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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
er plößlich nachdenklich und nachlässig; seine Bewegungen waren die eines Automaten; seine Stimme wurde schläfrig und er sprach nur wenig. Auch still wurde er, seltsam still und ruhig. Er gehorchte mechanisch, ohne zu wissen, was er that. Wenn ich ihm sagte, es wäre Zeit zum Spazierengehen, dann machte er keine Einwände mehr wie früher, sondern holte seinen Hut und folgte mir stillschweigend.
Ich wäre über die Veränderung, die ich an ihm bemerkte, glücklich gewesen, hätte ich nicht gesehen, daß in dieser scheinbaren Gleichgültigkeit die tiefe, schmerzlichste Entsagung lag. Er setzte sich wie gewöhnlich an die Arbeit, aber er lernte nur noch gewohnheitsmäßig und dachte, während er die verschiedenen Verba fonjugirte, an etwas ganz Anderes, oder, was noch schlimmer war, er dachte an nichts. Als ich ihn einmal fragte, ob er seine Aufgaben gelernt hätte, antwortete er mir mit seiner lang= ſamen Stimme:„ Ach, Herr Wolski, das ist ja Alles unnüz." Ich meinerseits that mein Wögliches, um den Gedanken an seine Mutter aus seinem Geiste zu verbannen, dein ich fürchtete von diesen Grübeleien für ihn das Schlimmste.
Seine Gesundheit erfüllte mich jeden Tag mit größerer Unruhe, denn er fing an, in erschrecklicher Weise abzumagern.
Mein Herz preßte sich zusammen, wenn ich diesen fleinen Engelskopf betrachtete, der an eine auf ihrem Stengel vertrocknende Blume erinnerte. Er hatte schon nicht mehr die Kraft, seine Schulmappe zu tragen, daher gab ich ihm nur einige Bücher mit und brachte die anderen selbst zur Schule, wohin ich ihn seit einiger Zeit stets begleitete.
Endlich kam das Weihnachtsfest. Die Pferde, die man aus Talesino geschickt, warteten schon seit zwei Tagen, und ein Brief von Frau Marina, der zu gleicher Zeit anlangte, theilte uns mit, daß wir mit Ungeduld erwartet wurden.
,, Lieber Michel," schrieb sie zu Ende des Briefes, ,, ich habe erfahren, daß Du in der Schule nicht glücklich gewesen bist. Ich erwartete kein hervor ragendes Zeugniß, aber ich wünschte wenigstens, Deine Lehrer wären ebenso wie ich überzeugt, daß Du Dein Möglichstes gethan und durch Dein Betragen das wieder gut zu machen gesucht hast, was Dir in den Leistungen nicht gelungen ist!"
Aber die Lehrer waren durchaus nicht dieser Ansicht, und auch die Hoffnung, eine gute Zensur im Betragen zu erhalten, wurde zu nichten, ja, noch mehr, man erklärte ihm ohne Umschweise eines Tages, daß er die Schule von nun an nicht mehr besuchen dürfe.
Als er Abends nach Hause kam, theilte er mir seine Relegation mit. Es war fast dunkel im Zimmer, denn draußen fiel dichter Schnee; ich konnte sein Gesicht also nicht sehen. Ich bemerkte nur, daß er zum Fenster trat und dort stehen blieb, um auf die Schneeflocken, die in der Luft herumwirbelten, hinzustarrén.
Ich hielt es für das Beste, garnicht mit ihm von der Schule zu sprechen, und so blieben wir still und traurig fast eine Viertelstunde lang. Inzwischen war die Dämmerung vollständig hereingebrochen. Ich fing an, meine Sachen in einen Stoffer zu packen, und da ich sah, daß Michel sich nicht vom Fenster fortrührte, so fragte ich ihn schließlich:
" 1
Was thust Du da, Michel?"
Er antwortete mir mit zitternder Stimme:„ Jezt sigt Mama mit Lina am Ofen des grünen Zimmers, nicht wahr? Vielleicht denkt sie an mich!"
Sachen in seine und meine Koffer packte. Ich war selbst ein wenig leidend, legte mich ebenfalls nieder, blies das Licht aus und schlief bald ein. Gegen drei Uhr Morgens wurde ich durch das Licht und das mir so wohlbekannte monotone Murmeln aufgeweckt. Ich öffnete die Augen und mein Herz erzitterte schmerzlich in der Brust bei dem Schauspiele, das sich mir bot. Die Lampe brannte auf dem Tisch und Michel saß, nur mit seinem dünnen Hemde bekleidet, bei einem Buche. Mit hochrothen Wangen, halbgeschlossenen Augen und den Kopf leicht nach hintenüber geneigt wiederholte er mit seiner schläfrigen Stimme:
Konjunktiv: Amem, ames, amet, amemus, ametis, ament."
