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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Als ich die Treppe herauffam, hörte ich die Stimme meiner Mutter.

" Ja, ja, ich komme, sofort, sofort. Ach Gott !" und dann eilte ein Mädchen an mir vorüber.

Die kenne ich doch? Die habe ich doch einmal geschen? Ach ja-in jener Nacht bei dem Aristokraten!

,, Georg, seze Dir die Müße auf und komm mit!"

Bis zu einem Mantel für mich hatten wir es immer noch nicht gebracht. Ich war schon abgerichtet, Allen, die es wissen wollten, zu sagen, ich hätte einen Mantel, es sei mir aber noch zu warm, um ihn anzuziehen.

" Dent Dir," begann Mutter, als wir auf der Straße waren, Ewald ist ertrunken!"

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, Ertrunken?!"

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" Ja- Er hatte doch ein eigenes Boot und heute früh haben Schiffer seine Leiche- ins Haus gebracht. Sein Boot hat man noch nicht gefunden."

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" Mutter! dann hat er sich ertränkt; sicher hat er sich ertränft; denn er war doch Schwimmer." Mutter schwieg betroffen.

Wir gingen wohl zehn Minuten still nebenein­ander her. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Vorfall begann meine Begriffe über Recht und Unrecht zu verwirren. Ich versuchte, mir dar über klar zu werden, ob Ewald richtig gehandelt hätte oder nicht, konnte aber zu feinem Schluß fommen.

Ich weiß nicht, wie es fam, ich erblickte nur stets das Eine vor mir: Diesen jungen Menschen in dem braunen Anzug, in dem ich ihn das lezte Mal gesehen hatte, grad wie damals, auf dem Polster­stuhl liegend, nur daß der Kopf herabhing und aus den Haaren Wasser troff. Ich schloß die Augen, um dem Bild zu entgehen, aber da sah ich es nur noch viel deutlicher vor mir, sah das ganze Zimmer, jeden Vorhang, jedes Stück Möbel, jede Figur auf dem Schreibtisch, und in der Mitte des Zimmers auf dem Polsterstuhl lag dieser junge Mensch, nur daß der Kopf herabhing und aus den Haaren Wasser troff. Es erfaßte mich eine grenzenlose Angst. Das zweite Mal, daß sich mir Majestät Tod" vorstellte, und dieses Mal grausenvoll! Mich fröstelte.

Mutter hingegen schien zu schwigen, wenigstens fuhr sie sich jede Minute mit dem Taschentuch über die Stirn, und dann ganz heimlich über die Augen.

Troßdem ich selten in das Innere der Stadt hineinfam, schenkte ich doch heute seinem abwechs­lungsvollen geschäftigen Treiben keine Aufmerksamkeit; denn ich sah nichts vor mir, als nur dieses eine schreckliche Bild.

Als wir endlich ankamen, überraschte mich die Todtenstille, die in Haus und Wohnung herrschte. Obgleich Einer dem Anderen die Thür in die Hand gab, schien doch kein Laut der Straße heraufzudringen.

Der Aristokrat war wieder tief betrübt, aber würdevoll, und wirklich, ich glaube, er hätte sogar geschwankt, wenn er sich nicht zeitweise auf den Arm seiner Frau gestützt hätte, und sicher hätte er geweint, wenn er ihr nicht manchmal einen trau­rigen, aber verliebten Blick zugeworfen hätte.

Keiner der Anwesenden wagte auch nur mit einem Wort auf den wahren Sachverhalt anzuspielen.

Ja! Der Sport! Der leidige Sport! Wieviel tausend junger, hoffnungsvoller Menschenleben fallen ihm zum Opfer!

Die nengebackene Frau des Aristokraten benahm sich mit großer Gewandtheit, mit einem scheinbar angeborenen Schliff. Sie hatte sich sofort voll­kommen schwarz angezogen, weil es ihr gut stand und ihre hohe Gestalt in Schwarz sich noch zu ver= größern schien. Die Züge ihres Gesichts waren weich und ebenmäßig. Ein scharfer Beobachter hätte freilich einen Zug von Theilnahmlosigkeit und Kälte entdecken können, jedoch entsprang dieser durchaus nicht einem niedrigen Charakter, sondern einfach mangelnder geistiger Begabung und Unbildung des Herzens. Sie gab sich liebenswürdig und freund­lich, war aber nicht offen. So strich sie mir mütter lich über die Haare, als ich den Kopf einen Augen­blick in den Polsterstuhl zurückgelehnt hatte und sagte: " Ja, ja, mein Sohn, der arme Ewald!" " Ich nehme niemals Pomade!"

