Ein Ehepaar.
( Schluß.)
Was ich jezt noch zu erzählen habe, habe ich nicht selbst mit erlebt, sondern erst später durch Freunde und Zeitungsnachrichten erfahren.
Am nächsten Morgen 5 Uhr erwachte Bill und obgleich der Kopf ihm recht schwer war, schlüpfte er doch in seine Kleider, ging in den Hof, wo in einem kleinen Stall sein Esel und Karren stand, schirrte an und fuhr nach Spitalsfield Market, um seinem Geschäft nachzugehen.
Sobald er wieder auf seinem Karren saß, erinnerte er sich all seiner Borjäze, daß er noch einmal Droschenkutscher werden wollte mit eigenem Pferd und Wagen und seiner Polly das Leben so angenehm als möglich machen möchte; daß er sie schon gestern Abend geschimpft hatte oder gar hatte schlagen wollen, wußte er garnicht; gesagt hatte sie es ihm nicht, sie schlief noch fest, als er fortging; er störte sie auch nicht, wozu auch?
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Während der nächsten paar Monate ging alles so ziemlich gut, von Zeit zu Zeit verzürnte sich Bill einmal mit seiner Polly, was dieser dann gewöhnlich ein blaues Auge eintrug, doch wurde immer bald wieder Friede geschlossen und das momentan verunzierte Auge war bald wieder gesundet und auch vergessen.
Eins nur machte Bill manchmal besonders verdrießlich, doch glücklicherweise stimmte Bolly in diesem Punkte mit ihrem Manne überein, seine Schwiegermutter fonnte er nicht leiden, denn erstens hatte sie ihr Wort nicht gehalten, das als Hochzeitsgeschenk versprochene Waschgeschirr war nie gekommen, und zweitens hatte sie die üble Gewohnheit, immer Sonntags gerade zur Mittagszeit zum Besuch zu kommen.
Das war fatal, man mußte ihr doch einen Plaz am Tisch anbieten, und dann hatte sie immer einen gesunden Appetit, was gewöhnlich die Portionen für Bill und Polly bedeutend verkleinerte.
Doch man mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, denn ungefähr vier Monate nach der Hochzeit schenkte Polly ihrem Bill einen kleinen Sohn und da konnte man die Mutter gut gebrauchen.
Dieser Gang der Dinge ist hier etwas sehr gewöhnliches; der einzige Unterschied zwischen Bill und Polly und andern jungen Leuten bestand eben nur darin, daß sie vier Monate vor der Geburt des Kindes zum Standesamt gegangen waren.
Bolly war natürlich überglücklich und stolz auf ihren Sohn und trug ihn, sobald sie nur erst wieder genesen war, bei all' ihren Freun dinnen herum, welche das kleine Ding natürlich alle allerliebst fanden, jo daß Polly zulezt wirklich glaubte, sie besize das schönste und feinſte Baby( Beebi) in ganz London .
Fein war es in der Tat, nur zu sein, so das man wohl schwerlich an das Gedeihen des Kindes denken konnte, wenn nicht die allergrößte Sorgfalt angewandt wurde, und was verstand davon die arme Polly, das sechszehnjährige Ding; und wenn sie es verstand, konnte sie diese Sorgfalt üben, verfügte Bill über die notwendigen Mittel? Sicher
lich nicht.
Und imgrunde genommen, war denn soviel an dem Aufwachsen bon Pollys Liebling gelegen? Was ist denn in der Regel das Loos dieser Kinder der Armen, der ganz Armen?
Folge davon Krankheiten; als Kind Einsamkeit und Wandern von Als Säugling unverständige Behandlung seitens der Mutter, als Hand zu Hand, weil Mutter wie Vater arbeiten müssen; als Mann Armut, vielleicht Laster und endlich Galgen oder Gefängnis, im glücklichsten Fall das Armenhaus.
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glaubte, daß in die Baterfreuden doch einige recht bittere WehrmutsEinige Wochen waren vergangen, als Bill plözlich wahrzunehmen
tropfen gemischt seien.
ihn war es schon eine„ tleine Kröte", die ihn Nachts nicht schlafen ließ Seine Schwiegermutter und andere nannten es den„ Segen", für
und soviel Geld kostete.
beste Kleider wanderten zum Pfandleiher, um nur für den„ Kleinen" Das Geld konnte er gar nicht alles aufbringen, seine und Pollys eine Saugflasche, etwas Leinwand u. s. w. kaufen zu können.
Bolly suchte zu allem diesen das beste Gesicht zu machen, sie hungerte selbst, um nur das Notwendigste für den Liebling anschaffen zu können, ohne dafür immer Geld von Bill verlangen zu müssen. Zeit Polly den fleinen Sohn nicht mehr so oft ihren Liebling nannte, So ging der Kampf ums Dasein fünf Monate fort, um welche Bill ihn aber geradezu als eine Last betrachtete.
Unterdes hatte sich der November bemerkbar gemacht, und zwar
Eines Abends saßen Bill und Polly am Kamin, in dem ein tüchtiges Feuer brannte, das jedoch seine Wärme nur höchstens zwei bis drei Fuß im Halbkreis um den Kamin verbreitete, im übrigen war das Zimmer kalt und ungemütlich.
Draußen war recht schlechtes Wetter, der Wind heulte und pfiff falt zu allen Fenstern und Türrizen herein, weshalb denn Polly auch so nahe als möglich ans Feuer rückte, um wenigstens das Baby möglichst warm zu halten.
