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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Stimme; aber sie schüttelte schweigend den Kopf, sie wollte bei ihm bis zu Ende bleiben. Eine seltsame Erstarrung, das Gefühl, als ob die Umgebung nicht eristirte, überkam sie wieder. Wasilzew ging umher und sprach gleichfalls wie im Traume.... Alle seine Hausgenossen, die alte Köchin, der Dorfälteste, die Bekannten unter den Bauern kamen nacheinander, um von ihm Abschied zu nehmen.

Ins Zimmer tretend, befrenzten sich die Männer vorerst vor dem Heiligenbild, dann gingen sie auf den Herrn zu und füßten ihn, nachdem sie sich zu­erst den Schnurrbart abgewischt hatten, dreimal erust, feierlich, als wollten sie eine religiöse Handlung vollführen. Einige Weiber mit den Kindern auf dem Arm standen vor dem Thor und drückten ihren Schmerz durch Weinen aus, ähnlich wie bei den Klagegesängen um einen Verstorbenen.

Wjera sah mit trockenen Augen zu, wie diese Leute kamen, sprachen, seufzten, weinten; sie er­schienen ihr wie Automaten, die eine wunderliche, verwickelte Vorstellung gaben.

Der Gendarmerieoberst frühstückte im Neben­zimmer, indem er aus dem Fläschchen eifrig nach­füllte.

Auch Ihnen, Bäterchen Stepan Michailowitsch,

könnte es nicht schaden, wenn Sie sich vor der Reise stärkten!" sagte er mit gutmüthigem, aufmunterndem Tone.

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Durch die halboffene Thür warf er verstohlen einen neugierigen Blick auf Wjera keinen direkten Blick, da er vermuthlich errieth, daß sie feine gewöhnliche Dienstmagd sei.

Das Dreigespann des Tarantaß fuhr bei dem Thore vor. Der Oberst setzte sich zu Wasilzew; einer der Gendarmen nahm auf dem Bock neben dem Kutscher Plaz, der andere blieb noch vor dem Hause zurück.

He! Mit Gott !"

Die Pferde zogen an und der Tarantaß fuhr, auf dem fumpfigen Weg sich wiegend, fort. Er ver­schwand bald bei der Biegung hinter dem Birken­wäldchen. Das Geflingel der Schellen wurde von Minute zu Minute schwächer. Endlich verhallte es gänzlich. Man hörte nichts mehr als die gewöhn­lichen melodischen Töne des Frühlingsmorgens auf dem Lande.

Wjera ging still, gesenkten Kopfes, ohne sich umzublicken, nach Hause.

Die Blüthen der Ahlkirsche besäeten sie mit weißen Blättchen, große duftende Thautropfen fielen auf sie von den Zweigen herab. Ein junger Hase sprang über die Wiese, hockte sich auf einen moos­bewachsenen Hügel und begann mit den Vorder­pfoten zu trommeln, womit er die Häsin zu sich rief; aber als er plötzlich ein menschliches Wesen erblickte, legte er die langen Ohren zurück und ent­sprang mit einem Sazz in den Wald. Der Himmel funkelte und strahlte, wie wenn die Sonne sich in den azurnen Aether ergossen und das ganze Himmels­gewölbe überfluthet hatte. Aus der Höhe ertönte von einem kleinen schwarzen flatternden Punkte ein mächtiges Lied von Glück und Liebe, das die ganze Atmosphäre erfüllte....

VIII.

Still und langfam verrinnt die Zeit. Tag auf Tag schleicht dahin, einförmig, schwer, von grauer, bleierner Schwermuth erfüllt.

In der ersten Zeit nach Wasilzews Abreise war Wjeras ganzer Organismus von dem erlittenen ner= vösen Schlag derart erschüttert, daß sie selbst die große Trauer nicht empfand; jede Fähigkeit, voll zu leben und sich zu erregen, erstarb in ihr. Das vorherrschende Gefühl war eine tiefe, niederdrückende Erschöpfung. Ganze Tage verbrachte sie wie im Schlafe, der geringsten Gedankenthätigkeit unfähig. Es kam auch vor, daß sie mitten in einem Gespräch plößlich einschlief. In dieser seelischen Apathie tauchten für einen Moment gleichsam physische Erinnerungen an die letzten Minuten auf, die sie mit Wasilzew verbracht hatte.

In ihren Ohren erklang seine weiche, zärtliche Stimme; auf den Lippen spürte sie noch etwas von dem glühenden Stuß. Ueber ihren ganzen Körper

lief ein Schauer der Erregung. Und seltsam, nach jeder solchen Minute kam plötzlich über sie eine ge= wisse Beruhigung, die unerschütterliche Ueberzeugung:

" So kann es nicht enden! Wir werden uns wiedersehen!"