Sie wurde roth und erwiderte: Verzeih', aber Worten, und ich war der festen Meinung, daß diese die Möbel sind erst neu bezogen worden."

Bald kam mein Vater. Er reichte dem Aristo­fraten die Hand, ohne seine junge Frau zu beachten.

Vor einem Jahre hatte ich Vater genau an der selben Stelle gesehen. Damals ein Bild wilder, überschüssiger Lebenskraft, und heute, ich mochte es nicht glauben, daß es derselbe war. Wie doch Krank­heit einen Menschen herunterbringen kann! Wie sie ihm Alles nehmen kann, Stück für Stück, den Lebens­muth, die Beweglichkeit, die Thatkraft, die Gedanken, den Glanz der Augen! Die wenigen Haare waren inzwischen fast weiß geworden, eine leichte Zerrung der Gesichtsmuskeln war zurückgeblieben. Er ging gebeugt, schleifte den rechten Fuß nach und ließ den Kopf vornüber hängen.

Ich verargte es meinem Vater, daß er dem Aristo­fraten die Hand reichte. Ich bedachte nicht, daß er es vor einem Jahre nicht gethan hätte, daß aber jetzt ein Anderer dort stände, ein gebrochener Mensch mit dem Todeskeim in sich, der in Nuhe sterben will und keine Lust verspürt, sich mit der Welt zu über­werfen. Was hat man davon? Wer dankt es Einem? Thut man nicht wahrlich besser, wenn man klein beigiebt?

Aber unbedingt machte der Todesfall auf den Aristokraten einen tieferen Eindruck; denn seine gött­liche Vornehmheit und feierliche Erhabenheit waren dadurch etwas brüchig geworden. Er war nicht mehr jung, konnte das Leben nicht mehr so aus kosten wie zu Zeiten seiner ersten Frau, und da das Verbotene jetzt für ihn das Erlaubte war, so war damit auch der Reiz verschwunden. Jetzt, wo er in beschau­licher Ruhe den Rest seines Lebens verbringen wollte, mußte sein Sohn ihm solche Streiche machen! Seine Stimmung wurde von Tag zu Tag gedrückter, nichts fand mehr seinen Beifall, alle Genüsse kamen ihm fad und ledern vor. Die Nächte schlief er schlecht, ja er fing sogar schon an, sich Gedanken zu machen über so Manches, was vielleicht doch nicht so ganz in der Ordnung gewesen wäre. Der Arzt meinte, daß das Beste für ihn eine Luftveränderung sei. Er müßte aus diesem ganzen Kreis heraus, wo ihm jedes Stück Möbel eine lebendige Erinnerung er meinte Vorwurf wäre. Und da der Aristo­Und da der Aristo­frat seiner jungen Frau so eine Hochzeitsreise ver­sprochen hatte, fuhr er bald darauf mit ihr und seiner Tochter fort, an die Riviera.

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Es ging uns von Tag zu Tag trauriger. Mutter und die Schwestern fingen an, sich um Arbeit in Geschäften umzusehen; sie machten so allerhand zwecklose Spielereien. Frieda und Grethe gaben noch außerdem Stunden. Aber das schaffte wenig. Man versuchte sich in Allem auf das Aeußerste zu beschränken, aber da war nicht mehr viel zu be= schränken!

Mutter erweiterte womöglich noch ihre franzö­sischen Kenntnisse und übte sich in Taschenspieler­kunststücken. Ueber diese Schwierigkeiten verstanden wir uns hinwegzusehen, uns griff die Hungerkur ja wenig an, desto mehr aber meinen Vater, dessen franker Körper damals so der guten Pflege be­durft hätte.

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Der Verein der Geistesbrüder" blühte und ge­dieh inzwischen; oder bestimmter gesagt, schoß ins Kraut, trieb merkwürdige Zweige, Aeste und Schöß linge, denen man kaum mehr ausah, daß sie zum Stamme gehörten.

Fürs Erste veranstaltete Eugen zur gegenseitigen Bildung und Aufklärung Leseabende, sprang uns mit Kant, Schopenhauer und Hegel ins Gesicht und hielt zu seiner Uebung eine längere Rede über die Ab­straktion relativer Begriffe, die ihm und uns Allen gleich flar war. Albert nickte verständnißinnig; Walter meinte, er hätte zwar eine Geschichte der Philosophie gelesen, doch sich nicht derart in die Wissenschaft selbst vertieft, uni hierauf entgegnen zu fönnen. Ich sagte ganz brutal, man solle nicht solche Phrasen abwickeln, dadurch brächte man der " jammernden Allgemeinheit" keinen Nugen, man soll mit der That sie glücklich machen und nicht mit

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Entgegnung mit der Abstraktion relativer Begriffe in engstem Zusammenhang stände.

