Experimentalpsychologie treiben, wie wir Experimentalchemie, und sie werden vielleicht das Rätsel des Menschen lösen, indem sie durch Abänderung seiner normalen Umstände ihn zu Tätigkeitsweisen veranlassen, die sonst latent bleiben und uns Aufschlüsse geben über unsere Natur.
In welcher Weise fann nun aber durch Abänderung der Umstände der psychische Normalmensch zu abnormen Funktionen gebracht werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst wissen, auf welchem Umstande der psychische Normalzustand beruht.
Der psychische Normalmensch ist farakterisirt, wenn wir wissen, welche Einwirkungen von Seite der Naturdinge er aufnimmt und in welcher Weise er auf diese Einwirkungen zu reagiren vermag. Seine Empfänglichkeiten müssen wir kennen und seine Tätigkeitsweisen. Diese beiden Faktoren bilden den psychischen Menschen und stehen zu einander in genauem Verhältnis: Jemehr Empfänglichkeiten, desto mehr Tätigkeiten. Immer jedoch können von den Natureinflüssen, denen der Mensch unterworfen ist, nur diejenigen inbetracht kommen, die in seinem Bewußtsein eine deutliche Empfindung erzeugen. Einwirkungen auf den Menschen, die, ob sie zwar stattfinden, ihm doch nicht zum Bewußtsein kommen, veranlassen ihn auch zu keiner Reaktion, sind daher für die psychische Definition des Menschen ohne Belang.
Die Natur ist demnach von dem Standpunkte eines jeden psychischen Wesens in zwei Hälften geteilt: die eine wirkt auf sein Bewußtsein, die andere nicht. Zwar wirken alle Dinge der Natur auf den menschlichen Organismus physisch ein, wenn nicht direkt, so doch indirekt; aber es ist ein fundamentales Gesez, daß Naturvorgänge nur dadurch auf ein Bewußtsein wirken, daß die von ihnen ausgehende räumliche und molekulare Bewegung einen gewissen Stärkegrad besizt. Dieser nötigen Minimalstärke auf objektiver Seite der Natur entspricht auf subjektiver Seite des Menschen jener Empfänglichkeitsgrad, der als Empfindungsschwelle bezeichnet wird. Diese Schwelle wird ferner die psychophysische genannt, weil in jedem Bewußtseinsvorgang eine physische Bewegung der Natur, indem sie die Empfindungsschwelle überschreitet, in eine psychische Empfindung sich verwandelt. Naturvorgänge von ungenügendem Stärkegrad bleiben unter der Empfindungsschwelle des Menschen, kommen ihm nicht zum Bewußtsein.
Demnach ist der psychische Normalmensch, den wir gesucht haben, dahin zu karakterisiren, daß er die normale menschliche Empfindungsschwelle besizt. Die in hohem Grade wünschensberte Experimentalpsychologie aber ist nur dann möglich, wenn die normale Empfindungsschwelle des Menschen der Art abgeändert werden könnte, daß ihm Natureinflüsse zur Empfindung kämen, die für gewöhnlich unter der Empfindungsschwelle bleiben. Diesen abnormen Einwirkungen der Natur würden in der Reaktion auf Seite des Menschen auch abnorme psychische Tätig feitsweisen antworten. Jemehr wir solche kennen lernen würden, desto vollständiger könnte auch die Definition des Menschen vorgenommen werden. Die Lösung des Menschenrätsels ist also möglich, wenn es eine Experimentalpsychologie geben sollte; diese des Menschen veränderlich, verschiebbar sein sollte; unmöglich leztere iſt aber nur dann möglich, wenn die Empfindungsschwelle dagegen, wenn diese Schwelle starr und unveränderlich wäre.
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auffommen können, daher unter der Empfindungsschwelle verlaufen. Diese Reize, meistens aus der inneren Körpersphäre kommend, sind die Ursache unserer Träume.
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Der Schlaf enthält also nicht blos Negationen des Wachens, sondern auch positive Seiten. Er verschiebt die Empfindungsschwelle, so daß die Tageswelt aus dem Bewußtsein schwindet; aber eben darum wird das innere Bewußtsein empfänglich für Einwirkungen, die im Wachen die Schwelle nicht überschreiten. So hat auch der Untergang der Sonne nicht nur die negative Folge, daß Dunkelheit sich über die Erde breitet, sondern auch die positive, daß die schwächeren Strahlen der sonst von der Sonne überstrahlten Fixsterne nun zur Geltung kommen.
