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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
nur einigermaßen sicher zu sein, sich von einem der Bandenführer einen Geleitsbrief oder eine Schutz truppe von etlichen Lanzen zu erkaufen. Damit war aber noch lange nicht gesagt, daß jeder andere Schnapphahn den Brief und das Geleit seines Herrn Kollegen achtete und nicht seinerseits den Reisenden und seine Habe als gute Beute betrachtete, ihn ausraubte und ein hohes Lösegeld von ihm und den Seinen erpreẞte.
Am meisten litten die Provinzen Ile de France ( spr. Ihl tö Frangs) und die Champagne ( spr. Schangpanj), also diejenigen, in denen der Bauernaufstand der Jacquerie seinen Anfang nahm.
Wenu so ein Blutegel von Bandenführer sich vollgesogen hatte und reich genug geworden war, um sich nach Ruhe zu sehnen, verkaufte er die festen Burgen oder Plätze, die er inne hatte, an einen Anderen, der das Geschäft nach ihm weiter betrieb, indem er Jenem auch den lebenden Soldatenbestand mit abkaufte. Auch verschenkt und vererbt wurden Festungen und Streitkräfte unter den Angehörigen dieser ehrwürdigen Gilde. So hatten die Opfer dieses prächtigen Unterdrückungs- und Ausbeutungssystems nicht einmal Ruhe, wenn einer ihrer Peiniger für seinen Theil das Geschäft" aufgab.
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Wenn ein adliger Herr von den Räubern seines Rittersizes, vielleicht auch seiner persönlichen Freiheit beraubt wurde, kaufte er sich und sein Gut los aus den Mitteln, welche seine Vasallen und Bauern aufbringen mußten, die also in diesem Falle vou der rechtmäßigen Gewalt ebenso ausgesogen wurden, wie von den Räuberbanden. Diese fanden das Loskaufspiel sehr lohnend und es wird berichtet, daß mancher Burgherr sein Besigthum in einem Jahre drei-, viermal von den Kompagnien auslösen mußte.
Man kann sich das daraus sich ergebende Elend und die Verzweiflung vorstellen, welchen die armen Landleute zur Beute fielen. Fortwährend schwebten sie in Todesangst, vor ihren angestammten" Herren nicht minder, wie vor den Soldaten- Räuberbanden. Natürlich suchten sie sich ihrer Haut zu wehren, so gut es nur irgend möglich war. Sie machten ihre Kirchen zu Festungen, umgaben sie mit Wall und Graben und trugen die außerordentliche Laſt einer fortwährenden Kriegführung mit Kämpfen, Wachehalten, Schanzarbeiten und allen den Mühen und Opfern, welche der Kriegszustand den Kriegführenden auferlegt.
In einigen nördlichen Provinzen, namentlich in der Picardie, verkrochen sich die Landbewohner in Erdhöhlen; aber wehe ihnen, wenn sie von ihren Unterdrückern entdeckt wurden! Von Glück hatten sie zu sagen, wenn ihnen ihr rechtmäßiger Herr diese Selbsthülfe nicht als Hochverrath auslegte, selbst wenn es sich um Widerstand gegen die landfremden, englischen Söldnerbanden handelte.
Die französischen Adeligen waren im 14. Jahrhundert in voller Entartung begriffen. Sie sahen im Volk nicht mehr ihre gleichberechtigten Landsleute, mit denen sie gleiche Interessen verbanden, sondern lediglich einen Gegenstand zur Ausbeutung, endlich sogar des Hasses, ja ihre natürlichen Feinde.
Im Kampfe gegen die Engländer zeigte sich, daß das Kriegswesen Frankreichs veraltet war. Die schwer gerüsteten adeligen Ritterheere konnten den mit Hellebarden und bleiernen Hämmern, Piken und Armbrusten leicht bewaffneten flandrischen Kriegsknechten nicht Widerstand leisten, die sie sammt ihren Waffen so stolz verachteten. Dieser Irrthum rächte sich schwer; er verleitete die Adeligen, auch verachtungsvoll auf die Bürgertruppen herabzublicken, welche die neue, leichtere Bewaffnung und Kriegsführung sich zu Nuze machten, und mehr als einmal haben adeliger Hochmuth und ritterliche Verwegenheit das wieder verdorben, was Bürger- und Bauernsoldaten im Kampfe gegen die Engländer gut gemacht hatten; so z. B. bei Cruch( spr. Krohfi), wo die Bürger von Orleans die siegreichen Engländer eine zeitlang aufhielten, aber die ordnungslose Kampflust und der sorglose Leichtsinn der Ritter die Sache wieder verdarb.