Dann seßte uns Eugen einleuchtend auseinander, daß zur Schärfung und Stärkung unserer Geistes­fräfte wir unbedingt Stat spielen müßten; ähnliche Spiele wären schon den alten Griechen und Römern bekannt gewesen und von Cäsar und Alcibiades wisse er bestimmt, daß sie demselben mit großem Eifer ergeben waren.

Walter opponirte: er wagte es zu bezweifeln, man solle ihm dafür Belege bringen; weder im Gäsar, Xenophon noch Herodot gäbe es irgend eine Stelle, welche in der Weise ausgelegt werden könne.

Außerdem seßte uns Eugen in einer glühenden Ausprache die Vortheile auseinander, die dem Verein daraus erwüchsen, wenn er neue Mitglieder, junge Kräfte, die von Lust und Liebe zur guten Sache entflammt wären, auwürbe. Ja, junge Kräfte, denn daß wir allein schon senil" wären, läge außerhalb jedes Zweifels. Jedoch würde hierbei der Name Geistesbrüder" störend wirken, man würde unwill­fürlich an Freimaurer und andere ,, niederträchtige" Verbindungen denken. Man müßte also unbedingt den Verein umtaufen, und zwar hätte er durch Ueber­sezung des Sinnes in das Lateinische für den Verein den Namen Novania" gewonnen. Durch welchen chemischen Hergang er aber dieses herrliche Wort erhalten, verschwieg er uns.

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Albert stimmte ihm sofort bei: Jawoll, No­vania is ein feiner Name! Und wat ick schon immer sagen wollte, Jeistesbrieder hat mir überhaupt nich jepaßt, det hat son janz jefährlichen verschwörerischen Beijeschmack jehabt."

Walter opponirte wiederum. Er wollte eine Er­klärung des Wortes Novania haben, vom Stamme ,, nov" könnte man ein derartiges Wort unmöglich bilden; das wäre Mönchslatein, und es wäre für ihn ein Jammer, mit anzusehen, wie in dem Worte Novania die herrliche Sprache verhonafelt" würde.

Engen erwiderte, daß Novania ihm ein sehr sympathisches Wort" von intimem Reiz" wäre.

Ich sagte, ich hätte an dem Namen nichts aus­zusetzen, im Gegentheil, er hätte in seiner Unver­ständlichkeit so etwas angenehm Räthselvolles, man wisse nicht gleich, was man mit ihm anfangen solle.

Hierauf gerieth Eugen in Zorn: und was das hieße; ich schiene mich über ihn und seine Bestrebungen Iuftig zu machen; und dazu wäre ich am allerwenigsten befugt. Ja, er zitirte sogar die Bibel wider mich: Wohl Denen, die nicht sizen in den Reihen der Spötter!"

Ich antwortete, daß ich dem Verein der Geistes­brüder" gern meine freie Zeit widmen würde, für die Novania aber nichts übrig habe.

Da legten sich Walter und Albert ins Mittel. Ich solle nicht streiten. Die guten Bestrebungen des Vereins würden dieselben bleiben, ganz gleich, unter welcher Flagge er segele.

Ich erwiderte, es wäre auch nicht meine Absicht gewesen, zu streiten, ich fühle mich aber durch Der­artiges beleidigt, und wie man in den Wald hinein­schreie, so schalle es wieder heraus.

Eugen versezte nun, daß ich all das überhaupt verspotte, was ihm und der Menschheit heilig und daß ich keiner wahren Begeisterung fähig wäre.

Nein, ich könnte mich für seine Kindereien auch garnicht begeistern, und ihm läge nur daran, hier die erste Violine zu spielen.

,, Und ich kann nur sagen, daß ich einen Menschen verachten muß, der mir kleinliche persönliche Inter­essen unterzulegen wagt, wo mich doch nur die großen Fragen der Zeit erfüllen!"

So gab ein Wort das andere, und zum Schluß dieser Unterhaltung gerieth ein großer Gegenstand in Bewegung. Ein Stuhl flog Eugen zwei Finger breit überm Kopf weg.

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Der Verein Novania" aber blühte und gedich unter Eugens selbstloser Leitung auch ohne mich; oder vielmehr, er wucherte üppig, trieb noch merk­würdigere Aeste, Zweige und Schößlinge, denen man überhaupt nicht mehr ansah, daß sie zum Stamme gehörten.