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Die Zeit verging, und inzwischen kehrten ihre physischen Kräfte zurück und machten sie für tieferes Leid empfänglich. Mit der Wiederkehr zu der ge= wohnten Beschäftigung äußerte sich auch das Be­dürfniß, Wasilzew zu sehen ein immer dringen­deres und qualvolleres Bedürfniß, aus einer drei jährigen, täglichen Gewohnheit entstanden. Jede Kleinigkeit, jedes nichtige Ding erinnerte sie grau­sam an ihn; er hatte auf jeden Gegenstand ihrer Umgebung gewissermaßen seinen Stempel aufgedrückt; was sie auch thun, was sie beginnen mochte sie stieß unvermeidlich auf irgend Etwas, das lebhaft die Erinnerung an die Vergangenheit, an die glück­lichen Minuten, an die kleinen bedeutungslosen Epi­soden erweckte, denen sie damals nicht die geringste Aufmersamkeit schenkte aber die Erinnerung daran steigerte jetzt noch ihre heiße, tiefe Verzweiflung.

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Am schlimmsten war das Erwachen am Morgen. Sie hatte jetzt so wunderliche, deutliche Träume: fie

zärtliche Ergüsse; es war klar, daß Wasilzew sich vor Augen hielt, es könnte der Brief in fremde Hände gerathen. Allein nie hat wohl je der längste Brief, das leidenschaftlichste Schreiben eine größere Freude hervorgerufen, als dieses kleine Stück Papier . Wjera kam vor Glück beinahe um den Verstand! Wie es stets geschieht, wenn ein Mensch schon viel gelitten hat, so freute auch sie sich bei der ersten Erleichterung so sehr, daß es ihr vorkam, als sei Alles vorbei; der Schmerz als ob er niemals

gewesen wäre.

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Das Wichtigste war, sie besaß Nachricht von ihm. Am schrecklichsten war ihr der Gedante ge­wesen, er sei plötzlich irgendwo zu Grunde gegangen, gleichsam unter die Erde verschwunden, so daß keiner­lei Verbindung mit ihm zurückgeblieben. Jetzt zeigte sich doch wenigstens die Möglichkeit zum Briefwechsel, seine Abfahrt ward zu einer gewöhnlichen Abreise, die Trennung von ihm erschien wie eine vorüber­gehende Unannehmlichkeit, nicht mehr als solch ein niederdrückendes, aussichtsloses Unglück wie vorher. ( Fortsetzung folgt.)

sah ihn so greifbar, so lebendig, fühlte mit ihrem Altes und Neues aus dem Reiche der Tonkunft.

ganzen Wesen seine Nähe; und dann ging Alles so thatsächlich vor sich, war Alles mit einer Menge fleiner getreuer Details ausgestattet, gauz wie in der Wirklichkeit, daß es ihr sogar widerfuhr, im Traum voller Freude zu sagen: Nein, jezt ist das aber fein Traum! Jetzt ist es Wahrheit!" Und auf einmal, wie wenn der Schleier gerissen wäre, ver­wandelt sich Alles und verschwindet und zerriunt so­fort, eine starke Erschütterung geht durch ihren ganzen Organismus, und es ist nichts mehr da; sie ist wieder allein, im Bett; wieder wird sie von dem qualvollen Bewußtsein ihrer Einsamkeit erfaßt. Wieder liegt sie da und windet sich und zerfließt in hoffnungslose Thränen. Und mit jedem Tage wird es ärger, die Schwermuth immer tiefer.

Wjera hatte sich auch früher von ihren Haus­genossen ferngehalten, jezt aber wurden ihr die Ge­sellschaft der Schwestern, ihre kleinlichen Interessen, ihr leeres Gerede unerträglich. Alles erschien ihr farblos, abgeschmackt. Traf sie mit Jemand zu­sammen, so dachte sie blos daran, je rascher, je lieber davonzugehen; es schien ihr, sie müßte allein sein, um ernst denken zu können, nur wenn man sie in Ruhe ließ, begann sie wirklich auch sofort zu denken, rasch, leidenschaftlich zu träumen. Ihrer Phantasie erschienen die unsinnigsten Bilder: Sie hat so oft schon im Geiste die Szenen durchlebt, wie sie entflieht, nach Wasilzew sucht, wo immer es sei, auch auf dem Meeresgrund. Die Träume ver= schafften ihr für wenige Minuten Erleichterung, aber plötzlich taucht von irgend woher ein falter, ernich­ternder Gedanke auf:" Ich habe keine Kopeke Geldes und bis nach Wjatka sind es dreitausend Werst! Ja, und wohin gelangt man ohne Paß in Rußland ? Von der ersten Station wird man per Etappe zurück­geschickt." Die Träume verflogen und ließen einen bitteren, widerlichen Nachgeschmack zurück. Nicht die kleinste begründete Hoffnung war vorhanden. blieb nur der vage Glaube an ein Wunder.

