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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Ach, nein, allein lasse ich sie nie," proteſtirte Bettina; Sie wissen ja, die Welt ist so boshaft!" Aber im Grunde war die wahre Ursache folgende: bei den kleinen Soupers nach dem Theater war sie stets dabei, und oft hatte sie sich ein faltes Huhn in die Tasche gesteckt, während ihre Tochter die gauze Aufmerksamkeit ihrer Verehrer auf sich zu lenten wußte, die ihr um ihrer schönen Augen willen den Hof machten.

Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. bricht. In den letzten Tagen des Jahres war Chiarinella unerkennbar geworden. Sie flagte die ganze Nacht, weinte allein und steckte den Kopf in das Loch, das sie im Kopfkissen gemacht hatte. Am Drei­fönigstage fam Nunziata, um nach ihr zu sehen, und die Thränen traten ihr in die Augen. Sie lächelte ihr zu, die Aermiste, und zeigte ihr, ohne etwas zu sagen, die Orange, die sie aufbewahrt und unter der Bettdecke auf ihrem Herzen versteckt hatte.

Höre," sagte Nunziata zu ihr, ich komme, um Dir Gesellschaft zu leisten; ich habe Dich sehr lieb. Weißt Du, was heute für ein Fest ist? Heut ist Dreitönigstag. Heut in der Nacht kommt die Befana, die die artigen Kinder besucht. Du mußt an das Kopfende Deines Bettes einen Strumpf hängen. Wenn das Kind artig ist, legt die Befana ein kleines Geschenk hinein; ist es aber schlecht, so giebt es nur Kohle. Höre," fuhr sie fort, ich gehe jezt und werde die Christinella schicken."

Kurz darauf kam Nunziatas Tochter, ein Kind von fünf Jahren, mit lustigem Lachen herein. Sie hielt in den Armen eine Holzpuppe, der sie ihre Schürze umgebunden und eine kleine, gestickte Haube aufgesetzt hatte.

" Sieh nur, wie hübsch sie ist," und setzte sich auf das Bett," gieb ihr einen Kuß!"

Damit hielt sie ihr die Puppe an den Mund und Chiarinella füßte sie.

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,, Sie heißt Angelica," sagte Christinella, und ist meine Tochter."

Sie umschlang sie mit ihren Armen, fing an, sie zu wiegen und sang ihr ein Schlummerlied vor. Dann legte sie sie plößlich auf die Bettdecke und fragte: Aber was hast Du denn? Bist Du frank?" Ja!"

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Das hat nichts zu sagen, nichts zu sagen," behauptete sie ernsthaft, wie sie es manchmal von ihrer Mama gehört hatte, einmal ordentlich schwißen und Alles ist vorbei."

Als ihre Freundin nichts sagte, langweilte sich Christinella. Sie öffnete ihren kleinen, rosigen Mund, gähnte lange Zeit und reckte sich auf dem Bette in der Sonne.

Kannst Du in die Sonne sehen?" " Nein!"

,, Aber ich, sieh nur!"

Damit richtete sie ihre Augen, die sich bald mit Thränen füllten, auf die Sonnenkugel. Nachdem sie sich dieselben getrocknet, nahm sie ihre Puppe wieder und erhob sich.

" Ich gehe," sagte sie; ich muß dem Fräulein ihr Bett machen. Ach," rief sie, die Puppe um­armend, wie schön Du bist. Komm mit Deiner Mutter mit!"

Chiarinella blieb allein. Nach kurzer Pause erhob sie sich, wühlte in einem Winkel herum und fand dort, was sie suchte. Dann schleppte sie sich mit einer Anstrengung, die ihr beinahe Thränen ent= lockte, zu ihrem Bett und befestigte am Kopfende desselben einen kleinen, ganz durchlöcherten Strumpf.

Bettina erschien den ganzen Tag über nur zwei­mal im Hause und ging dann von Neuem aus, um Malia zu begleiten, die in Orpheus in der Unter­ welt " die Rolle der Venus spielte.

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In der Nacht hörte die Kleine im Halbschlummer eine Männerstimme auf der Treppe, der die Stimme Malias antwortete: Adieu! Auf Wiedersehen! Besten Dank!"