Diese Herren lebten fern von ihren Sißen ant königlichen Hofe und dachten garnicht daran, um= sonst Heeresdienste zu leisten, sondern sahen darin
die Quelle ihres Erwerbs und ihrer Bereicherung, die sie so ergiebig wie möglich auszunuzen beslissen die sie so ergiebig wie möglich auszunuzen beflissen waren, indem sie dem Lande und ihrem König ihre Dicuste so theuer wie möglich verkauften, also eigent lich keinen Deut besser waren, als irgend ein be= liebiger fremdländischer Söldling. Sie hatten also eigentlich am Krieg mehr Interesse, mehr Aussicht auf Gewinn, als aut geordneten Friedenszuständen. So setzte sich ein Wehrsystem in Geltung, das zugleich Feudalwesen und Söldnerwesen in sich vereinigte, um mit des Geschichtschreibers Michelet Eine grauen( spr. Mischelehs) Worten zu reden. Eine grauenvolle Lage der Dinge für das unglückliche Land- denn bei Mißerfolgen stieg die Gefahr des Landes, der Bedarf nach Waffenhülfe, und diese Gelegenheit benutzten die Edelsten und Besten der Nation, um ihre Preise zu erhöhen für das, was eigentlich ihre schlichte Bürgerpflicht ebenso war, wie ihre Treupflicht gegen die Krone.
Daß dadurch die Kluft zwischen Adel und Volk sich immer mehr erweitern mußte, das liegt auf der Hand. Das Volk mußte dazu gelangen, im Adel geradezu den innern Feind" zu sehen.
Die Niederlage von Poitiers brachte den lang schon bestehenden Groll zum Ausbruch. Bei früheren Unglücksfällen des Krieges, bei Gourtray( sprich Kuhrträh, bei Cruch u. a. hatte sich der Adel nur unverständig und leichtsinnig gezeigt, sich aber doch mit unbestreitbarer Tapferkeit geschlagen, er hatte Alles, außer der Ehre, verloren, um mit Franz I. zu reden; bei Poitiers ließ er sich schimpflich gefangen nehmen, statt Stand zu halten oder zu sterben. Die Engländer kamen in Verlegenheit, wo sie die vielen Gefangenen unterbringen, was sie mit ihnen anfangen sollten. Jeder Ritter des feindJeder Ritter des feindlichen Heeres hatte fünf Gefangene, denn wenn ein französischer Adeliger einen englischen bemerkte und selbst von Jenem bemerkt wurde, streckte er ihm schon von Weitem seinen Degen entgegen und bat um Quartier, d. i. Schonung und Gefangennahme. Natürlich erregte das im ganzen Lande die tiefste Erbitterung, denn nun mußten von dem armen Volk die Mittel zum Loskauf aufgebracht werden, der fabelhaft große Summen erheischte bei so vielen gefangenen Edelsten und Besten" der französischen Nation. Außerdem huldigte der Adel einer finnlosen Prunksucht und Verschwendung, die natürlich auch das Ihre dazu beitrugen, das Volk wirthschaftauch das Ihre dazu beitrugen, das Volk wirthschaftlich zu ruiniren und aufs Aeußerste zu erbittern.
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Das Unglück des Landes wurde in den nächsten zwei Jahren nach der Schlacht bei Poitiers immer grauenvoller; 1358 erreichte es seinen Gipfelpunkt. Die Weinberge wurden nicht mehr bebaut, die Felder nicht bestellt, Städte und Dörfer waren verwüstet, zerstört und unbewohnt. Ueberall begegnete man den Spuren der fürchterlichsten Verwüstung, überall Jammer und Elend.
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Am tiesten erregte das Volk der Umstand, daß es etwas ganz Gewöhnliches war, die Adeligen mit den Räuberbanden gemeinschaftliche Sache machen zu sehen. Konnte ein Adeliger die Loskaufsumme für den Räuberbandenführer nicht aufbringen, so nahm er Dienste bei ihm auf zwei bis drei Jahre, nahm er Dienste bei ihm auf zwei bis drei Jahre, um sie abzuarbeiten". Dann gab es zwar einen adligen Vampyr weniger, dafür aber einen Räuber mehr. Defter unternahmen Adelige und Räuberbanden Beutezüge auf gemeinschaftliche Rechnung. Die Schäferhunde, berufen, die Heerde zu schüßen, machten, wie ein Chronist schreibt, mit den Wölfen gemeinschaftliche Sache und fraßen, zusammen mit Jenen, ihre Schußbefohlenen.
Getreide zur Aussaat und Vieh hatte der Bauer nicht mehr, auch seine Geräthe, seine Wagen nahm man ihm ab, ebenso seinen Pflug, um Säbel und Lanzenspitzen daraus zu machen. Hätte der Bauer das Alles auch gehabt und sein Feld bestellen können, so nahmen es ihm die Engländer, die Räuber oder die Adeligen doch wieder ab. Darum stellte er es endlich ganz ein, so unnüße Sorgen und Mühen auf sich zu nehmen.
