Die Rene Welt

Nr. 12

Westend.

Von sans Roeder.

Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

ie eine gewaltige Räseglocke aus dunkel­blauem Glase wölbte sich der September­himmel über das unabsehbare Häusermeer, und die langen, geraden Straßen mit ihren vier­eckigen Gebäudekompleren lugten den Limburgerkäsen gleich friedlich daraus hervor. Die Sonne schien vergnügt und flar wie lange nicht. Ihr Licht zeigte jene reine, ruhige, dunkelgelbe Farbenprägung, die ihm nur an schönen Herbsttagen, an der Scheide zwischen Sommer und Herbst eigenthümlich ist. Aus diesem Sonnenlicht leuchtet eine gewisse Ruhe und Sicherheit hervor, die erhaben ist über das stürmische Feuer der Frühlingstage und die verzehrende Gluth des Sommers. Dieses Licht ist kraftvoll und satt, ein Ton vornehmer Selbstzufriedenheit strahlt von ihm aus, und dennoch mischen sich, zugleich ganz leise zwar, aber wohl recht merklich, die ersten An­zeichen des lässigen Sichhingebens, des Uebersatt feins und der Ermattung darein.

So glich diese abgeklärte, milde Herbstsonne fast dem runden Gesicht eines Paters, der im Bewußt­sein seiner Heiligkeit, verklärt durch den matten Glanz, den der wärmende Saft der Neben mit den Jahren auf die Menschen zurückstrahlt, würdevoll auf die Thorheiten Anderer herabschaut, nachdem auch er in jungen Tagen mit feurigen Sinnen ge= lebt, geliebt und gelitten. Nein, wenn man die Sonne so würdevoll an ihren Strahlen hängen sah, die wie gelbe Zwirnsfäden an die langen Häuser­reihen angeknüpft schienen, so nahm sie sich aus wie ein mächtiges Siegel von gelbem Wachs, das irgend ein himmlischer Exekutor von Rechts wegen im Namen irgend eines Gesetzes der gottlosen Millionenstadt an der Spree auf die Seele gebunden.

Was Wunder, daß auf der ganzen Natur eine feierliche Stimmung lastete, eine Stille, wie sie in einem Stramladen herrscht, den das Rechtsbedürfniß der Menschen mit seinen erbarmungslosen Händen unter Siegel gelegt. Auch dort ist es still und feier­lich, süßer Friede weilet, wenn nicht gerade die Mäuse in Ermangelung besserer Dinge sich an dem Mehlfleister der hohen Obrigkeit vergreifen und respekt­los die geheiligten Siegel zernagen; denn die Mäuse haben kein Verständniß für das, was die Menschen Gerechtigkeit zu nennen pflegen. Die Luft war milde und flar, so flar, als wäre sie chemisch gereinigt worden. Vom Kreuzberg bis zum Wedding, vom Juliusthurm in Spandau bis zum Storchnest in Stralau hätte kein Floh über die Straße springen können, ohne sein Leben zu Markte zu tragen, selbst dann nicht, wenn die Straßen und Pläge Berling polizeilich abgesperrt gewesen wären, was aber nicht der Fall war. Sogar die unheilschwangeren Dunst­wolfen, in denen das Hoffen und die Verzweiflung Millionen raftloser Menschen gleichgültig verklingt

und die wie ein Warnungszeichen über dem zermürs benden Getriebe der Großstädte zu schweben pflegen, sogar diese Dunstwolfen hatten sich in der keuschen Luft des heiteren Septembertages rein gebadet und waren verschwunden. Kurz, das ganze Berlin lächelte, wie es nur selten noch lacht, seit es sich von un­schuldigen Fischerdorf zur millionenverschlingenden Großstadt emporgeschwungen. Nicht einmal die Nicht einmal die melancholischen Gewässer der Spree , die sich trüb­selig durchs Leben schlängeln, als bedrückten sie die allerhand Geschäfte und Geschäftchen, mit denen an ihren Ufern alltäglich das Zuchthaus umgangen wird, ihren Ufern alltäglich das Zuchthaus umgangen wird, nicht einmal dieses undefinirbare Naß vermochte die heitere Anmuth der lichtdurchtränkten Herbstlandschaft zu stören. Mit ihrem unheimlichen Grau, einer Ringelnatter gleich, die inmitten des Häuſergewirrs frieblich dalag, schien auch sie sich behaglich zu sonnen frieblich dalag, schien auch sie sich behaglich zu sonnen in dem Glanz der leuchtenden Sonne.

