182
Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
der Muse Eines gemeinsam: eine bald in sentimentaler Gefühlsduselei, bald in roher Laszivität schwelgende dichterische Unterlage, der eine lüderliche, bis zur Trivialität einfache, aber darum sich dem Ohr sofort einprägende, zumeist rhythmisch prägnante und daher vorzugsweise sich in Tanzformen bewegende Komposition entspricht. Aus der gehaltlosen, aber Aus der gehaltlosen, aber sinnfälligen und markanten Melodik des Gassenhauers erklärt sich seine ungemein schnelle Verbreitung und Popularität, aus der starken Betonung des rhyth= mischen Elements, seine stets mangelhafte Dekla= mation und die Inkongruenz zwischen Wort- und Tonaccent. Der Gassenhauer bedarf durchaus nicht der Mitwirkung der menschlichen Stimme, um seine volle Wirksamkeit in den Kreisen, in denen er sein Publikum sucht, auszuüben. Schon an dieser Stelle sei als überaus charakteristisch für das eben gedachte Moment ein hübscher Scherz aus einem der älteren Jahrgänge des„ UI*" angeführt: eine Deputation von Berliner Schusterjungen entbietet Ludolf Wald mann , dem bekannten Großmeister der Berliner Gassenhauerkompositeure, im Namen ihrer Berufsgenossen ehrfurchtsvollen Gruß und erklärt feierlichst die Kleine Fischerin" für die„ pfeifbarste" Melodie.
Der moderne Gassenhauer, wie er uns in Gestalt von unzähligen" pfeifbaren" Melodien aus jedem Winkel, aus jeder Gasse entgegenschallt, ist ein Produkt der neuesten Zeit, der letzten drei Jahrzehnte. Daß einzelne Gesangsmelodien bereits in weit früherer Zeit allgemeine Popularität erlangt haben, ohne, was das Entscheidende ist, Volkslieder im eigent lichen Sinne dieses Wortes zu werden, ist freilich nichts Neues. Eine durchaus nicht geringe Anzahl von Melodien aus den Werken unserer Klassiker ist dem musikalischen Hausschatz unserer Vorfahren einverleibt und aller Orten gesungen und geträllert worden, ja, hat sogar auf dem Wege mechanischer Vervielfältigung weiteste Verbreitung ge= funden. Das Briefduett aus" Figaros Hochzeit " und das Duett: Bei Männern, welche Liebe fühlen" aus der„ Zauberflöte " sind Mozartsche Melodien, die gleich nach ihrem ersten Bekanntwerden, losgelöst vom verbindenden Bande der Opernhandlung, Eigenthum der gesammten musikliebenden Welt geworden sind. Wie sehr in den zwanziger Jahren ganz Berlin im Banne des:" Wir winden dir den Jungfernfranz" aus dem Weberschen Freischütz" stand, hat H. Heine in seinen Reisebildern überaus ergötzlich geschildert. Selbstverständlich haben diese Melodien mit dem modernen Gassenhauer nichts als ihre PopuIarität gemein. Eine weit nähere, bedenkliche Verwandtschaft mit unserem Gassenhauer zeigen gewisse Säße der Meyerbeerschen und der modernen italienischen Oper. Als in allen deutschen Gauen populärste Opernmelodie kommt in der Zeitfolge dem Weberschen Brautlied die als Gassenhauer geradezu prädisponirte Siziliana: Ach, das Gold ist nur Chimäre" aus der Meyerbeerschen Oper Robert der Teufel " am nächsten. Rein musikalisch betrachtet Vollblutgassenhauer, der sich auch in unserer Reichshauptstadt darum eine ungeschmälerte Popularität bis heute bewahrt hat, ist der Schattentanz aus der Oper„ Dinorah " desselben Tondichters, an dem sich der Berliner Volfswig in einer Unzahl von der Melodie mehr oder weniger entsprechenden Tertunterlagen erprobt hat; noch heute wird die grausame Melodie in Berlin nach den Worten:
"
Auf einem Omnibus Saß ein Mechanikus,
Der hatt' Lackstiebeln an 2c. gesungen. Als die Meyerbeersche winselnde und abgehackte, aber nicht mit Unrecht auf den Ohrenkizel des musikalischen Pöbels spekulirende Melodik ihren Vernichtungszug durch die nachroſsinische italienische, namentlich Verdische Oper angetreten hatte, war der Boden für den modernen Gassenhauer, was das spezifisch Musikalische anlangt, bereits vollauf geebnet. Die lüderliche Polka- Mazurka- Kanzone: Ach, wie so trügerisch" aus Verdis Rigoletto", die sich bis heute einer beispielslosen Popularität erfreut und noch immer eine der dankbarsten Nummern auf dem Repertoire unserer Leierkastenmänner bildet, ist, um nur ein Beispiel namhaft zu machen, gewiß nicht
"
"
spurlos an der Bildung des musikalischen Geschmacks unseres Publikums vorübergegangen. Der entscheidende Anstoß fam jedoch von anderer Seite. Das deutsche Volkslied hatte, befruchtet von der Liedkomposition unserer großen Romantiker, namentlich Schuberts und Webers, in den ersten vier Jahrzehnten unseres Jahrhunderts eine erfreuliche Nach blüthe gezeitigt, der freilich kein langes Dasein beschieden war. Die allgemeine Verflachung und Verrohung des musikalischen Geschmacks, die mit den schnellen Siegeszuge der neueren italienischen Oper schnellen Siegeszuge der neueren italienischen Oper durch Deutschland eintrat, blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Liedkomposition. Die weichliche, schmachtende, aber doch noch vielfach edle und origi= nelle Melodik Bellinis und Donizettis wurde unter den Händen Abts, Kückens, Prochs, Gumperts und so mancher anderer einst hochgefeierter Liedkomponisten zur unleidlichen Sentimentalität und krassen nisten zur unleidlichen Sentimentalität und krassen Trivialität. Und als vollends die moderne Operette, die Schöpfung des leichtfertigen und frivolen, aber immer geistreichen und originellen Spötters Offen bach , über die Grenzen Frankreichs hinaus drang und in den weitaus meisten der wie Pilze nach dem Regen emporschießenden deutschen Singspiele eine maßlose Verwässerung und Karrifirung fand, waren die weitesten Kreise des Volkes der einfachen und kräftigen Nahrung der alten und neuen Klassiker überdrüssig und dem Gassenhauer der Weg gebahut.
