Er will ihn aufsuchen, will ihm den Brief vorhalten, will ihn zwingen ihn zu lesen, Zeile für Zeile, Wort für Wort, und er will ihn dann fragen, ob er wirklich glaube, daß er seiner Mutter nichts schuldig geblieben sei.

Er greift nach seinem Rock und Hut; unwillkürlich sieht er nach der Uhr, es ist Mitternacht.

Er kann nicht daran denken, den Baron zu Hause zu finden, der ist auf der Soirée der Fürstin. Gleichviel, er will dahin, er will ihn dort aufsuchen, und Aug in Aug, öffentlich und vor allen, will er ihn des Treubruchs anklagen und der Verführung. Da bricht er plözlich in ein lautes, hohnvolles Lachen aus.

Er will ihn anklagen? Wessen anklagen, und vor wem?!

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Wegen eines Verbrechens, das alltäglich ist, vor einer Gesell­schaft, die es gleich einem Privilegium offen betreibt und sich dessen noch rühmt? Und war es nicht ein Organ der öffent­lichen Ordnung und Sittlichkeit gewesen, das der alte Baron damit betraut hatte, der Verlassenen jenen schändlichen Antrag zu machen, der ihr eine Abfindungssumme sicherte, sobald sie den Vater verleugnete und lügnerisch sich selbst zur Meze be­kannte?

In dieser Gesellschaft ist der Verführer ja unantastbar, auch vor dem Geseze, und er bleibt in Ehren und Würden nach wie vor. Und wenn er jezt unter sie trete mit seinem verzerrten Antliz, mit seinem verwirrten Haar, und wenn er den Brief laut verlesen würde, man würde die Geschichte nur amüsant

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Schloß Chillon am Genfersee.

finden, und vielleicht auch skandalös. Skandalös nur von seiner die bisher an die vornehme Welt ihn noch gefesselt, losgerissen

Seite, in der Hintansezung aller Form, in der Verlegung des gesellschaftlichen Anstandes. Er würde diesen Hyänen die Mutter preisgegeben haben, der Baron aber, den sein Renommée, als Unwiderstehlicher, gleich einer Aureole umgibt, den diese Damen darum anbeten, er würde zu dem allen nur die Achseln zucken. Er hätte ja Recht, was die Gesellschaft tolerirt, in der man lebt, das tolerirt man selbst, und es gibt kein anderes Gewissen als die öffentliche Meinung.

Arnold warf den Hut von sich.

Nein, nicht heute, nicht vor dieser Gesellschaft wird er ihn zur Verantwortung ziehen, aber der Augenblick wird kommen, und er wird ihn beschleunigen helfen.

Von diesem Augenblick ist er losgelöst von allen Beziehungen,

von allen Banden, die ihn an den Vater geknüpft, jezt gehört er voll und ganz jenen Enterbten an, jenen Rechtlosen, deren Sache er bisher, nur von seinem tiefen Rechtsgefühle geleitet, vertreten hatte, zugleich in dem fast unbewußten Drange, der

Menschen einer Zeit ergreift und zum Handeln drängt. Jezt

ist er ein Proletarier wie sie.

Arnold hatte sich wieder dem Fenster genähert, er scheint

verwandelt.

Seine Brust hebt sich hoch unter schweren Atemzügen, seine Hände sind geballt, und seine Augen brennen in einem Feuer, das seiner weichen milden Natur bisher fremd war, in dem Feuer eines wilden verzehrenden Hasses.

( Fortsezung folgt.)