Es war der große Tag von Westend , der Tag der großen Hindernißrennen. Vom Brandenburger Thor bis hinauf zur Höhe von Westend herrschte Thor bis hinauf zur Höhe von Westend herrschte reges Treiben. In langen Reihen folgten sich die Wagen auf der breiten Straße. Hier sah man einen Möbelwagen, der, zum Massenvehikel umge= einen Möbelwagen, der, zum Massenvehikel umge­staltet, sich langsam fortbewegte. In seinem Mittel­punkt war ein Bierfaß aufgestellt, das sozusagen punkt war ein Bierfaß aufgestellt, das sozusagen den Schwerpunkt des Ganzen bildete und dazu be= stimmt schien, während der langen Fahrt das euro­päische Gleichgewicht unter den zahlreichen Insassen aufrecht zu erhalten. Dort fuhren Droschken, Krem­ser, Landauer mit und ohne Gummiräder, Sport­wagen und was es sonst noch an Gespannen aller Art giebt. Es war ein internationales Potpourri von Wagen, eine wahre Musterkarte für Stellmacher und Wagenbauer. Ebenso buntscheckig war das Aus­sehen der Pferde, die vor all diesen Gespannen im Dienste der Menschen ihre Frohuden verrichteten. Auch unter diesen giebt es Aristokraten, die im Ueberfluß leben, behütet und gepflegt werden, und Ueberfluß leben, behütet und gepflegt werden, und Lohn- und Arbeitsstlaven, die die Bitterniß des Daseins und des Menschendienstes auskosten müssen bis auf den Grund. Da war manch armer Klepper, der, wäre er im Stande gewesen zu reden, hätte furchtbare Anklage erhoben wider die Menschen, die gewaltthätigsten Raubthiere der Erde.

Der Rennplag ist ein Komödienhaus, ein Schlupf winkel für allerlei Laster, und wenn auch Manche hinauspilgern auf den grünen Rasen, um von den Mühen der Arbeit zu rasten, Licht und Luft zu ge­nießen, der Mehrzahl ist die Rennbahn eine Zentral­markthalle ihrer Eitelfeit. Geschminkt, pomadisirt und parfümirt, mit allen Künsten der Toilette und der Verstellung bis zur Unkenntlichkeit ihres besseren der Verstellung bis zur Unkenntlichkeit ihres besseren oder schlechteren Selbst vermummt, rollten und wan­derten sie dahin die Männlein und die Weiblein. Sie dünkten sich nicht geringer als der Herrgott in Sie dünkten sich nicht geringer als der Herrgott in Person und doch der Verstand des Menschen ist klein, sehr klein und ihr Rückgrat ist biegsam wie Weiden­gerten. Was Wunder, mit Tönen des Staunens,

1897

der Bewunderung und des Beifalls wurden die prozigen Biererzüge empfangen, und furchtsam wie Spazen, wenn sich der Habicht von Ferne zeigt, wichen sie Alle aus oder hielten an, um Plaz zu schaffen, sobald das Holla des vornehmen Wagen­lenfers erklang. Der Gedanke, daß die öffentlichen Verkehrsstraßen von der Gesammtheit erbaut und erhalten, daß Alle auf ihnen die gleichen Rechte und Pflichten haben, diese Ueberzeugung schien über den Horizont dieser Menschen hinauszugehen.

Sogar die feurigen Pferde der vornehmen Vier­gespanne schienen sich ihres vorwegnehmenden Rechtes als ihres selbstverständlichen, guten Rechtes bewußt. Es war, als blickten sie mit Verachtung auf die feige Erbärmlichkeit der Menschen, in der dieses, ihr eigenes Recht tief und sicher wurzelte. Mit Grandezza sprengten sie durch die fich bildenden hohlen Gassen an den stumpfsinnigen Führern ihrer weniger glück­lichen vierbeinigen Kollegen vorbei. Nicht weniger stolz blickten die feudalen Lenker dieser Gefährte von ihren hohen Kutscherböcken herab. Auch aus ihren Blicken sprach Verachtung der Menschen, aber das Feuer fehlte, das ihre Pferde auszeichnete. Es war zumeist der Stumpfsinn, der dort seine Flöte blies, wenn diese widernatürlichen Modepuppen über die wohlgepflegten Spizen ihrer Schnurrbärte, die wie die Hörner der Ochsen im Mecklenburger Wappen in die Welt hinausragten, um sich blickten. Und Alles war paff, mit Verzückung blickten die gedankenlosen Müssiggänger empor zu diesen armen Reichen. Ganz vereinzelt nur hörte man ein beißendes Wißwort über die hohle Komödie, die sich dort auf der Land­straße abspielte.

Auch die Leierfastenmänner an der Chaussee drehten ihre Orgeln noch lebhafter, sobald sich ein Vierspänner blicken ließ. Sie wußten warum; diese vornehmen Herren waren gute Kunden, die gewöhn­lich nicht fnauserten mit Trinkgeldern und Almoſen, zumal an solchen Tagen, an denen ihre Gaben nicht unbemerkt bleiben konnten und dazu beitrugen, um den gütigen Gebern einen populären Nimbus zu weben. Ueberhaupt waren die Renntage die großen, die goldenen Tage im Leben der Leiermänner auf der Charlottenburger Chaussee, die mit schweißgebadeten Stirnen aus den Bretterwänden ihrer Kästen die füßesten Melodien hervorzauberten. Das war eine Symphonie von Melodien, Grunz- und Quietsch­Tönen, eine Polfa von allen möglichen Lauten, über die hin und wieder das vornehme, schneidige Holla der Vierspänner wie das Klatschen einer schallenden Ohrfeige hinausflang. Der tosenden Brandung eines fernen Ozeans gleich drang dieser Lärm durch die lauschigen Gänge des Thiergartens, bis er endlich verstummte und das Zickzick der Rothkehlchen wieder hörbar wurde, die den nahenden Herbst begrüßten und den welken, fallenden Blättern ein Todtenlied fangen.

Allmälig hatte sich der Rennplatz gefüllt, die Musik spielte, die Geschäfte der Buchmacher florirten