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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
gut, daß es da steht. Möge das Volk, wenn es zu den Standbilde des Prügelfürsten emporschaut, immer eingedent sein, daß er es war, der ein aufblühendes Kulturvolk in das geiſttödtende Einerlei der Kaserne preßte. Zweihundert Jahre fast sind verstrichen, seit er den Stock über Preußen schwang; er selbst ist lange ein Naub der Würmer geworden, sein Geist aber spukt noch immer unter uns, stets bereit, des Volfes beste Kraft dem Ungeheuer Heer zum Opfer hinzuwerfen. Der Zopf, den er als Erster einführte, hat sich troß aller sonstigen Fortschritte bis auf unsere Tage vererbt. Wann wird der kühne Held geboren, der seine Scheere an ihn magt?
Die Nihilistin.
Aus dem Russischen übersetzt von Louise Flachs- Fokschaneann. ( Fortsetzung.)
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Is sich Wasilzew außer Gefahr befand, schämte er sich natürlich sofort seiner Feigheit. Er dankte seiner Retterin, vor der er verlegen und gezwungen lächelnd stand, hastig und verwirrt. Er wollte nicht sogleich fortgehen und einen so ungünftigen Eindruck zurücklassen, wußte aber thatsächlich nicht, wie ein Gespräch mit diesem kleinen Wildfang anzuknüpfen, der ihn mit der unverhohlenen Neugierde eines halberwachsenen Kindes anblickte.
Er fand endlich die Worte:„ Was für ein Buch haben Sie da? Darf man es sehen?"
Wjera hielt unter dem Arm ihr theueres Leben der Heiligen". Wasilzew schlug das Buch aufs Geradewohl auf und las Folgendes:„ Der Imperator Diocletian, gegen den heiligen Märtyrer Isidor aufgebracht, befahl der Wache, ihn auf das Kapitol zu führen...."
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Was für ein Unsinn ist das!" entfuhr es un willkürlich Wasilzew.
Die blauen Baranzowschen Augen blizten zornig. Wjera griff rasch nach dem Buch, wandte sich ab und schlug, ohne sich umzusehen, den Weg nach Hause ein.
Im Laufe des Abends dachte Wasilzew unwill fürlich mehr als einmal an die komische Episode von heute Morgen, und die Erinnerung an sie rief jedes Mal in ihm ein Lächeln und einen leichten Aerger hervor.
Am folgenden Tage ging er fast unbewußt an den Ort seiner gestrigen Schmach. Zu seiner Verwunderung fand er auch Wjera dort; sie stand mit sinnendem Gesicht am Bach, als ob sie Wasilzew erwartet hätte.
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Wie?... Gott sei Dank, daß man sie ge- erzählen und auch gegen ihren Willen Einiges dazumartert hat?"
Das originelle Mädchen begann Wasilzew entschieden zu belustigen.
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,, Ach, nicht das, natürlich nicht das!" beeilte sich Wjera ein wenig verlegen zu entgegnen. Ich will nur sagen: Gott sei Dank, daß es wenigstens dazumal gute Menschen, heilige Märtyrer gegeben hat." „ Märtyrer giebt es noch jetzt," sagte Wasilzew
ernst.
zufügen. Gott weiß übrigens, wie das fam! Die Schwestern verstanden es so gut, jedes von Wasilzew gesprochene Wort zu erklären und zu deuten, daß es wahrhaftig auch ganz anders klang, als in jenem Augenblicke, da es ausgesprochen wurde.
Wjera selbst bemerkte es nicht, wie der Nachbar sich allmälig ihrer Gedanken bemächtigte und sein Bild ihr verändert erschien.
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Ein langer, unansehnlicher, nicht junger Mann mit einem sandfarbenen Gesicht und so furzsichtigen Augen, daß sie wahrscheinlich auch mit der Brille nichts sehen!" so beschrieb sie den Nachbar gleich
" Ja, in China !" meinte sie endlich. Wasilzew lachte abermals:„ Warum in der Ferne nach ihrer Bekanntschaft im Sumpf. Jezt, da er suchen... es giebt deren auch näher!"
Wjera sah ihn noch immer an und auf ihrem Gesichte prägte sich immer größeres Staunen aus.
Haben Sie denn niemals davon gehört, daß man bei uns in Rußland Menschen in die Festung bringt, nach Sibirien schickt, und daß sie oft auch gehenkt werden? Wie fragen Sie also, ob es Märtyrer giebt!"
