Ich hatte kaum einige Löffel Suppe zum Munde geführt, da brach das zürnende Geschick von neuem auf mich herein. Denn die Tür ward aufgerissen und mit fliegender Haube, in höchster Aufregung erschien die Frau Kontroleurin. Ich sah gleich, wieviel die Glocke geschlagen hatte, denn sie hielt einen Stoß Papiere in der Hand, den sie wie eine Trophäe wild in der Luft schwenkte. weh, es waren meine unglückseligen Verse, die ich an Fanny gerichtet hatte.
" Wo ist die Großmutter?" schrie das fürchterliche Weib, dessen Anblick auf mich nahezu eine Wirkung ausübte, wie das Haupt der Medusa auf die Feinde der Pallas Athene .
Die Großmutter erschien mit einem Tuch um den Kopf. und nun erzählte die Kontroleurin, wie man Fanny ordentlich ins Gebet genommen, diese aber alles geleugnet habe. Und da habe man ihre Sachen durchsucht und diese Verse gefunden. Zweifellos hätte ich durch meine Gaukeleien das Mädchen betört und sie vom Lernen abgehalten.
" Das scheint ja ein richtiger Taugenichts werden zu wollen," schloß das wütende Weib.
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Meine Großmutter sagte nichts mehr; sie hatte sich schon müde geärgert! Man brachte Petroleum und begoß die nach Rosen, Reseden und Veilchen duftenden poetischen Liebesergüsse meiner jungen Seele mit dieser häßlichen, übelriechenden Flüssig feit. Dann wurden die Verse ohne Erbarmen in den Ofen gesteckt, angezündet und dem doppelten Tode der Flammen und der Vergessenheit überantwortet. Ich sah stumm zu, wie die Kinder meiner Muse sich in Asche verwandelten. sie mögen ruhen in Frieden. Es
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Man ließ mich in der Schwebe. Jedenfalls hatte man die Absicht, einmal erst zu beobachten, wie ich mich bei der Konfirmation selbst benehmen werde. Denn mich von der Konfirmation auszuschließen, so weit wollte man die Sache doch nicht kommen lassen und konsequenterweise durfte man es bei Fanny auch nicht tun.
So hatte ich also Chancen, mich bei der Konfirmation selbst wieder einigermaßen zu rehabilitiren, aber auch die Unannehmlichkeiten meiner Situation waren bedeutend gestiegen. Denn nun mußte ich Gott und die Welt erst recht um Verzeihung bitten; bei all den über mein Pech hämisch lächelnden Tanten und Basen männlichen und weiblichen Geschlechts mußte ich reihum gehen und um Vergebung meiner Sünden flehen.
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Die arme Fanny sah ich inzwischen nur ein einzigmal. Sie begegnete mir vor dem Hause und hatte wieder rot geweinte Augen. Sogar ihre lange Nase hatte etwas rötlichen Glanz angenommen. Sie warf mir einen tieftraurigen Blick zu, der mir zu sagen schien: Wie muß ich um dich leiden!" Ob Fanny mit dem väterlichen Stock in entwürdigende Berührung gekommen, wußte ich nicht; aber als ritterlicher Liebhaber geriet ich schon bei diesem Gedanken in den heftigsten Zorn und schwur bei meinem künftigen Barte, diese Unbill zu rächen,
Das alles aber hielt das Heranrücken der verhängnisvollen Zeit, da sich zeigen sollte, ob ich noch besserungsfähig sei, nicht auf. Am Sonnabend, welcher dem für die Konfirmation be
stimmten Sonntag voranging, hatte ich den großen Bittgang
zu unternehmen.
Am gefährlichsten schienen mir zwei Onkel, von denen der eine Stadtpfarrer, der andere Obereinnehmer war. Diese beiden Brüder hatten die merkwürdige Eigenschaft, daß sie beide heftig stotterten, und es war sehr erbaulich mitanzuhören, wenn sie im Gespräch in die Hize gerieten. Böse Zungen hatten früher behauptet, der Onkel Stadtpfarrer habe das Stottern bei einer besondern Gelegenheit plözlich gelernt. Als nämlich 1848 ein großer Trupp Freischaaren in meiner Vaterstadt Quartier nahm, erschienen viele derselben an dem großen Brunnen, der vor dem Pfarrhause steht, und schliffen ihre Säbel auf dem Rande des
Requiescant in pace war auch recht gut so. Ich wagte in den nächsten Tagen kaum mehr mein Zimmer zit verlassen; einigemal schaute ich hinüber nach Fannys Fenstern, aber auch dort war alles still. Die Welt schien mir wie aus gestorben; alle bekannten Menschen kamen mir wie verändert vor. Die Einsamkeit lehrt nachdenken, ich sann und sann, ob mein Vergehen denn wirklich so groß war, um des Lärms, den man seinetwegen erhob, wert zu sein. Meine Erziehung verSache erkannte; ich konnte mich noch nicht zu dem Verständnis Brunnentrogs. ein Verbrecherbewußtsein in mir. Nur überkam mich ein dunkles schaft eines Systems, einer Anschauungsweise zwingen wolle, homerisches Gefühl, eine Art Ahnung, als ob man mich unter die Herr
jehnen.