" Michel!" rief ich.
,, Amem, ames, amet...."
Ich packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Jetzt erst schien er zu erwachen. Er zwinkerte ihn. Jetzt erst schien er zu erwachen. Er zwinkerte mit den Augen und sah mich erstaunt an, als wenn er mich nicht erkannte.
,, Was thust Du da? Was hast Du denn, mein Kind?"
„ Ich repetire Alles, Herr Wolsfi," antwortete er mir lächelnd; ich repetire Alles von Anfang bis zu Ende; denn ich muß morgen auf jeden Fall eine gute Note bekommen."
Ich nahm ihn in die Arme und trug ihn auf sein Bett. Sein kleiner Körper brannte wie Feuer. sein Bett. Sein kleiner Körper braunte wie Fener. Dann ließ ich sofort den Arzt rufen, der glücklicherweise mit uns in demselben Hause wohnte. Er untersuchte ihn nicht erst lange, sondern erklärte die Krankheit als ein Nervenfieber, das eine sehr ernste Wendung zu nehmen schien.
Ich sandte einen Brief an Frau Marina; und am nächsten Tage verkündete mir ein heftiger Zug an der Klingel, daß sie angelangt war. Ich öffnete ihr die Thür und sah, daß sie weiß wie eine Sterze unter ihrem schwarzen Schleier war.
Mit außergewöhnlicher Straft stüßte sie ihre Hand auf meine Schulter, heftete einen durchdringenden Blick auf mich und fragte mich kurz: ,, Lebt er?"
„ Ja, der Arzt sagt, es gehe besser."
Sie warf ihren mit Schnee bedeckten Schleier zurück und lief in das Zimmer ihres Sohnes. Ich hatte gelogen. Michel lebte noch, aber es ging nicht besser. Er erkannte nicht einmal seine Mutter mehr, als sie sich an sein Bett seßte und die Hand des Kindes ergriff.
Endlich kam er wieder zu sich, erkannte sie, lächelte matt und murmelte:
„ Mama!"
"
Sie ergriff seine beiden Hände und blieb so mehrere Stunden bei ihm sizen, wobei sie sogar vergaß, ihre Reisekleider auszuziehen. Als ich sie darauf aufmerksam machte, antwortete sie mir darauf aufmerksam machte, antwortete sie mir mechanisch:
„ Ich hatte es vergessen!"
Sie nahm ihren Hut ab, und eine seltsame, schmerzliche lleberraschung ward mir zu Theil. Viele Silberfäden zogen sich jetzt durch ihr blondes Haar.
Sie wollte selbst dem Kleinen die Eiskompressen auf den Kopf legen und ihm seine Medizin reichen. Am Abend wurde das Fieber stärker. Im Delirium mengte das Kind Worte aus der lateinischen und griechischen Sprache durcheinander, die es plößlich zu dekliniren und konjungiren begann. Um seiner Mutter eine Ueberraschung zu bereiten, hatte der arme Junge die zum Meßdienste nothwendigen Antworten auswendig gelernt. Ein Schauer der Angst schüttelte mich jetzt von Kopf bis Fuß, als ich in ,, Nein, Herr Wolski, mir fehlt nichts; mich der Stille der Nacht das elfjährige Kind mit lang= der Stille der Nacht das elfjährige Kind mit lang friert nur!" samer, immer schwächer werdender Stimme die Worte sprechen hörte:
, Wahrscheinlich! Aber warum zittert Deine Stimme so? Bist Du frank?"
Ich entkleidete ihn sofort und legte ihn ins Bett. Während ich ihm seine Kleider auszog, betrachtete ich mit einem Gefühl tiefen Mitleids seine armen abgemagerten Beine und seine kleinen winzigen Hände. Dann gab ich ihm Thee und deckte ihn mit Allem zu, was ich bei der Hand hatte.
" Ist Dir jetzt warmı?" fragte ich ihn. Ach ja, aber der Kopf thut mir weh!" Bald schlief das von Ermattung und Leiden gebrochene Kind ein, während ich die noch übrigen
,, Deus meus, Deus meus, quare me repulisti, d. h. Gott, mein Gott, warum hast du mich verstoßen. Ich kann den tragischen Eindruck, den diese Worte auf mich hervorbrachten, nicht beschreiben. Es war am Tage vor Weihnachten . Von der Straße her drang das Schreien der Männer und das Glockenläuten der Schlitten bis zu uns. Es war voll= ständige Dunkelheit hereingebrochen. Auf der anderen Seite der Straße sahen wir in der gegenüber
liegenden Wohnung einen mit goldenen und silbernen Früchten behangenen Weihnachtsbaum, der im Lichterglanze strahlte. Wir bemerkten die braunen und blonden Köpfe der Kinder, die fröhlich um den Baum herumsprangen.
