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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Er griff nach dem Tabaksbeutel, der auf der Kommode lag. Der umschließende Niemen war auf­gegangen, er schnürte ihn zu und steckte, den Beutel ein. Dann ging er.

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,, Kamt ni to lat¹ to Meddag," mahnte Dora. " Se möten jo of bald fig wesen, se harken jo all den ganzen Vörmeddag. Un wenn de Bur fümmt awer ick heww slimme Gedanken vöndag, weet de Himmel, Jochen. Weetst Du noch, wat he seggn deh, as de Stine Grotkoppen ehr Hochtid wier?, Dweten,' he,, ick hol't ni ut, ick- ick gah na Amerika  ! Ach Gott, wenn dat

wier!"

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Ach wat, Unsinn!" unterbrach Jochen sie un­willig und schritt hinaus... Jawoll, Unsinn!" Die alte Frau fuhr sich mit der Hand über die Augen und unterdrückte nur mit Mühe ein Auf­schluchzen. Die Auge a wurden ih naß; nur un= deutlich erkannte sie te Gestalt des Vorknechts, der eben unter den Fenst en vorübe schritt, um durch den Garten nach der N. miese zu gelangen.

Der Vorknecht war ein armer Verwandter, ein Vetter des Bauern. Er war eine große, straffe Gestalt, energisch in seinem Wesen, oft bis zur Härte; aber gerade dadurch war er eine vortreffliche Stüße des weicheren Bauern, der eine sorglose Jugend verlebt hatte und eine Neigung zum Wohlleben nur schwer unterdrücken konnte. Jochen Duggen herrschte deshalb auf dem Hofe fast mehr als der Bauer selbst, der ihm auch um so freiere Hand ließ, als der Hof dabei trefflich gedieh. Seit der Verheirathung der hübschen Tochter des benachbarten Gutspächters Grotkoppen kümmerte sich der Bauer um seinen schönen Hof noch weniger und war nicht selten Tage lang abwesend, in der nur wenige Meilen entfernten Provinzialhauptstadt. Er hatte von der Tochter des Pächters einen Korb bekommen und suchte seinen Schmerz zu übertäuben. Aber eine ganze Woche, wie jezt, war er bisher noch nicht fortgeblieben.

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Dore grübelte besorgt und ließ die Hände oft müßig ruhen. War ihm etwas zugestoßen? Hatte er seine Würde vergessen und war er in schlechte Gesellschaft gerathen? Er verfügte über große Geld­mittel, gerade jetzt; das Geld zu erheben, war der Zweck seiner Reise. Durch Erbschaft war ihm ein Grundstück in der Stadt zugefallen; er hatte es an eine Baugesellschaft verkauft und war hingefahren, um das Geld zu holen. Achtzehntausend Mark. Würde er das Alles vergeuden? Dore erschrak. Aber nein nein so viel nicht Alles nicht. Ein paar hundert Mart, ja, sündhaft viel doch mehr nicht. Aber wenn ihm dabei ein Unfall begegnete? Wenn der unheimliche neue Eisenbahnzug aus dem Geleise brauste, den Damm hinunter, in tausend Stücke die Wagen? Oder wenn die Menschen, die schlechten Menschen in der Stadt, ihm ein Leid zu= fügten? Wenn sie das viele Geld sähen und ihn an sich lockten, ihn tödteten und in irgend einer engen Straße und irgend einem dunklen Hause ver= steckten? Sie grübelte sich in alle Möglichkeiten hinein und fuhr fast erschreckt zusammen, als die Glocke der Hausthür schellte. Das Herz schlug ihr, daß sie es pochen hörte. Und vom Hausflur ver­nahm sie feste, etwas plumpe Schritte. klopfte.

Verein!"

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Sie athmete auf, als sie den kommenden er­fannte.

Heww ick mi verfehrt," 2 rief sie ihm entgegen. ,, Awer in de Stuw is mehr Plaz as in de Dör, 3 darüm kam'n S' man rin, Preiß. Wat hebben S' denn vondag? En Breew?"

Preiß war der Postbote. Er nahm die Müße ab und trat grüßend näher. Dann suchte er in der abgenuzten Ledertasche und brachte einen ziemlich großen Brief zum Vorschein.

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,, Von'n Burn!" rief Dore erleichtert aus, als sie die Handschrift erkannte eine Schrift, wie sie gleich ungelenk und gleich charakteristisch eckig übrigens beiden Bettern eigen war. Na, dat is man gaud. Dat is of Tied.' t is awer hitt vöndag, ni? Dat Meddagäten is noch ni tregg. Awer en Beersupp

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1 zu spät. 2 Bin erschrocken. 3 Thür. 4 heiß. 5 fertig.

mit Stuten smeckt ock ni slech, wat, Preiß? Un en Kirschen vörher makt of nicks."

