, für zehn, hält, das mit litth. lika, zu lat. decem, zu stellen ist, so daß einlif 1+ 10, zuelif
2+ 10 wäre; oder ob man dafür hält, daß lif ein aus dem Plur. des Prät. des goth.-leiban( bleiben) entsprossenes, ur
sprünglich sächliches Substantiv sein könne und so die Deutung
cins darüber wäre, immer würde doch das ein die ihm eigene Vorstellung erwecken müssen, und so das einlif eine Operation angeben, wie ja vierzehn das tut, und nicht wie sechs, sieben, gleich das Resultat und nur als Resultat. Wenn man sich recht überlegt, was es eigentlich heißt: wir haben ein dekadisches Zahlensystem, so wird man zugeben müssen, daß wie man ein und dreizig, ein und vierzig 2c. sagt, man auch folge= recht ein und zehn oder einzehn sagen müßte, wie dreizehn, vierzehn c.; daß also die Kinder vom Standpunkte des lebendigen Sprachbewußtseins im Rechte sind, und daß elf, zwölf
ein Heraustreten aus dem dekadischen Zählsystem bedeuten. Bedenke man nur, daß so ein Zahlensystem nicht blos auf der Rechentafel des Matematikers zu finden ist, sondern auch im Leben, in der Art, wie man einzelne zu einer Gesammtheit zusammenfaßt, um sie hinterher auch wie Teile eines ganzen betrachten zu können. Erinnere man sich, wie zu der römischen Zahlentabelle der Grammatik es paßt, daß die Römer, als sie von Numa Pompilius zu ihren zehn Monaten noch zwei hinzu bekamen, dies feine undecember und duodecember, sondern januarius und februarius werden ließen; daß, als zur Zeit des ersten punischen Krieges sich ihre Wirtschaft erweiterte, sie Syſtem mit dem dekadischen vertauschten, indem sie nun Denare, ( von deni, je zehn), zum Werte von zehn Kupferassen prägten.
mit Einführung der Silbermünzen das alte fupferne dodekadische
Daß man zehn Einheiten zu einer Gesammtheit gern vereinigte, zeigen ferner die decem primi des Senats in Munizipien, die vier so ganz verschiedenen Behörden der decemviri, die Defurionen und Defurien und der nach seiner Meßstange von zehn Fuß( decempeda) decempedator genannte Feldmesser. Wie
aber unser einlif und zuelif sich allmälich gewöhnen mußten, statt 1 und 2 über eine Zehnergesammtheit zu sein, sich wie die zwei lezten in einer größeren Gesammtheit zu fühlen, kann man vielleicht erschließen, wenn man sich erinnert, daß Karl der Große für seine weite Herrschaft silberne Denare oder Pfennige prägte, von denen 12 Stück einen Solidus galten. Nach 1250 fing man an, da die deniers ſich arg verschlechtert hatten, eine dickere, stärkere Münze auszuprägen, Groschen( von grossus, dick) genannt, der aber wieder in 12 deniers oder