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Das Kind.

Von allen Wesen das hülfloseste Erscheinet dir das neugeborne Kind, Mehr als des Lammes kleine Tochter, gleich Jm Gras aufstehend und von Blumen zupfend! Mehr als das kleine Bienenknäbchen, gleich Von surrenden Geschwistern süß gefüttert Mit goldnem Blumenblut aus Veilchenherzen! Doch wer ist reicher als das Kind durch Liebe Der Mutter, durch der Menschen schönen Bund? Glück.

Steh immer über allem Glück, sieh keines Für einzig, für das höchste an, damit

Du Augen, Herz und Sinn dir frei erhältst.

Hoffnung.

Wer wünscht und hofft, der lebt schon in der Zukunft, Er spürt um sich die Zeit, die Dinge kaum, Bedenkt und braucht sie nur, sofern sie ihm Als Stufen dienlich sind zu seinem Ziel. So braucht der Fischer in dem Boot die Wogen, Die ew'gen, nur zu seinem Ruderschlage Und lebt schon mit dem Auge in dem Hafen, Den er nur sieht, und ist schon an dem Tische Mit Weib und Kind am warmen Herde sizend Die Fische, die im Boot noch um ihn zappeln. Drum jeder hoffe, jeder wünsch' etwas, Denn Jahre lang genießt er es im Herzen Und durch die schweren Tage schifft er leicht.

Unglüd.

So wie die Feuersbrunst zum Löschen leuchtet, Hilft jedes Unglück selber sich vertilgen; Wie jedes Köhlchen, das noch schaden könnte, Durch Glühen sich verrät, um ausgegossen Zu werden, also schreit die kleinste Not

Laut wie der Frosch im Sumpf, warum bis heut Nicht alle Not längst ausgerottet ist?-

"

Die Ruhe.

Es ist nur Eine Ruh' vorhanden"

Die träge Ruh' im Grabe ist sie nicht! Die Ruhe ist die stille Kraft des Geistes, Der in der Welt, doch über aller Welt Festschwebend, alles Uebel niederhält,

doch

Nur voll vom Guten nicht das Böse kennt, Und rein die Liebe walten läßt. Ihm ist Das regste Leben: ungestörte Ruhe;

Der Kampf mit aller Welt: der tiefste Friede!

Seelengröße.

Das ist nicht Seelengröße, Stärt und Fassung, Wenn du das außerordentliche Unglück, Entscheidend lezte schwere Schicksalsschläge, Verlust an Ehre, deines Habs und Gutes, Des Lebens deiner Lieben, der Gesundheit Und Freude nur auf immerdar erfährst, Und ruhig bleibst, gelassen und geduldig.- Doch wenn du jedes Tages kleinere Bedrängnis, Sorg' und Widerwärtigkeiten Nicht herb empfindest, nicht verzagit und schwach, Jm Mut das Kleine freudig trägst und lobst, Das, liebe Seele, erst ist Seelengröße, Ist Stärke, Fassung, göttliches Bezeigen.

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Unter zweien Dingen das Rechte. Willst du von zweien Dingen wissen, welches Das Rechte? Nimmer ist es das Bequeme. Was dir die meiste Mühe macht, das ist es! Das würde dirs sogar, denn du besiegst Dabei der Stoffe alte Trägheit, du Besiegst dein eigen Herz.

Gewohnter Fehler.

Ein angewöhnter Fehler gleicht der Fliege: Du jagit sie hundertmal in Zwischenräumen Hinweg und dennoch fehrt sie immer wieder Und plagt dich immer ärger. Willst du sie Auf immer los sein, wehre nacheinander Sie eine Weile unermüdlich ab,

Auch wenn sie nicht scheint da zu sein, indes Sie wohl verborgen dir im Nacken sizt. Auch dort verscheuche sie, so bleibt sie aus; An dir ist gar kein Haften denkt sie klug.

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Solidarität.

Ein Schweres ist's, auf Erden fröhlich sein! Bald hörst du, hier liegt einer krank danieder, Bald trägt man einen Toten still hinaus. Wen sollte anderer Leid nicht selber rühren? Wen fann nicht andrer Schicksal selber treffen? Die Schlechten.

Begegne jedem Bösen zart und sanft,

Begegn' ihm hülfreich! Denn du kannst kaum denken, Welch schmählich Sein er trägt, wie viel er Kraft Verschwendet, um sich aufrecht in der Fülle Der Edleren zu halten. Sei dem Herben Und Mürrischen recht mild! Du weißt es nicht, Welch schwere, jahrelange Leiden nur

Als leises Murren auf die Lipp' ihm treten. Dem Häßlichen begegne liebevoll,

Denn Lieb' ist, was er zu entbehren glaubt.

Diebstahl.

" In finstrer Nacht hat dir das arme Weib Ein duftend Laibbrod aus dem Flur gestohlen." Nun, soll ich zürnen, daß sie Hunger leidet? Und soll ich lachen, daß sie nehmen mußte, Was ich ihr nicht gegeben, unbefümmert Um Arme und um ihre Armut auch! Nein, laß mich sie bedauern, daß die Seele Durch meine und der Menschen Härte ihr Gezwungen war zu solcher bangen Tat! Laß mich mich selbst bedauern, daß ich habend, Umsichtig nicht bedacht, wer um mich darbe! Und daß wir keinen Fehler zweimal tun Geh, gib ihr auf voraus das doppelte! Und heiß die Arme ja mir wiederkommen! Der Reiche und der Harte, der nicht gibt, Der stiehlt! Der Arme tut es nur für ihn. Die Schuld der Welt und all ihr Unglück tragen

Die Starken, Unbarmherzigen und Blinden . Dem einen nur begegnen wie dem andern. Gleich drückend, hart, ja strafend gar und rächend,

Das hieße in der Hölle kaum gerecht! Gerecht ist der, der jedem das gewährt, Was ihm gebührt. Drum bist du erst gerecht, Wenn du dich jedem ganz als Mensch gewährst, Die ganze Güte und die ganze Liebe, Denn die ist sein an dir und dein an ihm!

Gut wie die Rosenwurzel.

Willst du noch kaum so gut sein wie ein Mensch, Sei nur so gut erst wie die Rosenwurzel:

In Erde still verborgen, ungesehen

Und unbeachtet, sammelt sie die Kraft;

Sie treibt ein Reis, treibt Zweige, an den Zweigen Dann Blätter, Knospen, Rosen, selber Dornen; Die Rosen nährt sie, füllt sie aus mit Duft, Und bleibt auch still, wenn du sie lobst, ja brichst. Sie fühlt die Kraft in sich zu hundert neuen Und selbst die Dornen trägt sie nicht umsonst. Denn streist im Lenz das Lamm die Wolle ab, Ergreift sie mit den Dornen jedes Flöckchen Und hält es lang geduldig fest, bis Vögel Nun kommen und zum weichen Nest es rauben Für ihre Jungen. Und sie regt sich nicht. Sei nur so gut erst wie die Rosenwurzel, Willst du noch nicht so gut sein wie ein Mensch.

Wohltun.

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Denk öfter: Wer genießt wohl jezt das Gute, Das ich ihm tat? Und wär's auch nur der Rock, Den du dem Bettler gabst; die warme Stube, Drin jezt im Winter arme Kinder ſizen. Und freut dich das, so tue wieder Gutes! Doch dent auch: Wer wohl leidet jezt das Böse, Das ich ihm tat! Und wärs auch nur der Stein, Den du dem Blinden nicht vom Wege nahmst, Der Zorn, womit du einen Sanften schaltest! Und kränkt dich das, so tue wieder Gutes.