gepflegt, und nun erzählten sie ihr, daß der Hausadministrator die Begräbnißkosten bestritten habe und dem jungen Mädchen die Erlaubnis erteilt, noch vierzehn Tage dazubleiben, nach welcher Frist die Wohnung jedoch geräumt werden müsse.
Violette nickte zu alledem mit dem Kopfe: sie verstand, daß sie ganz allein auf der Welt stand.
,, Wo ist Marco?" frug sie, ihres einzigen Freundes gedenkend.
" Der ist bei mir," antwortete die Portierfrau, ich habe den braven Pudel sehr gerne. Er hat aber so viel geheult, daß ich ihn von hier entfernte, damit Sie Ruhe hätten, Mademoiselle." " Bringen Sie mir ihn, ich bitte," bat Violette. „ Gern, armes Fräulein."
Und das gute alte Tier wurde herbeigeholt. Es stürzte auf Violette los und leckte ihre Hände. Die Waise schlang ihre Hände um Marcos Hals, grub ihr blasses Gesicht in seine Mähne und weinte da lange, lange, die ersten lindernden Tränen nach ihrem großen Verlust.
Nach zwei Tagen konnte sie aufstehen. Sie entließ die Wärterin und bezahlte sie mit einem goldenen Armband, das sie noch von ihrer Mutter hatte. Dann ging sie aus, Arbeit suchen. Sie trat in mehrere Kunstblumenläden und trug sich an, doch wurde sie überall mit dem Bescheide abgewiesen, man brauche niemand. Dazu nickte Violette immer schweigend und ergeben das Köpfchen und ging weiter. Es war, als paßten ihr die abweisenden Antworten sie fühlte sich so furchtbar unglücklich, daß es ihr eine eigene Genugtuung gewährte, das Maß ihrer Leiden sich häufen zu sehen.
Dennoch ging sie zu Madame Mortin, der Portierfrau, sich Rat zu holen, und übergab derselben noch ein leztes Schmuck stückchen mit der Bitte, es für sie zu verkaufen.
Madame Martin brachte dem jungen Mädchen dreißig Franken für das Geschmeide, und gab ihr den Rat, sich behufs Arbeit an ein Arbeitsvermittlungsbureau zu wenden und ein Inserat in die ,, Petites annonces " zu schicken.
Violette tat wie man ihr sagte, jedoch erfolglos. Die Einlagsumme im Bureau sowie die Insertionsfosten schmälerten arg ihr kleines Kapital, und die Zeit fam immer näher, wo sie ihre Wohnung verlassen mußte. Sie faufte täglich nur ein Laibchen Brod für sich und ein paar Knochen für Marco.
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Madame Martin kam auf den Einfall, dem Zirkusdirektor Violettens Lage mitzuteilen, doch die Truppe, zu welcher Bernard einst gehörte, hatte vor einer Woche Paris verlassen und war nun in Holland oder Belgien , man wußte es nicht genau an zugeben.
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Immer noch kamen keine Anträge aus den Blumenhandlungen.
digungen über Sie einholen?" fragte die Dame vom Comptoir. „ Nirgends," mußte Violette antworten.
" Dann werden Sie schwerlich einen Dienst finden, und ich werde Sie keinesfalls plaziren. Nehmen Sie Ihr Geld zurück."
Violette versuchte es mit einem anderen Bureau. Dasselbe Resultat. Sie wußte sich nicht mehr zu helfen. Die drei Franken dauerten noch einige Tage, und ihr Ausziehtermin war gekommen.
Sie hatte noch zwanzig Sous in der Tasche, die lezten. Morgen oder übermorgen musste sie, um zu essen, die Hand nach Almosen ausstrecken. Gegen Abend ging sie mit Marco aus, einige Einkäufe zu besorgen.
Beim Nachhausegehen trat sie in die Loge der Portierfrau. „ Keine Briefe, feine Nachrichten für mich da, Madame?" Wieder nichts, Fräulein Violette."
"
Madame, ich habe eine Bitte an Sie. Möchten Sie so gut sein, meinen Marco heute Nacht bei sich zu behalten? Er fommt immer an mein Bett und weckt mich aus dem Schlafe - und ich möchte einmal ordentlich ausruhen."
