4

Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Wiedergabe der Natur diejenige Vollkommenheit er­reicht hat, die für den jeweiligen Entwickelungsgrad des betreffenden Volkes überhaupt möglich ist, erst dann pflegen sich naturgemäß hier und da Künstler zu finden, denen es nicht genügt, die äußere Natur nachzuahmen, sondern die in sich den Drang spüren, die Welt ihres eigenen Innern im Kunstwerke frei schöpferisch zu gestalten. Auf die realistische Periode der künstlerischen Entwickelung folgt dann eine idea­listische. Der Künstler begnügt sich nicht mehr damit, die äußere, sichtbare Welt in ihren Linien und Farben richtig zu sehen und wiederzugeben, sondern er baut sich in seinem Innern eine neue Welt auf, die frei von den Zufälligkeiten und Unschönheiten der realen Wirklichkeit, die Natur im Idealbilde wider­spiegelt. Ein bestimmtes Form- und Stilbewußtsein entwickelt sich, ein bestimmtes Schönheitsideal entsteht.

Aber auch diese Periode wird abgelöst. Die idealisirende Wiedergabe der Natur nach bestimmten Form- und Stilgesezen wird allmälig zum Hemm schuh   für die freie Entwickelung jeder künstlerischen Individualität. Die folgenden Generationen ver­stehen nicht mehr, weshalb sie die Natur, die in ihrer wahrhaften Realität wiederzugeben angeblich den Zwecken der Kunst widersprechen soll, gerade so darstellen sollen, wie irgend welche Künstler der Vergangenheit sie dargestellt haben. Das Schönheitsideal, das zur Blüthezeit der idea­listischen Periode in den Herzen Aller wirklich lebendig war, ist jetzt, da der Geschmack sich ge­ändert hat, zum trocknen Schema geworden, zum Gespenst, das die Nachgeborenen davon abschreckt, der Stimme ihres eigenen künstlerischen Gewissens zu folgen, das sie fortwährend nöthigt, mit den Augen einer abgestorbenen Zeit zu sehen, das sie schließlich stumpf und impotent macht. Wenn diese Entwickelung genügend weit bergab gegangen ist, dann pflegen wenige Einzelne, dann immer weitere Kreise die Nothwendigkeit einer Kurs­änderung einzusehen. Man kehrt wieder zur Natur zurück, man nimmt die. Probleme dort auf, wo die vorhergehe realistische Periode sie liegen gelassen hat. Das Studium der realen Erscheinungswelt beginnt von Neuem. Die Künstler stehen wieder mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit. Eine neue realistische Epoche ist angebrochen, die dann, wenn ihre Zeit abgelaufen ist, wieder von einer idealistischen ab­abgelöst wird, die mit neuen Schönheitsidealen in die Welt tritt.

So geht es im Kreislauf der Entwickelung fort, und es ist einer der größten Irrthümer, an denen die Kunstgeschichtschreibung unseres Jahrhunderts gelitten hat, anzunehmen, daß es zu irgend einer Zeit und bei irgend einem Volke eine einzige klassische Periode gegeben habe, d. h. eine Periode, deren künstlerisches Schönheitsideal und deren technisches Können für alle Zeiten und alle Völker vorbildlich und maßgebend sein müsse. Das Schönheitsideal des Griechen Phidias   war ein anderes als das des Italieners Michelangelo   und ein anderes als das des Holländers Rembrandt  . Phidias  , Michelangelo  und Rembrandt   haben, Jeder für sich und seine Zeit, das Höchste erreicht, was in der Kunst zu erreichen möglich ist. Aber maßgebend sind sie deshalb doch weder für uns, noch für irgend eine spätere Zeit. Sie lehren uns im Gegentheil, daß nur derjenige Künstler den Gipfelpunkt erreicht, der den Muth hat, seine eigenen Wege zu gehen, seiner eigenen tünstlerischen Individualität zu folgen. Michelangelo  hätte mit seinen gefesselten Sklaven sicherlich keine unsterblichen Kunstwerke geschaffen, wenn ihm dabei das alte griechische Schönheitsideal vorgeschwebt hätte.

Wenn wir nun die Anfänge der deutschen Malerei betrachten, so scheint es, als wenn das eben Aus­geführte hier nicht zutrifft. Die ältesten Produkte der deutschen Malkunst sind nicht realistischer, sondern zweifellos idealistischer Art. Wir bemerken in ihnen nicht das Bestreben, die Natur, wenn auch mit unzulänglichen Mitteln, fleißig und treu nachzuahmen, sondern wir finden bereits einen fertigen Stil, oder richtiger, Bruchstücke von Stilarten vor, deren ver= fuöcherter Schematismus uns beweist, daß wir es hier

nicht nur nicht mit ersten realistischen Versuchen, sondern vielmehr bereits mit den letzten Ausläufern einer niedergehenden idealistischen Epoche zu thun haben. Und in der That ist die deutsche Malerei nicht autochthonen Ursprungs, d. h. nicht aus heimi­schem Boden hervorgewachsen, sondern gerade in ihren ersten Anfängen von fremden Einflüssen über­wuchert worden. Und zwar gingen diese Einflüsse von überkultivirten Nationen aus, deren Kunst sich damals schon im Niedergange befand.