„ Ja, aber bei uns werden doch nur Uebelthäter, Verbrecher verschickt!"
Diese Worte entschlüpften Wjera wider Willen. Denn faum hatte sie sie ausgesprochen, als bei dem Gedanken: der Nachbar sei doch auch ein Verschickter! eine dunkle Röthe ihr Gesicht färbte.
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Es kommt vor, daß man auch anderer Dinge wegen verschickt wird," sagte Wasilzew halblaut. Geraume Zeit gingen sie schweigend nebeneinander Wjera mit gesenktem Kopf und mit den Fingern nervös an den Enden ihres Halstuches zerrend. Ein Schwarm von seltsamen, verivorrenen Gedanken schwirrte ihr im Kopf. Sie fürchtete sehr, etwas Dummes zu sagen; sie könnte am Ende den Nachbar beleidigen; aber eine Frage war für sie so wichtig, so bedeutungsvoll, daß sie von derselben aus Schicklichkeitsrücksichten unmöglich abstehen konnte.
Warum hat man Sie verschickt?" sprach sie plößlich sehr hastig, ohne Wasilzew anzublicken. Dieser lächelte.
ihr anerkannter Verehrer wurde, wollte sie ihn so sehr zum Helden erheben, daß sie an ihm täglich ein neues Verdienst entdeckte. Heute fand sie, daß er ein angenehmes Lächeln habe, morgen bemerkte sie, daß sich ihm beim Lachen rund um die Augen so fomische, liebe Falten bildeten, und diese Falten erschienen ihr mit einem Male außerordentlich angenehm.
Sie lebte jetzt im Zustande beständiger Erwartung. Für jede Lektion bereitete sie sich mit Herzklopfen vor und während ihrer war sie nervös, aufgeregt und zitterte beständig: Wird es nicht heute?
Wjera und Wasilzew waren allein im Zimmer. Die Lektion war zu Ende, aber der Lehrer schickte sich noch nicht zum Fortgehen an. Er legte die Bücher zur Seite, ließ sich in den Stuhl nieder, stüßte den Kopf in die Hand und dachte nach. Dies geschah bei ihm nicht selten.
Wjera sizt unbeweglich neben ihm. Es wird ihr mit einem Male so unbehaglich, so schwer, sich zu regen. Sie heftet die Augen auf die nicht große, braune, magere Hand Wasilzews und betrachtete mechanisch die eine dicke, blaue Ader, die, an der Handwurzel beginnend, zwischen ein paar dunklen Härchen, bald wieder schmäler wird und sich bis zum Mittelfinger windet.
Es dämmert schon. Alles wird dunkel und die Umrisse verschwinden. Während die Hand Wasilzews " Sie möchten das sehr gerne wissen?" fragte sich wie mit einem Flor überzieht, strengt Wjera er, sie gleichsam neckend.
Wjera senkte als Antwort blos den Kopf, aber ihr Gesicht sprach für sie.
,, Und von den zeitgenössischen Märtyrern wollen Sie auch etwas wissen?"
Wjeras Augen glühten noch stärker.
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Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen... allein ich sage es Ihnen im Vorhinein: ich werde noch von vielen Anderen sprechen müssen." Wjeras Gesicht strahlte.
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Guten Tag," sagte er und streckte ihr freund ich vielleicht sprechen müssen. Werden Sie zuhören?" schaftlich die Hand entgegen.
„ Ist das Alles wirklich nicht wahr?" fragte sie, statt zu antworten, indem sie ihre großen Augen, deren Blick jetzt erregt, fast flehend war, zu ihm erhob. Als sie gestern einen so ungünstigen Ansspruch über ihr geliebtes Buch hörte, wurde sie vorerst böse; bald darauf verwandelte sich der Zorn in ein anderes, ein drückendes Gefühl:" Alle sagen, der Nachbar sei flug und gelehrt. Er muß es doch wissen. Nun, wenn all das von den Märtyrern wirklich ein Märchen wäre?"
Dieser Zweifel war sehr quälend, mußte verscheucht werden, was immer daraus entstehen mochte.
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Sie meinen das Buch, was?" lachte Wasilzew auf.„ Nun, urtheilen Sie selbst, Fräulein; der Imperator Diocletian regierte in Byzanz und das Kapitol befand sich in Nom. Wie konnte er also der Wache befehlen, den heiligen Märtyrer Isidor dorthin abzuführen?"