Sie holte aus dem Wandschrank geschäftig eine bauchige Flasche mit Kirschbranntwein und schenkte ein Glas ein. Der geplagte Postbote setzte sich und wischte langsam den Schweiß von der Stirn. Danu trank er voll Behagen den belebenden Tropfen und mit Appetit die Biersuppe, die ihm Dore in voller Schüssel vorgesezt hatte. Bald war das einfache Mahl verzehrt und Dore wieder allein.

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Sie stand vor dem Tische, auf dem der Brief lag. Dar mut awer watt instahn," murmelte sie und nahm das Schriftstück prüfend in die Hand. ,, Herrn Jochen Duggen," las sie, und auf dem Post­ stempel  :" Hamburg  ".

,, Hamborg?" fragte sie gedankenverloren, Ham­borg? wat deiht he denn dar?' t is awer doch to dull," fuhr sie zornig auf, nu geiht he gor all na Hamborg!"

Entrüstet schritt sie durch den Garten und rief auf die Wiese hinaus nach Jochen. Dieser stand mit einigen Arbeitern im Gespräche, und sie mußte wiederholt rufen, ehe er aufmerksam wurde, dann hielt sie den Brief in die Höhe und winkte. Und Jochen verstand sie. Er kam langsam heran.

,, De Bur hett schrewen, Jochen, hier, kiek her!" rief sie ihm entgegen.

,, Na, denn is' t jo gaud," entgegnete Jochen. " Und wat meenst Du, wo he is?" fragte sie erregt.

,, Na, dat warr ick jo sehn," erwiderte er. Sehn, sehn- rath mal!"

Kiel   Nee."

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Na, denn giww her."

In Hamborg  !"

" In Hamborg  ?"

Eine tödtliche Angst verwirrte der Frau die Gedanken, erstickte ihr die Stimme; sie flammerte sich an die Stuhllehne und blickte entsetzt auf das verhängnißvolle Schriftstück.

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, De Bur is weg!" stieß Jochen tonlos hervor. Weg weg? Na na- ne, blot dat ni,

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blot dat ni-1"

" Na Amerika."

Jochen!"

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In einem verzweiflungsvollen Schrei hallte der Name durch die Stube, die zitternden Kniee der Frau trugen sie nicht mehr, sie brach zusammen und schlug in wildem Schmerze die Hände vor das Gesicht. Ihr Schluchzen erschütterte den ganzen Körper.

Starr, den Brief in der Hand, den Blick auf die Zusammengefunkene gerichtet, stand Jochen da. Seine Energie war gelähmt, seine Auge auf die vom Leid gefällte Frau festgebannt. Er konnte es nicht abwenden; er sah das Zucken, das sie durch= bebte, er sah die Thränen, die durch die Finger rannen, er sah das graue Haar, das ihm mit einem Male weiß geworden schien er hörte ihr Schluchzen, ihr unverständliches Murmeln einzelner abgerissener Worte voll unendlichen Schmerzes... Die Röthe verflog, aschfahl wurde wieder sein Gesicht, der brennende Blick erlosch. Schweißperlen bedeckten die Stirn. Vergebens rang er nach Fassung, nach einem einzigen Worte. In seiner Hand knitterte der Brief es weckte ihn, er schleuderte ihn fort und stürmte hinaus.

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Lange noch lag die Frau gebrochen, endlich richtete sie sich auf. Beim Tasten nach dem Tische glitt anfangs die Hand kraftlos ab; erst mit Hülfe des Stuhles konnte sie sich langsam erheben. Die Sonne warf ihre Strahlen durch das Fenster gerade auf den Brief, der zerknittert anf dem Tische lag; wie ein Gespenst erschien er ihr. Sie faßte sich an

Jochen war überrascht. Er nahm den Brief hastig die Stirn. Gott  ! hatte sie nicht geträumt? Träumte an sich und schritt dem Gehöfte zu.

,, Nee, sowat, in Hamborg  !" sprach er unter­wegs. Wokeen kunn dat denken, dar harr ick jo binah ok noch wesen fünnt."

Jochens verstorbene Eltern hatten die letzten Jahre in Blankenese   gewohnt, und dort war er erst kürzlich gewesen, um den kleinen Nachlaß zu ordnen, fürzlich gewesen, um den kleinen Nachlaß zu ordnen, der allerdings kaum der Mühe verlohnt und nicht viel mehr als das Reisegeld ergeben hatte. Damit war er bei seiner Rückkehr noch von dem Bauer ge­neckt worden. Und vor einer Woche, bei seiner Ab­reise, hatte der Bauer scherzend gesagt, jetzt gehe er ebenfalls eine Erbschaft holen, hoffe aber mit volleren Taschen zurückzukehren.