Die deutsche Malerei hatte also in ihren ersten Entwickelungsstadien nicht nur die Aufgabe, sich die reale Natur allmälig zu erobern, sondern sich auch zugleich von den hemmenden Ueberresten einer fremden idealistischen Tradition zu befreien. Dieser Aufgabe ist sie in vollem Maße gerecht geworden, obwohl die Lösung derselben Jahrhunderte in Anspruch ge= nommen hat. An einem an sich nicht gerade be­deutenden Entwickelungsvorgange kann der Kenner

Madonna im Rosenhag. Von Martin Schongauer

Kolmar, St. Martin.

jener Geschichtsepochen verfolgen, wie die Herrschaft des Realismus sich allmälig verbreitete und durch sezte. Wan   betrachte einmal die Hintergründe der setzte. Man betrachte einmal die Hintergründe der deutschen Heiligenbilder aus verschiedenen Jahrhun­derten. Zuerst finden wir die Gestalten durchwegs auf den bekannten Goldgrund gemalt, der für jene älteste Zeit charakteristisch ist. Der Künstler schien das Gefühl zu haben, daß die heiligen Per­das Gefühl zu haben, daß die heiligen Per­sonen von jedem Hauche des Irdischen fernzuhalten seien, daß er sie in eine Welt hineinzaubern müsse, die mit unserer Erdenwelt nichts gemein habe. Er

Der

Empfinden zeigt, immer das Bedürfniß gehabt, seine Götter und Heiligen sich menschlich nahe zu führen, sie sich ihm ähnlich zu denken, und im alltäglichen Treiben mit den Sorgen des Alltags belastet dar­zustellen. Den Goldgrund empfand man als etwas unwahres: er mußte fallen. Aber man wagte die heilige Jungfrau und das Christkind doch noch nicht ganz in die gemeine Wirklichkeit zu verbannen. Irgend eine Scheidewand mußte die heilige Gruppe von der übrigen Welt abschließen, und man wählte dazu einen Teppich. Ein schöner, reichgestickter Vor­hang pflegte nun den Hintergrund der Gemälde zu bilden. Das Bewußtsein aber, daß es hinter diesem Vorhang doch auch noch eine Welt gäbe, die der Verherrlichung im Kunstwerk würdig sei, schlummerte tief im deutschen Künstlerherzen, und mit der Zeit erwachte es und brach sich allmälig Bahn. Teppich wurde immer niedriger und über seinen oberen Rand Iugten, erst etwas verschämt, dann immer dreiſter, ein Stückchen blauer Himmel, eine Wolfe, eine Bergspiße, das grüne Laub eines Baum gipfels. Und endlich fiel der Teppich ganz, und die heiligen Personen standen mitten in der realen Welt. In der realen? Ja und nein! Der fromme Sinn des Künstlers wagte noch nicht, ihnen die sündige Wirklichkeit ganz nahe auf den Leib rücken zu lassen. Die Welt erschien wie durch einen Schleier gesehen, in weite Ferne gerückt, als eine bescheidene Hintergrundlandschaft in hellblauen, verschwommenen Tönen. Aber der entscheidende Schritt war gethan, und wer Muth und Phantasie besaß, konnte auf der einmal betretenen Bahn weiter fortschreiten. Er konnte die liebe Jungfrau Maria mitten hineinsetzen in eine blühende Rosen­laube, konnte bunte Vögel in den Zweigen singen und reife Erdbeeren zu ihren Füßen wachsen lassen. Und es war selbstverständlich, daß er die Zweige des Rosenstrauches hübsch ordentlich um ein Spalier sich ranken ließ, wie es damals in den Gärten der reichen Leute geschehen konnte, und es war nicht minder selbstverständlich, daß er die jung­fräuliche Gottesmutter, die Züge ihres Gesichts, die Haltung ihrer Hände, die Falten ihres Ge­wandes, Alles so schön, so überirdisch schön dar= stellte, als er nur irgend konnte: schön, wohl= gemerkt, nach seinem Empfinden, nicht nach inferem. Und nun betrachte man einmal das nebenstehende Bildchen. Der Meister, der es gemalt, lebte in der Zeit, wo die deutsche Kunst den Boden der Wirklichkeit endlich gefunden hatte. Er heißt Martin Schongauer  , auch Schön genannt, und lebte in Kolmar  , in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Das Bild selbst befindet sich im Münster zu Kolmar  , und hier muß man es eigentlich sehen, mit seinen zarten und doch leuchtenden Farben, in dem traulichen Halbdunkel der alten Stirche. Aber auch die bescheidene Reproduktion, die wir bieten können, vermag dem aufmerksamen und vorurtheilslosen Betrachter einen Begriff zu geben von dem, was der Künstler gewollt und gekonnt hat. Und wer sich ein wenig tiefer in das Bildchen hineinsieht, dem wird auch ein Verständniß aufgehen für die eigenartige Schönheit, die in diesen uns auf den ersten Blick so seltsam verschnörkelt erscheinenden Linien und Formen liegt. Der wird merken, daß er es mit einem Künstler zu thun hat, der, obwohl er unserem heutigen Geschmack unendlich fern steht, doch ein echtes, lebendiges Schönheitsideal im Herzen trug, und daher ein Kunstwerk schaffen konnte, das für alle Zeiten Werth behalten wird: weil es wahr ist.

1

vermochte aber mit den unzulänglichen Witteln seiner Wie Herr Sacrement zu einem Orden kam.

Kunst diese Aufgabe nicht anders zu lösen, als daß er, auf die nähere Charakterisirung jener überirdischen Welt verzichtend, seine Heiligengestalten einfach auf jenen idealen Goldgrund sezte. Die ganze Grund­anschauung aber, die diesem Verfahren zu Gründe liegt, entsprach durchaus nicht dem naiven Empfinden des damaligen deutschen Volkes. Es war etwas Fremdes, ihm von außen her Oftroyirtes. Der Deutsche hat, wo er überhaupt ein echtes religiöses

Von Guy de Maupassant  . Uebersetzt von Ludwig Wechsler.

ie Leute kommen mit einem vorherrschenden Instinkt, einer Vorliebe oder aber mit einem bloßen Verlangen zur Welt, das sich zu regen und kundzugeben beginnt, sobald sie sprechen und denken können.