Brunnentrogs. Mein Onkel sah diesem Treiben aus dem
Pfarrwohnung zu. Plözlich erhob einer der Freischürler seinen Säbel und rief, indem er die Klinge im Sonnenstrahl funkeln ließ:„ Pfaff, der ist für dich!" Ein Gelächter begleitete dieſen Scherz- denn ein es offenbar- mein Onkel aber verschwand eiligst
und versteckte sich in der Bodenkammer, bis die Freischaaren wieder abgezogen waren. Die bösen Zungen flüsterten nun, er
ich begann mich nach Freiheit, nach freieren Lebensformen zu Bein geschmiedet, und ich mußte sie nachschleppen. Wenn meine stotterte er nicht, da er sehr langsam und salbungsvoll sprach. Aber die Galeerenkugel der Abhängigkeit war fest an mein habe von dem Schreck das Stottern bekommen. Auf der Kanzel Großmutter mich nun nicht studiren ließe! Die Drohung mit dem Besenbinderlehrling nahm ich nicht ganz ernst, aber- wer fonnte es wissen, wie weit der Fanatismus einer nur pietistischen Neigungen lebenden alten Frau gehen würde?
Es war gut, daß sein Bruder später sich am gleichen Ort niederließ; der Bruder stotterte auch und bewies dadurch, daß das Stottern ein den beiden angeborenes Uebel war. So wurde die Mär von der bösartigen Wirkung des FreischaarenSäbels widerlegt.
Ich warf mich in meinen Sonntagsstaat, um meinen Schmerzensgang anzutreten. Dabei dachte ich an den Wahlspruch des tapfern Majors von Schill:„ Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende!" und beschloß, die schlimmsten Ver
Man hielt eine Art Familienrat, vor welchem ich als armer Sünder erscheinen mußte. Von meinem Herrn Stiefvater lag ein Brief voll verständlicher Anspielungen auf Haselstöcke und Bambusrohre vor, die mir es im höchsten Grade praktisch erscheinen ließen, in diesem Augenblicke möglichst fern vom teuren Baterhause zu sein. Ich mußte im Familienrat niederschmetternde wandten vorweg zu nehmen. Bußpredigten anhören, und meine Augen suchten scheu den Boden, während die meiner Großmutter mit verklärtem Schmerz zum Himmel aufgeschlagen waren. Zum Schluffe einigte man sich
Zuerst erschien ich beim Onkel Stadtpfarrer.
„ Ah, der Aloys Freut uns, daß du an uns denkst." Der gute Onkel schwieg zuhause gern, denn hier führte seine
dahin, in Anbetracht meiner früher leidlich guten Führung mir bessere Hälfte das große Wort, und er pflegte sich dem in noch Gelegenheit zur Besserung zu geben. Ueber meine Dua
Demut zu fügen. Die Frau Stadtpfarrerin aber war stets
Ilifikation zum Teologen waren die Meinungen immer noch aufgelegt zu Bußpredigten, denn sie hatte eine 37jährige Tochter zwar, wer zur Konfirmation nicht einmal die zehn Gebote kenne niemand das Mädchen nehmen wollte, so ward ihre Mutter der geteilt. Eine jungfräuliche Tante in sehr reifem Alter meinte auf Lager, die sie gern an den Mann gebracht hätte. Da aber und in dem Alter schon so verdorben sei, Liebesgedichte zu
machen, der werde ein schlechter Pfarrer werden; allein man
ganzen Männerwelt Feind und der arme Stadtpfarrer mußte das häufig genug empfinden. So hatte auch ich eine lange,
wendete dagegen ein, daß man auch dem verstocktesten Menschen lange Predigt der lieben Tante anzuhören, worin die frühzeitige Gelegenheit zur Besserung geben müsse. So ging der Familien- Zuneigung zu dem andern Geschlecht als eine Todsünde darrat auseinander, ohne einen definitiven Beschluß gefaßt zu haben. gestellt ward.
Rr. 6. 1884.