Unsere Illustrationen.

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Brücke über den Tessin bei Faido . Zwischen den Gletschern der schweizerischen Hochgebirgswelt und der sonnenglühenden lom­bardischen Ebene liegt wie ein prächtiger Park das Land der italie­ nischen Seen, ein mit allen herzerfreuenden Reizen geschmücktes, in Licht und Luft gesegnetes Land. In dieses Land streckt der Kanton Tessin seine Hand, und eine üppig- spendende Natur füllt sie ihm mühelos mit den köstlichsten Gaben dieser Zone. Die heiße Sonne, welche drückend und erschlaffend über die lombardische Ebene hinscheint, mildert hier ihre Wärme, ohne ihr Licht zu schwächen, und verdoppelt ihre befruchtende Kraft. Sie umkleidet die Berge und Hügel mit schat­tigen Laubwäldern, Felder und Wiesen schwellen von Reichtum, an den Hängen spendet der Nuß- und Kastanienbaum seine Frucht, ranken die Reben an Maulbeerbäumen, während die Gärten im rosigen Schmuck der Pfirsiche und Mandeln blühen und im Sommer der Feigenbaum seine goldenen Früchte ansezt. Das ist der Süden des Kantons, der bei Bellinzona seine Grenze erreicht. Von da ab nimmt das Land bald wieder nordischen Karakter an, es beginnt das tessinische Alpenland mit schroffen Höhen, wilden Wasserstürzen und überall

auftauchenden Gletscherblicken. Die südliche Vegetation bleibt zurück und auf den Vorbergen erscheinen die eigenartigen Berggüter. Hier geizt die Natur wieder mit ihren Gaben, oder läßt sie sich nur ver= drossen abringen. Darum wohnt die Armut an der Straße, denn der trägere Geist der Bewohner kämpft nur lässig gegen dieselbe an. Ri­viera heißt das Ufer des Flusses von Bellinzona bis zur Mündung des Blegnotales, was deutscher Mund mit Reviertal zu verdolmetschen pflegt. Dieser Fluß ist der Tessin , der Ticinus der Alten, er gab dem Kanton seinen Namen. Ein Kind der lepontinischen Alpen, wan­delt er gegen Süden, um, nachdem er sich mit der Moësa vermählt, zum Läuterungsbad in den Lago maggiore zu steigen und dann den Bater Po aufzusuchen. Den Tessin entlang führt die Weltstraße des Gotthard durch das an Schluchten, wilden Felsbildungen, Wasserfällen und tausend landschaftlichen Schönheiten überreiche Tal, und die Ort­schaften dieses Tals sind wohl das einzige, was der Sommerreifende vom Norden zu sehen bekommt, der das westliche Paralleltal, das Val Maggia , nur selten in den Bereich seiner Wanderungen zieht. Der Kanton Tessin besteht ihm in den Namen Gotthard , Airolo , Faido , Biaska, Bellinzona , Lokarno und Lugano , und damit hat er denn auch so ziemlich die Hauptsachen getroffen. So gewährt ihm der Kanton

Brücke über den Tessin bei Faido .

Tessin das Bild einer unterhaltenden Straße mit anmutigen Schatten­und Ruhepunkten daran. Doch fühlt man sich hier nicht so recht im Schweizerland. Himmel, Boden, Bauart, Bolt, Sprache und Leben haben anderen Karafter, und der kitt, der das Tessin an das staatliche Gebäude der Eidgenossenschaft bindet, scheint überall aus den Fugen gefallen vor der Sonne Italiens . Ist der Schweizer im großen Ganzen ein Gebirgsmensch, so ist der Tessiner ein Talmensch, dem Kraft und Energie unter dem langen Druck einer trübseligen Geschichte abhanden gekommen. Dreihundert Jahre lang wurden die sogenannten Ennet­bergischen Vogteien" mißhandelt und ausgesaugt als unter hartem übermütiger Launen der Geschichte wurde der Ticinese zwischen den geschleudert, so oft deren Fluten hier zusammenstießen und böse Bran­dungen erzeugten. Der Kanton ist ein Grenzland, hier liefen die Grenzen Desterreichs, Piemonts, der Schweiz zusammen, und es heißt nicht mit Unrecht, daß jede Grenze demoralisirend wirkt. Die ersten politischen Schuhe sind noch nicht durchgelaufen, woher sollte dem Tessiner der hochpatriotische Schweizergeist fommen, wie er den Urkantonen eigen? Aber er kann ihm unter dem Banner der Eidgenossenschaft anerzogen

werden.

das vom Gotthard herab bis an den Zusammenfluß des Brenno und Faido , ein kleiner Ort mit 50 Häusern, liegt im Livinental , Ticino bei Biaska reicht, und dem der Tessin mit seinen Gefährten und die Gotthardstraße das Leben gibt. Der Reichtum wohnt nicht in diesem Tal, daher suchen die Männer vielfach ihr Heil in der Fremde.

Man trifft den Ticinesen, von einer Wanderunruhe wie die Zugvögel beseelt, auf allen Landstraßen Europas und in allen großen Städten als Kesselflicker, Schornsteinfeger, Lastträger, Kastanienröster, Küfer, Kellner, oder auch als Maurer, Steinmez, Glaser, Dekorationsmaler. Unter­dessen sind die Weber auf den Aeckern und Wiesen tätig oder sizen in trübseligen Stuben und weben, aber auch von ihnen ziehen viele hinaus.

Bei Faido stehen eine Anzahl prächtiger, uralter Nußbäume, welche in dem Aufstand, in welchem die unglücklichen Liviner das Joch ihrer Urner Zwingherrn, von denen sie die hochmütigste Behandlung erfahren, abzuschütteln versuchten, eine traurige Rolle spielten. Das war im

Jahre 1755. Ein geringer Anlaß entzündete in ihren gedrückten Herzen

die Flamme des Aufruhrs. Aber noch war es zu früh, die umsichtige

Leitung fehlte, und so wurden die Urner und ihre Verbündeten, die

über den Gotthard Herrückten, gar bald Herren über die Aufständischen. Das Liviner Volk mußte darauf am 2. Juni nach Faido kommen. Es fam 3000 Männer stark. Die Schaaren der Eidgenossen umringten die Menge, die jezt barhaupt und knieend unbedingten Gehorsam schwören mußte. Knieend mußte es der Hmrichtung seiner Führer beiwohnen, die an eben jenen Nußbäumen aufgeknüpft wurden. Leid und Ent­sezen im Herzen kehrten sie in ihre armen Hütten zurück. Die Skla­verei aber wurde ärger denn vorher.

Die ganze Landschaft hier herum hat etwas Düsteres, Unheim­liches. Wie ein Bann liegt es auf ihr, und der Mensch, im Kampf mit den Elementen großgezogen, der Enkel einer wüsten Geschichte, ist auch ernst und schweigsam.

Oberhalb Faido wütet der Tessin mit dämonischer Gewalt zwischen