" Ja, ja, Mademoiselle, lassen Sie mir den Hund da, Sie brauchen wirklich einmal Ruhe, armes Kind. Es ist ein recht grausames Schicksal-morgen ist Ihr Termin, nun ich hoffe man wird Ihnen die kleine Wohnung lassen."
" Ja, ja, man wird mir meine kleine Wohnung lassen... " Und was haben Sie da in dem Körbchen, unter Ihrem Shawl sind das Ihre Provisionen?"
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" Ja, meine Provisionen. Gute Nacht, Madame." Und Violette reichte der freundlichen Frau die Hand. Dann kniete sie neben Marco nieder und füßte das treue alte Tier auf die schwarzen Lippen. Madame Martin glaubte zu bemerken, daß dabei Tränen von den Wangen des Mädchens auf das wollige Haupt ihres Pudels fielen, doch Violette erhob sich rasch und eilte die Treppe hinauf.
In ihrem Zimmer angelangt, verschloß sie sorgfältig Türen und Fensterläden, steckte ein Licht an und packte die Provisionen aus ihrem Körbchen. Es waren Kohlen. Diese zündete das arme Kind an und legte sich dann zur Ruhe. Sie war so müde und ermattet von den Kämpfen und Schlägen der lezten
Zeit.
"
Mein Gott," betete sie leise,„ verzeihe mir, wenn ich eine Sünde tue ich habe ja alles, alles verloren und nichts zu hoffen. Ich hätte vielleicht noch ringen sollen, aber die fremden Menschen sehen mich kalt und hart an mit den vielen Augen
und ich bin so furchtsam!"
Des andern Morgens, als Madame Martin nach wieder holtem Klopfen an Violettens Tür keine Antwort erhielt, und die Tür schließlich aufgebrochen wurde, fand man das kleine
Da entschloß sich Violette wieder auf Madame Martins blasse Mädchen entseelt auf seinem Bette liegen. Die Fenster
Rat
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sich als Dienstmagd zu verdingen.
Nun ging sie in ein Stellenvermittlungsbureau. Sie legte ihre lezten drei Franken als Einschreibegebühr auf das Pult. " Wo haben Sie schon gedient, und wo kann man Erfun
wurden aufgerissen und es strömten Sonnenstrahlen und Früh
lingsdüfte herein.
Aber zu spät:„ Das Veilchen", wie es in dem wehmütigen Mendelssohn'schen Liede heißt,„ das Veilchen war tot".
Der Somnambulismus.*)
Von Karl du rel.
( Aus der Gegenwart", Nr. 19 vom 10. Mai 1884.)
1. Der natürliche Somnambulismus.
Wenn der Naturforscher einen Körper wissenschaftlich defi
und faratteriſiren will, jo genügt es nicht, diejenigen Eigen
Weise unterwerfen der Physiker und Chemiker die Körper dem Experimente, in dessen besonderen Anordnungen an den Körper die Frage gestellt wird: was bist du? Der Körper aber antschaften aufzuzählen, die er unter normalen Umständen zeigt. wortet durch die Art und Weise, wie er auf die ihm aufge drungenen Umstände reagirt.
Diese Umstände müssen vielmehr so lange künstlich abgeändert werden, daß ihm dadurch Gelegenheit geboten wird, auch seine
Der Mensch, das interessanteste Naturobjekt, aber auch das gewöhnlich verborgenen Eigenschaften zu verraten. In dieser größte Naturrätsel, hat troz jahrtausendlangen Streites seine
*) Wir drucken diese Abhandlung aus der Feder eines der geistvollsten Naturwissenschafter der Gegenwart ab, indem wir darauf hinweisen, daß dieselbe ihr hochinteressantes Tema einem Gebiete eutnimmt, auf dem die Wissenschaft unsrer Tage eben zu unberechenbaren Fortschritten Anlauf nimmt. R. d. N. W.
wissenschaftliche Definition nur darum noch nicht gefunden, weil er fast ausschließlich in seinem Normalzustande studirt wurde, aber nicht durch Abänderung der Umstände dem Experimente
unterworfen wurde.
Es wird das nicht immer so bleiben. Unsere Enfel werden