"
Die große Mehrzahl der in den beiden letzten Jahrzehnten populär gewordenen Gassenhauer stammt aus Berlin . Nicht nur für das moderne Schauspiel, sondern auch für den modernen Gassenhauer ist es längst zum guten Ton geworden, seine Feuertaufe in der Reichshauptstadt zu erhalten. Dazu ist ein großer Theil der ersten Gassenhauer direkt Operetten, die ihre Zugkraft gleichfalls zuerst in Berlin zu be= währen pflegen, entnommen. Zuerst war es die banale, aber einschmeichelnde Melodik gewisser Operettenstellen, die ihnen zu schneller Popularität erst in der Hauptstadt, dann in den Provinzialstädten, dann im ganzen Lande verhalf. Dann aber begann der Volkswiß, der zumeist saft- und kraftlosen Diktion der Operettenterte überdrüssig, für seine Lieblingsmelodien Operettenterte überdrüssig, für seine Lieblingsmelodien eigene Tertunterlagen zu schaffen. Dem Gaseigene Tertunterlagen zu schaffen. Dem Gasparonewalzer wurde durch den„ Koaksmann" ein unverfälschtes Berliner Kolorit verliehen, der Madonna Teresa aus Dellingers Don Cesar" wurde flugs in einer stattlichen Anzahl von Parodien statt der spanischen Mantille das Mäntelchen der Berliner Konfektioneuse umgehangen. Ein großer Theil der populärsten Gassenhauer, die allmälig aus dem Nahpopulärsten Gaffenhauer, die allmälig aus dem Nahmen der Operette heraustraten und sich offen als Gesangswalzer und sonstige Tanzlieder gaben, hat Gesangswalzer und sonstige Tanzlieder gaben, hat freilich seinen ursprünglichen Charakter einer lüder lichen, verschwommenen Sentimentalität im leiernden Dreivierteltaft beibehalten. Da wird bald der„ himmelblaue See" angeschluchzt und beweglich darüber ge= flagt, daß er nicht„ Herzeleid und Weh" des Sängers kenne, bald wird mit Emphase versichert, wie süß" trene Liebe ist, bald das holde Liebchen zu„ süßen Träumen" aufgefordert, oder mit der Erzählung kurioser Träume unterhalten, in denen Elfen und Feen höchstpersönlich auftreten, von denen freilich Steine so wie sie" ist. Unter den Tageskomponisten hatte sich schnell eine besondere Spezialität von Gesangswalzern- und sonstigen Tanzliedkomponisten sangswalzern- und sonstigen Tanzliedkomponisten herangebildet, die ihr überaus einträgliches Geschäft zumeist in Kompagnie mit ihnen ebenbürtigen Dichtern betrieben. Die größte Beliebtheit und weiteste Verbreitung haben wohl die Kompositionen Rudolf För sters und des oben genannten Ludolf Waldmann erlangt. Allein die heute längst vergessene Kleine Fischerin" Waldmanns brachte ihrem Stomponisten das hübsche Sümmchen von achtzigtausend Mark ein. Mozart erhielt für den„ Don Juan" hundert Dukaten! Die große Mehrzahl der gegen das Ende der siebziger und den Anfang der achtziger Jahre kompoziger und den Anfang der achtziger Jahre kompo nirten Gaffenhauer trug, wie gesagt, sentimentalen nirten Gassenhauer trug, wie gesagt, sentimentalen Charakter. Entweder wurde das Mutterglück besungen, oder die Untreue der Geliebten beklagt, oder die holde Natur angeschwärmt. Gegen die Mitte der achtziger Jahre hin wurde das Repertoire bc= deutend reichhaltiger. In Sonderheit sind es jetzt gewisse Erscheinungen und Eigenthümlichkeiten des
"
" 1
"
" 1
Berliner Lebens, die der tertlichen Unterlage der Gaffenhauer ein besonderes Gepräge verleihen. Diesem Genre gehören der noch heute bekannte ,, Nirdorfer" und die ebenso berüchtigte Holzauktion im Grune wald " an. Von derselben Zeit an beginnt sich der Gassenhauer auch mit gewissen Auswüchsen der Mode, die nirgends so sehr die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermögen, als in dem kritisch veranlagten, spottsüchtigen Berlin , zu beschäftigen. Das Leben des beneidenswerthen Gigerls wird zum Gegenstand eines flotten Marschkouplets, und als Pendant hierzu darf die durch eine Unzahl von Parodien und Variationen noch bekannter gewordene Gigerlkönigin gelten.