Sie sprachen gerade von Weihnachten , sie sprachen jezt kaum etwas anderes; Polly erzählte ihrem Bill, wie sie die Gans zubereiten würde, und dieser hörte andächtig zu und schnalzte ab und zu mit der Zunge, als hätte er schon den fetten Bissen im Munde. Da ging plözlich die Tür auf und herein trat Joe, Bills Stalljunge, ein Kind von zwölf Jahren, eins jener unglücklichen Geschöpfe, die nie Vater oder Mutter gekannt haben und buchstäblich auf der Straße aufwachsen. Joë hatte zumteil vom Mitleid, zumteil vom Mundraub gelebt, schlief in offen gelassenen Torwegen oder unter Eisenbahnbrüden, bis ihn eines Tages Bill fand und ihn aus Mitleid mitnahm. Von da an hatte er ,, Engagement". Bill gab ihm vier Pence pro Tag und erlaubte ihm außerdem mit dem Esel den Stall als Schlafstelle zu teilen. Welch' Glück für den armen Kerl; er war auch erkenntlich dafür und hing mit rührender Treue an Bill und seinem Esel.
Man sah es ihm an, als er eintrat, er hatte seinem Herrn nichts Gutes zu melden; sein Blick, voll Schrecken und Trauer, schien sagen zu wollen: nun muß ich wohl wieder auf die Straße gehen.
Endlich trat er einen Schritt näher zu Bill und preßte die Worte hervor:
„ Master, unser Esel liegt im Sterben, es scheint ihm sehr schlecht zu sein."
Als wenn eine Natter plözlich Bill gebissen hätte, so sprang er auf von seinem Stuhl und war auch schon in der nächsten Minute im Stall.
Da lag der Esel, sein ganzes Kapital, zähneklappernd und vor Frost den ganzen Körper schüttelnd; offenbar, es war feine Hilfe mehr, nur noch wenige Minuten und das arme Vieh hatte seinen lezten Atem ausgehaucht.
Polly war ihrem Manne gefolgt, auch Charley, der Kompagnon, war gekommen, und so standen sie alle um das Strohlager, um das Sterbelager des Esels.
Joe war niedergefniet und streichelte den Hals des armen Tieres. Sein bester Freund, mit dem er seit einigen Monaten das Nachtlager geteilt hatte, lag im Sterben, und sein Sterben bedeutete für ihn wieder die ärgste Not und das schlimmste Elend.
Auch die andern hatten ihre Hoffnung auf den Esel gebaut, er sollte ihnen durch den Winter helfen, ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest schaffen. Jezt war er tot.
Am nächsten Morgen wurde Rat gehalten und beschlossen, da das Geld zum Ankauf eines neuen Esels nicht aufzutreiben war, das Kompagniegeschäft aufzulösen und das Inventar zu verkaufen.
Was nun machen, das war die große Frage, die es zu entscheiden galt.
Charley, Bills Kompagnon, war schnell entschlossen, er kaufte sich einen Schuhwichskasten, Bürsten 2c. und etablirte sich an einer Straßenecke neben einem Wirtshaus als Schuhpuzer, nachdem er sich dazu die polizeiliche Erlaubnis eingeholt hatte.
Bill hatte andere Pläne, er meinte, er müsse eine Stelle suchen und finden, als Hausknecht, Ausläufer oder irgend dergleichen.
Der arme Junge wußte nicht, wie schwer es in London fällt, eine solche Stelle zu suchen, zumal die erste Stelle, ohne Zeugnisse, ohne Empfehlungen und dazu obendrein im Winter.
Bier lange Wochen hatte er Tag für Tag gesucht, ohne Erfolg, überall vertröstet oder abgewiesen.
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Sein sehr kleines Kapital war troz aller Sparsamkeit bald aufgezehrt, da endlich fand er Arbeit.
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Ein mitleidiger Teaterdirektor engagirte ihn als wandelnde„ Litfaßsäule". Bwei Plakate auf Bretter geklebt wurden ihm an Riemen über die Schultern gehängt, so daß eins am Rücken, eins vorn über der Brust herunterhing. So mußte er durch die Straßen wandern, um dem Publikum die Teateranzeigen entgegenzutragen.
Das war zwar feine Hausknechtsstelle, aber es war doch etwas, er bekam dafür pro Tag einen Schilling.
Einen Schilling pro Tag und davon Frau und Kind ernähren- in London .
Keine Feder kann beschreiben, was das heißen will.
Wo waren all die schönen Hoffnungen hin, wo die Gans und das Bier für Weihnachten !
Hunger war das Loos für Bill, Hunger für Polly und den kleinen
in einer recht unangenehmen Weise, so daß man auf einen ziemlich Liebling".
harten Winter rechnen konnte.
So ging es einige Wochen fort, der arme Bill hungerte, er war
chen arbeitete mit aller Anstrengung und hatte schon die hier schon so schwach, daß er kaum noch die Bretter tragen fonnte, ſeine
Er war einem Gänseklub und einem Bierklub beigetreten, wodurch
Polly und das Baby verkümmerten vor seinen Augen mehr und mehr und er hatte sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, ins Armen
ihm die Möglichkeit wurde, gegen einen kleinen wöchentlichen Beitrag haus zu gehen, wenn es ihm nicht bald gelänge, mehr zu verdienen.
zu Weihnachten eine fette Gans und eine Gallone Bier zu bekommen, so daß, wenn ihnen nicht geradezu ein besonderes Unglüd zustieß, sie ein vergnügtes Weihnachtsfest seiern konnten.
Es sollte anders tommen.
Da endlich in der ersten Woche des Dezember fand er einen Freund, der ihm helfen wollte, aber nicht ohne Bedingungen. Bill hatte sich lange gefträubt, aber immer wieder sah er seine hungernde Polly, ſein dahinfiechendes Kind vor sich. Da endlich gab er nach.
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