Die Vorgänge, die im Schlaf zum inneren Bewußtsein fommen, finden auch im Wachen statt, nur daß sie unbewußt bleiben. Der Schlaf erzeugt also nicht neue Einwirkungen für den Organismus, sondern er hebt dieselben blos über die Schwelle, in der sie im Wachen lagen; er erzeugt aber neue Reaktionsweisen des Menschen auf diese nunmehr bewußt werdenden Einwirkungen, und diese Reaktionen nehmen die Gestalt von Träumen an.
Jemehr die Empfindungsschwelle verschoben wird, destomehr positive Seiten des Schlafes würden zum Vorschein kommen und immer neue psychische Reaktionen erzeugen. Darum würde der tiefe Schlaf, weil mit der größten Verschiebung der Schwelle verbunden, uns ohne Zweifel sehr wertvolle Aufschlüsse über die Natur des Menschen geben, wenn er nicht leider erinnerungslos wäre. Für die Experimentalpsychologie erwächst somit die Frage, ob Träume vor dem Vergessen bewahrt werden könnten, oder, falls dieses nicht möglich wäre, ob Träumende zum Reden gebracht werden können.
Diese beiden Probleme werden ohne Zweifel ihre Lösung finden; denn beide haben sie teilweise bereits gefunden, und zwar im Somnambulismus. Der Somnambulismus also, dieses helle innere Erwachen, das im tiefen magnetischen Schlafe eintritt, ist die natürliche Grundlage für die Experimentalpsychologie der Zukunft. Er verdient daher auch mit ganz anderem Eifer studirt zu werden, als es heute geschieht. Das Menschenrätsel steht heut noch so riesengroß vor uns da, daß es nur dem Stumpfsinn der Materialisten vorbehalten ist, dasselbe durch die Behauptung zu leugnen, der Mensch sei eine bloße chemische Verbindung und weiter nichts; dieses Rätsel aber kann allein gelöst werden, wenn wir den Menschen im somnambulen Zustande dem Experimente unterwerfen. Denn, wie Mesmer sagt: " Die Fähigkeiten des Menschen offenbaren sich durch die Wirfungen des Magnetismus, gleichwie die Eigenschaften anderer Körper durch den gesteigerten Wärmegrad, den die Chemie anwendet, sich entwickeln"*).
Die im Somnambulismus auftretenden psychischen Fähigfeiten des Menschen sind lediglich Reaktionen auf solche Natureinflüsse, welche die Empfindungsschwelle des normalen Menschen nicht überschreiten. Demnach macht der Somnambulismus empfänglich für feinere Genüsse, als die von den Sinnen des Wachenden aufgenommen werden. Wie nun die Sinne des Bachenden um so merkwürdigere Fähigkeiten des Menschen hervorrufen, je feiner organisirt sie sind, so muß der im Somnambulismus auftretende Sinn, welcher die für die Tagessinne zu feinen Einflüsse aufnimmt, Fähigkeiten des Menschen entbinden, die denen des Wachenden überlegen sind. In der Tat sind
diese Fähigkeiten so merkwürdiger Art, daß schon mancher Arzt in seinem Entusiasmus zu dem Ausspruch verleitet wurde, der Somnambulismus sei ein höherer Zustand als der des Wachenden, während andere darin einen Rückfall in das instinktive Natur
Die Empfindungsschwelle des Menschen ist nun aber verschiebbar. Abgesehen von gelinden Verschiebungen im Wachen, die bei Krankheitszuständen oder auch durch bloße Richtung der Aufmerksamkeit sich einstellen, erfährt der Organismus alltäglich Schlaf anheimfällt. Im Schlafe sinkt die psychologische Tätig- leben der Tiere sehen wollen. keit des Menschen zeitweilig unter die Schwelle*). Dafür bringt aber der Schlaf ein innerliches Erwachen mit sich, und diesem gibt gerade die Verschiebung der Schwelle einen Empfindungsinhalt, der uns im Wachen fremd bleibt, weil gegenüber den gröberen Einwirkungen der Außenwelt diese leisen Reize nicht
Wie so oft, liegt auch hier die Wahrheit in der Mitte: die Verschiebung der Empfindungsschwelle in den verschiedenen
Schlafzuständen ist keine stetig fortschreitende, sondern oft schr schwankend; ebenso schwankend müssen demgemäß auch die psychischen Fähigkeiten sein, die von jener Verschiebung erweckt