Die reue Welt
Nr. 8
Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Lebt er oder ist er todt? mit großem Schmerz und vielen Feierlichkeiten, ohne
zu ahnen, die armen Dinger, daß nicht nur Kinder ihre schönsten Singvögel verhungern lassen und dann für ihr Begräbniß und Denksteine so viel ausgeben, daß es genug gewesen wäre, sie damit am Leben zu erhalten und es ihnen bequem und freundlich zu gestalten. Nun
1897
sie haben ein Bündniß gegen uns geschlossen. Ich bin im ganzen Dorfe herumgegangen, und es ist so, wie ich Euch sage. Sie geben uns nicht mehr für einen Pfennig Kredit, bevor nicht alle die Kleinigkeiten bezahlt sind."
Das machte uns sprachlos. Jedes Gesicht war starr vor Schrecken. Wir famen zu der Ueberzeugung, daß unsere Verhältnisse jezt ganz verzweifelte wären. Es entstand ein langes Stillschweigen.
Endlich sagte Millet mit einem Seufzer:" Es fällt mir nichts ein garnichts. Schlagt irgend was vor, Jungens!"
Doch hier wurden wir unterbrochen. Diesen Abend gegen zehn Uhr begegnete mir Smith; er bat mich, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen und ihm bei einer Zigarre und einem starken Punsch Gesellschaft zu leisten. Es war ein trauliches Pläßchen, mit bequemen Stühlen, hell leuchtenden Lampen und einem hellen, freundlichen Olivenholz - Feuer. Um das Ganze vollkommen zu machen, klang deutlich der dumpfe Wellenschlag des Meeres zu uns herüber. Nach dem zweiten Glase und vielem lässigen, angenehmen Geplauder sagte Smith:" Nun sind wir in der richtigen Stimmung- ich, um eine furiose Geschichte zu erzählen, und Sie, um sie zu hören. Es war viele Jahre lang ein Geheimniß zwischen faullenzender Fremder haben dasselbe gesagt Um ihn unfenntlich zu mir und drei Anderen; aber ich will das Siegel jezt brechen: Sißen Sie bequem?"
' ch brachte den Monat März 1892 in Mentone an der Riviera zu. In diesem zurückgezogenen Ort genießt man alle Vortheile der Natur privatim, die man in Monte Carlo und Nizza , einige Meilen weiter, nur in der Oeffentlichkeit zu sehen bekommt. Ich meine damit, man er= freut sich an dem strahlenden Sonnenschein, der balsamischen Luft und dem leuchtenden, blauen Meere, ohne die störende Zugabe der bewußten Löwen und Löwinnen der Saison, mit ihrer albernen Koketterie und dem Tam- Tam- schlagen der großen Welt. Mentone ist ruhig, einfach, bescheiden. Die Reichen und Glänzenwollenden kommen nicht hierher: im Allgemeinen meine ich. Hin und wieder nur sieht man einen reichen Mann, und mit einem solchen wurde ich hier bekannt. machen, will ich ihn Smith nennen. Eines Tages, im Hôtel des Anglais beim zweiten Frühstück, rief er mir plößlich zu:„ Schnell! Sehen Sie sich den Maun an, der eben aus der Thür geht. Betrachten Sie ihn ganz genau."
„ Warum?"
" Wissen Sie, wer er ist?"
„ Ja. Er war schon einige Tage hier, ehe Sie famen. Es ist ein alter, sehr reicher Seidenfabrikant aus Lyon , der sich von seinem Geschäft zurückgezogen hat, wurde mir gesagt, und ich glaube, er steht allein in der Welt, denn er sieht immer so traurig und träumerisch aus und spricht mit keinem Menschen. Sein Name ist Theopile Magnan."
Ich vermuthete, daß Smith jetzt fortfahren würde, sein großes Interesse, das er Monsieur Magnan gezeigt hatte, zu rechtfertigen, aber statt dessen verfiel er in tiefes Sinnen und hatte augenscheinlich mich und die ganze Welt für einige Minuten vergessen. Von Zeit zu Zeit ließ er seine Finger durch sein buschiges, weißes Haar gleiten, wie um seinen Gedanken nachzuhelfen, während er sein Frühstück falt werden ließ. Endlich sagte er:„ Nein, ich habs vergessen; ich kann mich nicht mehr darauf besinnen."
"
"
Auf was können Sie sich nicht besinnen?"