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Die Nacht des Dreifönigsfestes war falt, aber flar und bestirnt. Ein tiefes Schweigen herrschte in der schmalen, einsamen Straße, ein noch größeres Schweigen in dem Zimmer, als Malia und Bettina

Vom Schon

ihre müden Augen zum Schlummer schlossen. Der ihre müden Augen zum Schlummer schlossen. Der dächte sie noch garnicht an den Frühling. eine der rosa Strümpfe der Tänzerin hing am Kopf- Süden fliegen jeden Tag neue Gäfte zu. vor einer Woche zeichnete sich am Himmel der erste, ende ihres Bettes. Sie selbst hatte lächelnd einen kleinen goldenen Ring und ein paar Strumpfbänder schwarze, dreieckige Kranichzug ab. Der Specht schlägt im hohlen Stamm der alten Buche. Die Schwalben aus parfümirter Seide hineinfallen lassen. Sie war ihre eigene Befana gewesen, denn sie wußte, daß flattern unter dem Balkondach umher, ihre alten die Befana ihr ihren Strumpf doch leer lassen würde. Nester suchend, und führen einen heißen Kampf mit Die Häuser der Armen betritt sie nicht. den Sperlingen, die von dem ehemaligen Eigen­Chiarinella schlief und träumte von der Puppe thum jener schon im Laufe des Winters Besitz er­ihrer fleinen Freundin.

Am nächsten Morgen erhob sich Malia früher als gewöhnlich. In der ganzen Nacht hatten der Ring und die Strumpfbänder ihr ins Ohr getuschelt. Ring und die Strumpfbänder ihr ins Ohr getuschelt. Sie näherte sich dem Fenster und fing an, die hübschen Geschenke zu bewundern, indem sie den Ring, der herrlich leuchtete, mit ihrem Schürzenzipfel rieb.

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, Sehr schön! sehr schön!" sagte Frau Bettina und blickte ihrer Tochter über die Schulter.

Chiarinella streckte die Hand aus, machte den fleinen Strumpf los und sah hinein; ihr kleines Herz schlug stärker; doch in dem Strumpf befand sich nichts.

Malia machte sich trällernd an ihre Toilette; leichte Schauer ließen ihre schönen, weißen Schultern erzittern. Die Weißblechschüssel füllte sich mit schnee­igem Schaum und die Flocken spriẞten umher. Die Sonne war noch nicht in das Zimmer gedrungen, doch durch die Scheiben erschien der blaue Himmel von durchsichtigem Azur, über den die Befana in der Nacht mit ihrem Pfauenfederwedel hin- und her­gefahren war.

Der kleine, durchlöcherte Strumpf war auf die Decke des ärmlichen Lagers gesunken, und neben ihm lagen die beiden blutleeren Hände, während zwei große Thränen langsam Chiarinellas Wangen herabrollten.

Die Nibilistin.

Roman von Sonja Kowalewska.

Aus dem Russischen übersetzt von Louise Flachs- Fokschaneaun. ( Fortsetzung.)

G

VI

war Ende April. Der Frühling fam in diesem Jahre plöglich.

Nachdem die Flüsse eisfrei geworden und der Schnee geschmolzen, hielt die Kälte noch lange an; Schnee geschmolzen, hielt die Kälte noch lange an; Alles entfaltete sich langsam, träge, wie unwillig- einen Schritt nach vorwärts, zwei zurück. Es war, als hätte man jedes Gräschen, jedes Pflänzchen in­ständigst bitten und überreden müssen, es möge sich entschließen, den Winterschlaf abzuschütteln und die zarte Spize des frierenden Blättchens aus der Erde hervorzustecken. Einen rechten Frühlingseifer konnte man nicht bemerken. Plötzlich kam über Nacht ein leiser, warmer Regen, und von da an waltete ein Zauber. Wie aus Eimern schütteten sich die kleinen, duftenden Tropfen eines Frühlingsregens auf die Erde. Alles erwachte im Wunsche, zu leben. Ein Jedes beeilte sich, vorwärts zu dringen, das Andere stoßend und drückend, als fürchtete es, die Frist zu versäumen. Keines wollte nachgeben, Jedes sein Recht auf Eristenz behaupten.

Am nächsten Morgen erwachten die Einwohner von Borki und staunten. Was ist da Alles in einer einzigen Nacht geschehen! Weder Garten noch Felder und Wälder sind zu erkennen. Gestern Abend war all das schwarz und fahl; jezt hat es sich in das zarte Grün des kommenden Sommers verwandelt. Und die Luft ist anders als gestern, und es athmet sich so ganz anders. Jezt ist gerade der Höhepunkt des eiligen, ruhelosen Frühlingsfiebers. Die Birken haben sich schon mit zarten Blättchen, durchsichtig wie Spigen bekleidet. Große aufquellende Pappelknospen werfen ihre klebrigen, harzigen Hüllen zur Erde, die Luft mit einem würzigen, berauschenden Aroma füllend. Der gelbe duftende Blüthenstaub der Erlen und Haselnußfäßchen fliegt mit den weißen Blumen blättchen der Ahlkirschen und Weichseln überall herum. Auf den Tannen sprossen große, helle Schößlinge, die kerzengerade stehen und die unter den alten, die kerzengerade stehen und die unter den alten, vorjährigen Nadeln ein seltsames Aussehen haben. vorjährigen Nadeln ein seltsames Aussehen haben. Die Eiche allein steht noch kahl und düster, als