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Anfangs, als der Schmerz sie überwältigte, stellte sich ein Gefühl der Empörung ein. Man kann nicht so leiden! Das muß ein Ende nehmen!" Allein das Ende kam nicht. Das Leiden wurde zur normalen, alltäglichen Sache. Nun vergrößerte sich bei jedem Parorysmus die verzweifelte Bitterfeit des Momentes noch durch die Erinnerung an das Gestrige und die Gewißheit, daß auch morgen dasselbe sein wird.

Und da, als sich Wjera schon gänzlich der Hoff­nungslosigkeit hinzugeben begann, als die trübe, stumpfe, bleierne Schwermuth zur beständigen Stim­mung wurde, schimmerte mit einem Male ein Strahl von Glück: sie erhielt von Wasilzew einen Brief. Er konnte ihr nicht in üblicher Weise durch die Post schreiben: die Briefe wären von der Polizei oder den Eltern unterschlagen worden; aber er richtete es so ein, daß er ihr die Nachrichten durch einen bekannten Kaufmann sandte, der mit Wjatka in Handelsbeziehungen stand.

Der Brief war kurz, sehr zurückhaltend, ohne

D

Von Adolf Lubnow.

I.

Der moderne Gassenhauer.

er bekannte Musikschriftsteller Eduard Hanslick theilt im fünften Bande seines Werks über

die moderne Oper ein hübsches Wort des Aesthetikers F. Th. Vischer mit: Unter den Künſten zwingt die Musik am wenigsten, die Gedanken zu­sammenzuhalten, darum ist die Mehrzahl musikliebend. Alle Menschen sind eigentlich Wiener." Wenn dieser Ausspruch je Geltung gehabt hat, so trifft er für unsere unruhige, nervös überreizte Zeit zu. Dent weitaus größten Theil unseres Publikums, das sich nach dem erregenden Drängen und Hasten der Tages­arbeit nach einem Kunstgenuß sehnt, fehlt die Ruhe und Sammlung, sich in die Betrachtung eines Kunst­werks der Malerei oder Skulptur zu vertiefen oder bei der Poesie Trost und Erhebung zu suchen. Die genannten redenden und bildenden Künste ermöglichen eben keinen mühelosen Genuß, sondern verlangen redliche Hingabe und Anstrengung des Geistes. Anders die Musik. Ihre Kunstwerke fordern von der großen Menge ihrer Hörer feine Konzentration der Geistes­fräfte auf ein bestimmtes, scharf umrissenes Objekt: bei dem bunten, ewig wechselnden Spiel der Töne bleibt es den Gedanken unverwehrt, nach Gelüst spazieren zu gehen und in den schillernden, gaukelnden Toureihen immer von Neuem die wonnigsten Bilder und Vorstellungen auftauchen und verschwinden zu sehen. Die Mehrzahl unseres musikliebenden Publi­fums fühlt sich, wie Guzkow einmal impertinent treffend von sich sagt, von der Musik lediglich an­Man ver­genehm hinter die Ohren gefrabbelt. gleiche nur das Verhalten des Publikums in einer Gemäldegalerie oder bei einer ernſten dramatischen Vorstellung mit dem Gebahren des größten Theils unserer Konzert- und Opernbesucher. Hier andachts­volles Schweigen und ernſtes Bemühen einer kleinen Gemeinde, in den Geist des Kunstwerks einzubringen, dort fröhliches Plaudern und heiteres Schwelgen im mühlosen Genuß einer dichtgedrängten Menge. Die Musik hat sich längst zur allgewaltigen Alleinherr­scherin in unserem Kunstleben aufgeschwungen. Das Klavier hat sich auch in der bescheidensten Behausung Eingang zu verschaffen gewußt, ein unentwirrbares Netz von Musikvereinen jeder Art spannt sich über die Länder, und in allen unseren größeren Städten ist die Oper das verhätschelte Schooßkind Aller ge­worden, während sich das gesprochene Drama all­mälig in die Rolle des Aschenbrödels hat finden müssen.

Der rasche und glänzende Sieg der Musik im Wettstreit der Künste, der sie zu einer Großmacht gemacht hat, deren Einwirkung wir uns in feiner Lebenslage zu entziehen vermögen, hat einmal eine ins Ungemessene gesteigerte Produktion auf dem