Der Spißname, mit dem die privilegirten Stände den französischen Bauern belegten, war Jacques Bonhomme( spr. Schack bonn omm), d. i. Jakob Gutmann, guter, dummer Tölpel fönnten wir sagen.
Von ihm redeten viele Sprichwörter im Tone voll ständigster Verachtung:„ Jacques Bonhomme hat einen tüchtigen Budel, er kann Alles ertragen", hieß es da unter Anderem. Jawohl, Jacques Bonhomme hatte allerdings einen tüchtigen, tragsfräftigen Rücken, aber der Zeitpunkt war nicht mehr fern, wo er seinen Unterdrückern zeigen sollte, daß er nicht nur auf seinen tüchtigen Rücken ein gut Theil Schläge aufladen konnte, sondern daß auch seine starken Fäuste solche auszutheilen verstanden, wenn ihm endlich, endlich der Geduldfaden riß. Die gräßlichen Sünden der Bevorrechteten riefen seine wilde Rache hervor: das war eben die Jacquerie.
Wenn Frankreich sich aus dem furchtbaren Elend nach dem Unstern von Poitiers überhaupt wieder aufrichten sollte, so mußte auch mit den einheimischen Volksverderbern abgerechnet werden, die zumeist mitschuldig waren am allgemeinen Zusammenbruch. Ihr " Patriotismus" war es nicht, der das wieder aufrichtete. Aus der Tiefe des verachteten Volkes der Landlente quollen jene materiellen und idealen Kräfte der Wiedergeburt und Erlösung; die Edelsten und Besten der Nation haben dazu wacker wenig beigetragen.
Ein Märtyrer der Schule.
Novelle von Henrik Sienkiewicz. Deutsch von Wilh. Thal.
as Licht der Lampe weckte mich manchmal auf, obwohl ein Schirm darüber gebreitet war; und dann sah ich Michel wieder bei der Arbeit, zwei Stunden, ja sogar drei bis vier Stunden nach Mitternacht. Seine kleine, dünne und zarte Gestalt saß da, kaum bekleidet, über ein Buch gebeugt, während seine schläfrige Stimme in dem Schweigen der Nacht mit der Eintönigkeit der Be tonung, die in der Kirche bei dem Kyrie Eleison der Litanei zu Tage tritt, lateinische oder griechische Verba konjugirte. Wenn ich ihn anrief, um ihm zu sagen, er möchte sich schlafen legen, antwortete er mir in sanftem Tone:„ Ich kann meine Aufgaben noch nicht, Herr Wolski!"
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Dann machte er sich wieder an die Bücher. Und doch arbeitete ich von vier bis acht, und von neun Uhr bis Mitternacht mit dem armen Kleinen, half ihm bei seinen Schulaufgaben, und legte mich nie eher nieder, als bis ich mich überzeugt hatte, daß er Alles wußte. Aber dieses Alles" war wirklich zu viel, zu viel für ihn. Hatte er die letzte Leftion beendet, so entsann er sich der ersten nicht mehr; und die griechischen, lateinischen, französischen und deutschen Konjugationen, die Namen der zahlreichen Regeln marterten seinen armen Kopf und tanzten darin eine höllische Sarabande, die ihn am Schlafen hinderte. Dann stand er auf, zündete wieder die Lampe an und sezte sich von Neuem an den Tisch, um zu arbeiten. Wenn ich ihn ausschalt, fing er an zu bitten, und weinte schließlich. Ich mußte ihm schon seinen Willen thun. Daher gewöhnte ich mich schließlich auch so sehr an diese Nachtwachen und au dieses leise Gemurmel, daß ich, wenn es mir fehlte, nicht mehr einschlafen konnte. Eigentlich hätte ich vielleicht dafür sorgen müssen, daß der arme Sleine sich nicht so über seine Kräfte anstrengte; doch was sollte ich thun?
Er mußte doch jeden Tag, wenigstens so ziem lich, seine Lektionen lernen. Soust hätte man ihn aus der Schule fortgeschickt. Und Gott weiß, was für ein Schlag das für Frau Marina gewesen wäre, deren einzige Hoffnung Michel war, seit der Tod ihres Gatten sie mit ihren beiden Kindern allein in der Welt gelassen hatte. Das war in der That eine haltlose Situation: denn auf der anderen Seite sah ich, daß diese heftige Geistesanspannung der Gesundheit des Kindes derart schadete, daß sie seine Eristenz bedrohte. Man hätte wenigstens versuchen müssen, ihn zu fräftigen und ihn durch Turnen, Marschiren und Reiten zu stärken; doch für solche förperliche llebungen fehlte leider die Zeit. Er hatte so viel zu thun, so viel auswendig zu lernen und zu schreiben, daß ihm dazn gar keine Zeit übrig