" Ach, davon sprechen Sie? Also blos das ist nicht wahr?"
„ Wie, blos? Das genügt doch!"
,, Nun, und ist es wahr, daß es Märtyrer gab?" Gewiß gab es solche."
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Und hat man sie zerfleischt, verbrannt und von den Thieren zerreißen lassen?"
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Alles das ist geschehen."
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V.
Am nächsten Tage machte Wasilzew den ersten Besuch beim Grafen Baranzow. Die Bekanntschaft war bald geschlossen und als nach einiger Zeit Wasilzew Wjera Unterricht zu geben wünschte, wurde Wasilzew Wjera Unterricht zu geben wünschte, wurde der Antrag dankbar angenommen, um so mehr, als der Graf trotz seiner Sorglosigkeit zeitweilig Gewissensbisse bei dem Gedanken empfand, daß die jüngste Tochter aus dem Geschlechte der Baranzow so wenig von Bildung belastet, wie irgend ein Dorfmädel Heranwuchs. Die Schwestern Wjeras zwei felten seit dieser Zeit nicht mehr daran, daß sie den Nachbar an sich gefesselt habe. Sie gratulirten ihr scherzweise zu der Eroberung. Das Aufziehen mit ihrem„ Verehrer" wurde ihnen bald zur Gewohnheit.
Dieses Gerede und die Neckereien erzürnten und verwirrten Wjera im Anfang. Nach und nach fing sie jedoch an, ein gewisses Vergnügen daran zu finden. Je nun, es ist ja stets schmeichelhaft, wenn gesagt wird, daß Jemand in uns verliebt ist. Wjera wuchs sogar in ihren eigenen Augen und wurde bedeutender, seitdem sich ein Verehrer für sie gefunden hatte.
,, Nun, wie war er heute zu Dir? Hat er sich noch nicht erklärt? Verheimliche nichts, wir bitten Dich! Erzähle Alles!" drängten die Schwestern nach
Gott sei Dant!" rief Wjera, erleichtert auf jeder Lektion mit Wasilzew in sie. athmend, aus.
Und Wjera begann fast gegen ihren Willen zu
unbewußt ihren Blick an. Es kommt über sie wie eine seltsame Erstarrung; mit jedem Augenblick wird es ihr schwerer, sich zu bewegen; das Herz pocht mit starken, vollen Schlägen, in den Ohren rauscht es, als ob irgendwo in der Ferne Wasser flösse.
Wasilzew fährt auf einmal aus seiner Versunkenheit auf.
,, Wjerotschka( Wjerchen), liebes..." begann er weich, wie einen früheren Gedanken fortsetzend, und legte seine Hand zärtlich auf sie.
" Da ist sie!" zuckte es wie ein Bliz durch Wjeras Kopf. ,, Gleich kommt die Erklärung!" Aber ihre Nerven sind zu gespannt. In der Brust krampft sich etwas zusammen und steigt in den Hals noch ein Wort und sie erstickt.
,, Bitte! Bitte! Sprechen Sie nicht! Ich weiß es ja ohnedies," entrang es sich ihr mit gepreßtem Laut. Sie erhob sich und lief in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers. Der bestürzte Wasilzew sah sie, einige Minuten sprachlos, ganz verloren an.
,, Wjerotschka, was hast Du?" fragte er endlich still und ängstlich.
Der Ton seiner Stimme brachte Wjera zu sich, und es wurde ihr mit einem Mal klar, daß sie eine große, entsetzliche Dummheit begangen. Was soll sie jetzt anfangen? Wie ihm erklären?
„ Ich glaubte... mir schien es..." stammelte sie unzusammenhängend und seufzte.
Wasilzew wandte den Blick von ihr nicht ab und der Ausdruck der ängstlichen Bestürzung veränderte sich allmälig auf seinem Gesicht in den Ausdruck eines unangenehmen, ärgerlichen Verdachtes.
,, Wjera, ich wünsche, ich fordere, daß Sie mir sagen, was Ihnen schien!"
Er steht vor ihr und hält ihre Hand fest. Seine Stimme flingt rauh und metallisch. Die blauen, furzsichtigen Augen bohren sich wie zwei Schrauben in ihr Gesicht. Unter dem Eindruck seiner eindringenden, forschenden Blicke fühlt Wjera, daß sie den Willen und ihre ganze Selbstbeherrschung ver= liert. Sie weiß, daß das Bekenntniß schrecklich sein