Auch auf der Straße vernahm man heitere Stimmen. Die Freude war allgemein! Und inmitten dieser lanten Fröhlichkeit wiederholte das Kind in gebrochenen Lauten:
,, Deus meus, Deus meus, quare me pulisti?"
re
Ueberall begann das Weihnachtsfest, und wir standen zitternd und verzweifelt vor einem Todtenbett. Einen Augenblick war es uns, als komme der Kleine wieder zu sich, denn er fing an, Lina und seine Mutter zu rufen. Aber diese Hoffnung war nicht von langer Dauer. Von Zeit zu Zeit hörte der Athem vollständig auf. Er sah nichts mehr, er fühlte nicht einmal mehr den Kopf seiner Mutter, die, selbst fast sterbend, zu seinen Füßen lag. Jede Empfindlichkeit hatte seinen Körper bereits verlassen; er wandte nicht einmal seine Blicke mehr auf uns. Die Flamme des Lebens erlosch. Seine auf der Decke ruhenden Hände hatten die Starre lebloser Gegenstände und sein kindliches Gesicht zeigte bereits einen Ausdruck der Ruhe und heiteren Würde. Sein immer schwächer werdender Athem glich jest dem Tick- Tack einer Taschenuhr. Noch ein Augenblick, noch ein Hauch, und Alles war vorüber.
Gegen Mitternacht glaubten wir, der Todeskampf wäre eingetreten. Er röchelte und stöhnte wie ein Ertrinkender. Plößlich verstummte das Röcheln. Der Arzt hielt einen Spiegel an seine Lippen, der Spiegel wurde leicht getrübt. Er lebte noch.
Eine Stunde später wurde das Fieber geringer. Wir glaubten, das wäre die Rettung, und selbst der Arzt wies nicht alle Hoffnung zurück. Die arme Mutter bekam eine Ohnmacht.
Zwei Stunden hindurch schien Alles gut zu gehen, und gegen Morgen trat fch, vor Ermüdung und Aufregung gebrochen, in das Vorzimmer, wo ich mich auf einen Divan warf und in tiefen Schlaf verfiel. Schon seit vier Nächten wachte ich bei Michel, und obendrein quälte mich ein hartnäckiger Husten. Plößlich wurde ich durch die Stimme der Frau Marina geweckt, denn in der Stille der Nacht hörte ich sie verzweifelt schreien:„ Michel, Michel!" Die Haare sträubten sich mir auf dem Kopf. Bevor ich noch Zeit hatte, mich zu erheben, stürzte sie in das Vorzimmer und rief mir mit dumpfer Stimme zu: „ Michel ist todt!"
Ich eilte an das Bett des Kleinen. Sie hatte die Wahrheit gesprochen, er war todt.
Der erste Weihnachtstag ging in Vorbereitungen für das Begräbniß dahin. Ich litt entsetzlich, denn es war mir nicht möglich, Frau Marina von der Leiche ihres Kindes zu entfernen. Als man kam, um zum Sarge Maß zu nehmen, wurde sie ohnmächtig, und ebenso, als wir den armen Kleinen ankleideten, und von Neuem, als man anfing, den Katafalt zu errichten.
Als die Leichenträger mit ihrer rohen, geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit den Leichnam anfaßten, wurde die Verzweiflung der Mutter fast zum Wahnfinn. Sie tobte und wurde von konvulsivischem Schauder geschüttelt, ich glaubte, sie würde den Verstand verlieren.
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Am nächsten Tage wurde das Kind auf den Kirchhof getragen, und kurze Zeit darauf entzog ihn die schneeige Erde auf immer unseren Blicken.
Ein ganzes Jahr ist seit jenem Tage verflossen; aber noch immer denke ich an Dich, mein liebes Kind! Mein Herz preßt sich zusammen bei der Erinnerung an Dich, Du, ach zu früh entblätterte schöne Blume! Ich weiß nicht, wo Du bist und ob Du mich hören kannst, aber ich weiß, daß der Husten Deines alten Lehrers von Tag zu Tag schlimmer wird, daß das Leben ihn immer mehr zu Boden drückt, daß die Einsamkeit immer größer wird und daß er in kurzer Zeit wahrscheinlich auch dahin gehen wird, wohin Du gegangen bist!