,, Es ist eine von Andersens wundervollen Geschichten. Aber sie ist mir entschwunden. Ein Theil davon ist ungefähr so:
Ein Kind hat einen Vogel im Bauer, den es liebt, aber gedankenlos vernachlässigt. Der Vogel singt seine schönsten Lieder ungehört und unbeachtet; aber bald befällt das Thier Hunger und Durst, und seine Lieber werden schwach und schmerzlich, endlich verstummen sie ganz der Vogel stirbt. Das Kind kommt und die bitterste Neue überfällt es; dann mit heftigen Thränen und Wehklagen ruft es seine Spielfameraden, und sie begraben den Vogel
Vollkommen. Fahren Sie fort." Hier folgt, was er mir erzählte:
-
Vor langer Zeit war ich ein junger Künstler- in der That ein sehr junger Künstler; ich wanderte in den kleinen Ortschaften Frankreichs umher, einmal hier sfizzirend und einmal dort, und durch Zufall gesellten sich zwei junge, famose Franzosen zu mir, die dasselbe Handwerk trieben. Wir waren ebenso glücklich wie arm, oder so arm wie glücklich, legen Sie sichs nach Ihrem Geschmack zurecht. Claude Frère und Karl Boulanger, das sind die Namen jener Jungens, prächtige, famose Menschen und die sonnigsten Geister, die je in ihrer Armuth lachten. Es war eine herrliche, schöne Zeit in allen Wettern.
Doch plötzlich in Breton, einem Dorfe, waren wir auf unseres Beutels Grund gerathen und ein Künstler, ebenso arm wie wir, fam uns zu Hülfe und rettete uns buchstäblich vor dem Verhungern- François Millet -
11
Was! Der große François Millet ?"
Groß? Er war nicht größer als wir damals waren. Er hatte nicht den geringsten Namen, sogar nicht in seinem eigenen Dorfe, und er war so arm, daß er nichts Anderes hatte, uns zu sättigen, als Rüben, und sogar diese fehlten uns manchmal. Wir Vier wurden große Freunde, zärtliche, unzertrennliche Freunde. Wir malten zusammen aus allen Kräften; häuften Stöße auf Stöße, aber wurden selten etwas davon los. Wir hatten wundervolle Zeiten zusammen; aber, o weh! wie waren wir. manchmal in der Klemme!
"
So ging es ungefähr etwas über zwei Jahre. Da sagte Claude eines Tages zu uns: Jungens, wir sind am Ende. Versteht Ihr das? Vollständig am Ende. Jedermann verweigert, zu pumpen
-
Kein Mensch erwiderte etwas, nur ein trauriges Schweigen war die Antwort. Karl ſtand auf und ging eine Weile nervös auf und ab, dann sagte er: s ist' ne Schande! Seht diese Leinwanden: da liegen Stöße von ebenso guten Bildern, wie sie sonst wo in Europa gemalt werden ich frage nicht darnach, wers ist. Ja, und eine Menge
"
oder beinahe dasselbe; nun-"
"
Aber kauften nichts," sagte Millet.
-
na,
„ Das schadet nichts, aber sie sagten es: und
' s is wahr dazu. Da sieh Deinen Angelus hier; fann Jemand mir sagen-"
" Pah, Karl, mein Angelus! Sie haben mir
fünf Francs dafür geboten."
"
Wann?"
,, Wer hat Dirs geboten?"
Wo ist er?"
"
"
Warum hast Du es nicht genommen?"
"
Was denn? sprecht nicht Alle auf einmal. Ich dachte, er würde mehr geben ich war ganz sicherer sah so aus und da verlangte ich acht."
" 1
Er sagte, er würde wiederkommen."
Blizz und Donner!" Warum François" O, ich weiß, ich weiß! es war Unrecht, und ich war ein Narr. Jungens, ich meinte es gut; Ihr werdet mir das glauben, und ich-"
,, Nun, natürlich, das wissen wir, Herzensbruder; aber sei nicht noch einmal so ein Narr!"
" Ich? Ich wünschte, es würde Jemand kommen und uns eine Rübe dafür bieten- Ihr würdet sehen!"
"
,, Eine Nübe! O, sprich nicht davon, das Wasser im Munde läuft mir zusammen. Sprich von weniger verführerischen Sachen."
" Jungens", sagte Karl, sind diese Bilder ohne Verdienst? Beantwortet mir das."
„ Nein!"
Sind sie nicht von sehr großem, hohem Verdienst? Beantwortet mir das."
„ Ja!"
,, Von so großem und hohem Verdienst, daß, wenn ein berühmter Name damit verbunden wäre, sie zu großartigen Preisen verkauft würden. Ists nicht so?"
„ Sicherlich ist es so. Niemand bezweifelt das."