griffen haben. Aus der Erde steigen warme Dünfte auf. Man glaubt zu spüren, wie sich dort unten im Schooß der Erde eine seltsame, geheimnißvolle Arbeit vollzieht. Man kann keinen Schritt machen, ohne auf den Keim eines neuen, jungen Lebens zu treten eines Pilzes, Grashälmchens oder In­settes. Im Bach giebt es lebhafte Liebesgeständ= nisse. Jeder Sumpf wimmelt von Milliarden der verschiedensten wunderlichen Daseinsformen; und Alles das bewegt sich, Alles das ist von dem Bewußtsein der Wichtigkeit seines eigenen Ich durchdrungen.

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Im ehemaligen Klassenzimmer des Baranzow­schen Hauses sizt, über den Schreibtisch gebeugt, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, schlank und groß, mit einem feinen, wie gemeißelten Profil mit sinnenden, blauen Augen, die von schwarzen Wimpern eingerahmt sind. Vor ihr auf dem Tische liegt ein offenes Buch, ein Bändchen von Dobroljubow , aber man sieht, daß es ihr schwer wird, die Gedanken auf das, was sie liest, zu konzentriren. Sie er= hebt jeden Augenblick den Kopf, lehnt sich in den Stuhl zurück, ihre Hände spielen mit dem Papier­messer aus Bein und in den Augen zeigt sich der erwartungsvolle, gespannte Ausdruck, als horche sie, ob Jemand komme.

Es war schwer, in dieser jungen Schönheit die ehemalige, gebräunte, magere, halberwachsene Wjera wieder zu erkennen. Seit der denkwürdigen Aus­einandersetzung mit Wasilzew waren drei Jahre ver­gangen. Aeußerlich verstrichen diese Jahre still, ohne Ereignisse und Erschütterungen, aber für Wjera waren sie reich an innerem Inhalt. Die Freund­schaft zu Wasilzew wuchs und befestigte sich, dafür aber löste sich Wjera von ihren Hausgenossen gänz lich los. Den Schwestern wurde es langweilig, sie mit dem Nachbar zu necken, und sie machten das Kreuz über sie. Da Wjera Wafilzew schon als fleines Mädchen näher getreten war, hielten es die Eltern in gewohnter Sorglosigkeit für unnöthig, das jezt zu hindern, da sie ein erwachsenes Fräulein war.

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In der lezten Zeit aber fielen die Aktien" Wasilzews in den Augen der benachbarten Guts­befizer tief. Man sagte ihm einige sehr wichtige Vergehen nach. Erstens gab er seinen Bauern allen Grund, den sie vorher zinspflichtig besaßen, ohne Lösegeld frei, und dadurch brachte er nicht nur seiner eigenen Tasche einen empfindlichen Schaden, sondern gab auch allen anderen Bezirken ein böses Beispiel; zweitens argwöhnte man, daß er sich in fremde Angelegenheiten einmenge, fremden Bauern unge­betene Rathschläge gebe und manche listig ersonnene Kombination zerstört habe, die bald von diesem, bald von jenem Gutsbesizer bei der Theilung mit den ehemaligen Leibeigenen ausgeklügelt wurde.

Wiewohl man Wasilzew nichts Gesetzwidriges bestimmt nachweisen konnte, waren doch Alle im All­gemeinen darin derselben Meinung, daß er sich gar nicht so betrage, wie es sich in seiner Lage gezieme, und allem Anscheine nach völlig vergesse, daß die Verbannung auf das eigene Gut zu besonderer Vor­sicht verpflichte.

Einer der Bekannten hat es schon versucht, ihm den Wink zu geben, daß auch bereits der Gouver­neur seine Zähne nach ihm zu fletschen beginne, allein er beachtete es garnicht.

Während die Gutsbesizer mit Wasilzew schmollten, liebten ihn die Bauern grenzenlos und konnten nicht aufhören, sich seiner Anwesenheit zu freuen. Die erste Zeit verhielten sie sich in Wahrheit scheu und wollten garnicht an die Rückerstattung der Grund­stücke ohne Lösegeld glauben. Sodann waren sie der Meinung, daß er ein Dummkopf sei. Sie über­zeugten sich allmälig, daß man sein Vorgehen nicht