Wohl den tiefgreifendsten Einfluß hat indeß auf die tertliche und auch musikalische Umgestaltung des Gassenhauers in den letzten zehn Jahren das Variété ausgeübt, das sich in dieser Zeit in unserem Kunstleben zu einer Großmacht heraugebildet hat, die in absehbarer Zeit in manchen Orten den Fortbestand der dramatischen Schaubühnen ernstlich ge= fährden dürfte. Entspricht doch nichts so sehr dem Ledürfniß des modernen Menschen nach erregenden, abwechselungsvollen Genüssen als gerade das Variété. Gesangsvorträge und Schaustellungen aller Art, Wunder- und Zauberspuk, dressirte Thiere, üppige Weiber das vermag auch den verwöhntesten Geschmack zu befriedigen, die schlaffsten Nerven zu kizeln. Das moderne Bariété ist, wenn auch nichts weniger als ein Kunsttempel, so doch die stolzeste und anspruchsvollste Vergnügungsstätte unseres Großstadtpublikums geworden, und nichts erinnert mehr an seinen Ursprung aus dem alten Tingeltangel, wie er heute nur noch an wenigen Crten, zumal in Norddeutschland, fortbesteht. Wo ist sie geblieben, die Zeit, in der aller Orten die Harfenistinnen im kurzen, verschossenen Kleidchen ihr Schleswig- Holstein meer umschlungen " und die Letzte Rose" sangen? An ihre Stelle ist die fesche Kostümsoubrette getreten, in deren Kehle der auf den Geschmack des Variété Publikums zugeschnittene Gassenhauer in unseren Tagen zuerst seine Zugkraft zu erproben pflegt. Die wenigsten Gassenhauer der letzten Jahre können ihren Ursprung, das moderne Variété, verleugnen: sie alle find den Kostümsoubretten unserer Variétés auf den Leib geschrieben und bauen ihre tertliche Unterlage auf mehr oder minder gewagten pifanten Situationen auf. auf. Eine kurze Wanderung durch das Repertoire unserer beliebtesten Kostümsoubretten, von denen so manche lediglich als Gassenhauersängerin einen über die Grenzen ihres engeren Wirkungskreises weit hinausreichenden Ruf erlangt hat es sei uur an die wird das Berlinerin Paula Menotti erinnert
"
"
Gesagte bestätigen. Gesagte bestätigen. Welche Rolle gäbe einer nur einigermaßen in den Künsten raffinirter Spekulation auf die Sinnlichkeit des Publikums erfahrenen Variét sängerin willkommnere Gelegenheit, ihre körperlichen Reize in das rechte Licht zu setzen, als die im modernsten, dem des männlichen Modeferen nachgebildeten Kostüm, einhertrippelnde Gigerlkönigin? Wie kokett und verführerisch läßt sich nicht das Komplet von der direkt vom Souper kommenden Schönen vortragen, und welchen Effeft kann nicht das flüchtige, diskrete Enthüllen einer wohlgeformten Wade hervorrufen, wenn von dem bösen Tischnachbar erzählt wird, der das entschlüpfte Strumpfband wieder binden wollte, und noch dazu über dem Knie". Und muß es nicht die Nerven des blasir= testen Lebemannes unwiderstehlich fizeln, wenn ein in die Farbe der Unschuld gekleidetes Kind vom Lande verschämt vor die Rampen tritt und in treuherzigem Tone dem lieben Schaffner Vorwürfe macht, daß er sie nicht nach Amsterdam , sondern nach Berlin in eine geschlossene Gesellschaft gebracht habe, in der es nicht gerade fein, aber um so gemüthlicher zugeht.
Die starke Wendung der Gassenhauer der letzten Jahre ins Pikante und Nerventi elude spiegelt sich auch vielfach in dem musikalischen Theil, in Sonderheit in der Rhythmik, wieder. Schon oben ist erwähnt worden, daß der moderne Gassenhauer sich zumeist in Tanzrhythmen bewegt. Bis gegen das Ende der achtziger Jahre herrscht das Walzertempo vor, dem zwar im Vergleich zu den meisten anderen Tänzen farbige, abwechselungsreiche Rhythmik ab