Auf dem Tische lag noch ein Rest ungeschnittener Bohnen. Jochen schob sie zurück und wischte mit dem Aermel nach. Er legte die Pfeife hin und trennte den Brief mit dem Messer, das vom Bohnen­schneiden schwarz angelaufen war, ungeübt auf. Zwei Bogen enthielt der Umschlag. Umständlich faltete Jochen einen derselben auseinander und las. Das Schreiben war umfangreich, die Schrift unge­lent. Jochen vertiefte sich gespannt in den Inhalt und seine Hand zitterte leicht. Sein Gesicht war blaß geworden. Er schob die Pfeife weiter auf den Tisch, legte den Bogen vor sich hin, strich mit der Hand glättend darüber und begann mit dem Lesen von Neuem. Er sagte kein Wort. Aber in seinen Gefichtszügen arbeitete es. Seine Hand lag schwer auf dem Papier.

" Wat hest denn?" fragte Dore etwas unruhig; ,, dat geiht ja so langsam, as wenn Du ni bauf­stobirn2 tünntst. Dat' s doch fünst ni Din Art."

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Snack 3 Du un un de Deuwel!" fuhr der Angeredete heftig auf. ,, Lesen kann man doch ni mit Isenbahn! Na, lat   man gaud sin, Dweten," seste er freundlicher hinzu. Awer dat is mert­würdi is ganz merkwürdi... Wat hest Du seggt? Dweten!" Er sprang auf, das Blut stieg ihm jäh zum Kopfe und färbte das Gesicht dunkel, seine Augen brannten, die Lippen zuckten; sichtlich mühsam rang er nach Worten. Jochen, wat is segg mi- Jochen, de

Bur

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"

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Weißbrot. 2 buchstabiren.

3 rede.

4 Dorothea.

sie nicht noch? Aber der Brief, war er da, war es Wirklichkeit? Ja, da lag er! Sie schleppte sich um den Tisch nach dem Papier. Blendend weiß färbte ihn das Sonnenlicht, so hell, daß es das Auge schmerzte. Sie sah keine Schriftzüge, nur das sonnenbeschienene Weiße. Und dann suchte sie im Zimmer. Jochen! fuhr es ihr durch den Sinn. Er war nicht da. Nirgends. Sie setzte sich und schloß die Augen, um besser nachzudenken. Wo war er? Warum war er nicht da? Jochen! Sie wollte es rufen, aber sie konnte nicht; es flang matt, heiser, erstickt. Sie tastete nach dem Briefe und zog ihn mit zitternden Fingern näher an sich: wirr tanzten weiße und farbige Flecke auf dem Papier; sie ver­mochte keinen Buchstaben zu erkennen und mußte das Auge erst ruhen lassen. Dann hob sie wieder den Brief auf und versuchte zu lesen. Drei Mal, vier Mal begann sie von vorn. Was stand da? Zum fünften Male fing fie an, und mit zahllosen Unterbrechungen kam sie zu Ende:

Lieber Jochen!

Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich nicht mehr in Hamburg  . Ich habe das Leben in unserer alten Heimath satt, will mir eine neue gründen. Ich verlasse Hamburg   und fahre mit dem Schiller  " nach Amerika  . Das Geld nehme ich mit. Es wird ausreichen für eine Plantasche, die ich mir drüben kaufen will. Es ist ja Alles billig, fast umsonst. Den Hof daheim will ich auch ver­kaufen, sehe zu, daß Du ihn bald gut los wirst, und dann komme mit dem Gelbe nach. Tausend Thaler davon sollen Dir gehören, und ebensoviel soll Dore erhalten oder noch tausend Thaler mehr, und die Kathe soll sie auch behalten. Verkaufe sie also nicht, aber den Hof. Meine Adresse schreibe ich Dir bald, aber warte nicht darauf, sondern verkaufe. Wie mir ein Freund sagte, mußt Du eine Vollmacht haben zum Verkaufe. Die habe ich von einem Advokaten aufsetzen lassen und schicke sie Dir hier mit. So wirds alles gut gehen, und mir hoffentlich auch, und wir sehen uns drüben wieder. Grüß die Dore und sie soll nicht bös sein.

Dein Vetter David Duggen." Grüß die Dore!" das war Alles, was er ihr zu sagen hatte, ihr, die ihn seit der Mutter frühem