Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

anderen musikalischen Formen abstraktes Denken aus­spricht, zur höchsten Blüthe gelangt. Italien   hat zivar gewisse Formen der Musik, in denen harmo­nische und polyphone Elemente im Vordergrund stehen, wie die Sonate und die Fuge, zu schaffen vermocht, aber Deutschland   ist es vorbehalten geblieben, sie auszubilden und zur höchsten Kunstvollendung zu reifen. Die führende Stellung im musikalischen Leben des italienischen Volkes nimmt noch heute das Lied ein, und jene musikalische Kunstform, die in Italien  neben dem Volksgesang namentlich gepflegt wird, die Oper, stellt sich bis in unsere Zeit lediglich als ein Nacheinander von ein- und mehrstimmigen Gesängen dar, bei deren Begleitung das Orchester eine gänz­lich untergeordnete Rolle spielt. Das Orchester ist in der italienischen Oper nicht Freund und ver ständnißvoller Theilnehmer an der Handlung, sondern dient nur zur Begleitung der Gesänge: nach seiner Stellung in der italienischen Oper wird es darum häufig nicht mit Unrecht als große Harfe" charat­terisirt.

Wenn man Frankreich   endlich als das klassische Land des Rhythmus bezeichnet, so ist hierin schon die Bedeutung des Landes für die Geschichte der modernen Musik angedeutet. Der Rhythmus ist nicht einer der integrirenden Bestandtheile der Musik als eines Ganzen, wie Harmonie und Melodie, son­dern lediglich ein, freilich unentbehrliches, Element der musikalischen Linie. Frankreich   steht unter den um die Entwickelung der musikalischen Kunst ver= dientesten Völkern erst in zweiter Reihe: seine Be­deutung für die Geschichte der Musik beruht nicht in der Auffindung neuer Kunstformen und in der Erschließung und Bebauung ungekaunter Gebiete, sondern in der Entwickelung und Individualisirung gewisser Elemente schon ausgebildeter, gereifter Kunst­formen. Wir nennen Rhythmus die nach bestimmten Gesezen erfolgende Anordnung und Bewegung der musikalischen Toureihen im Zeitmaß. Gerade in der französischen   Rhythmik kommen gewisse Charakter züge, die wir als vorwiegend dem französischen   Geiste eigen zu betrachten pflegen, zum vollendeten Ausdruck: bie unruhige Nervosität, die leichte Erregbarkeit und Reizbarkeit, das stete Verlangen nach Veränderung und Wechsel.

In dem Obigen ist nur ein Theil der Charakter­züge der genannten Völker, wie sie sich in der Musik wiederspiegeln, niedergelegt. Insonderheit ist die deutsche Musik, der hohen Bedeutung entsprechend, die sie seit drei Jahrhunderten für das gesamte Kulturleben unserer Nation hat, das treueste Bild vieler Eigenheiten, freilich auch mancher Wandlungen unserer Volksseele. Vor Allem legt die deutsche Vor allem legt die deutsche Musit, namentlich der beiden lezten Jahrhunderte, von der wunderbaren Fähigkeit des deutschen Volks­charakters, sich fremdländische Formen und Elemente anzueignen, um sie mit dem eigenen Geiste zu durch­bringen und in der Verschmelzung fremder Formen und eigenen Geistes eigenartige, vollendete Kunstwerke zu schaffen, Zeugniß ab. Für die deutsche Dichtung hat diese Erscheinung längst die gebührende Beach­tung gefunden, weniger für die deutsche Musik. Die weitaus meisten Formen, in denen sich die deutsche Musik seit jeher zu bewegen pflegt, sind auf außer deutschem Boden erwachsen, aber deutschen Künstlern ist es gelungen, ihnen, der ihnen eigenen, fest stehenden musikalischen Architektonik unbeschadet, das Gepräge deutschen Kunstcharakters aufzudrücken und sie zu allgemein gültigen Musterbildern ihrer Gat­tung zu stempeln. Ein nicht unbedeutender Theil der Anregungen, die Mozart  , Beethoven   und Schubert zu ihren höchsten Kunstschöpfungen begeistert haben, geht auf russische und ungarische Vorbilder zurück. Webers Preziosa" ist von gewissen Zügen des spa­ nischen   Nationalcharakters, wie sie ihren vollendeten Ausdruck in der spanischen   Volksmusit, zumal im Tanzliede, gefunden haben, vollauf durchdrungen, und doch schlägt in diesem Werke die Muse der Weberschen Kunst zum ersten Male die sinnenden, blauen Augen auf".

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Eine der eigenartigsten Epochen des deutschen Geisteslebens, die der Romantik, hat in der deut schen Musik einen noch weit vollendeteren Ausdruck gefunden, als in unserer Dichtung. Gerade zur

Wiedergabe jenes traumhaften Lebens und Webens in Wiedergabe jenes traumhaften Lebens und Webens in der Natur und des fast unbewußten Erfassens ihrer tiefsten Geheimnisse, der Stimmungen und Ahnungen jenes wunderbaren Dämmerreiches, das wir mit dem Namen Nomantik" zu bezeichnen pflegen, eignet sich die Tonkunst ungleich besser als das gesprochene sich die Tonkunst ungleich besser als das gesprochene Wort. In ihrer unbestimmten und doch so beweg­lich zu Herzen gehenden Sprache vermag sie den lich zu Herzen gehenden Sprache vermag sie den geheimnißvollen Neizen der mondbeglänzten Zauber­geheimnißvollen Reizen der mondbeglänzten Zauber­nacht, die den Sinn gefangen hält", weit charak­nacht, die den Sinn gefangen hält", weit charak­terischeren Ausdruck zu verleihen, als die Wortsprache mit ihren fest ausgeprägten, scharf umrissenen Be­griffen. Dieser romantische Zug ist nur dem ger­manischen, vornehmlich dem deutschen Charakter zu eigen: es ist durchaus nicht bedeutungslos, daß ge­rade jene Kunstwerke in unserer Musit, in denen er sich am reinsten ausspricht, im Auslande nie festen Boden haben fassen können. Trotz der wachsenden, Boden haben fassen können. Troß der wachsenden, erfreulichen Annäherung der romanischen Kultur­welten an die unserige, zu der ja gerade das zu­nehmende Verständniß für den Geist der deutschen Tonkunst bei unseren südlichen und westlichen Nach­barn so viel beigetragen hat, haben weder Webers barn so viel beigetragen hat, haben weder Webers " Freischütz  ", noch Marschners Vampyr  ", noch Wagners Fliegender Holländer" bei romanischen Wagners Fliegender Holländer" bei romanischen Völkern auch um einen Theil der übergroßen Popu larität, deren sie sich bei uns erfreuen, erringen larität, deren sie sich bei uns erfreuen, erringen tönnen. Der von dem Allerweltskomponisten Meter beer mit genauer Kenntniß der gerade dem Roman­ tischen  " fröhnenden Geschmacksrichtung seiner Zeit ausgeflügelte Robert der Teufel  " ist nur eine widrige Frage deutscher Romantik, und zu welcher ungeheuerlichen Karrikatur des Weberschen Meister werkes die französische   Bearbeitung" des" Frei­schüßen" wurde, die ihn dem französischen   Publikum mundgerecht zu machen versuchte, hat Richard Wagner  in seinen Schriften mit Worten herben Spotts und Tadels dargethan.

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Gewisse Züge des Nationalcharakters sprechen sich auch in der Art der vornehmlich gepflegten Kunstformen in den einzelnen Ländern aus. Deutsch­ land   weist seit jeher die größte Zahl und Mannig­faltigkeit der musikalischen Kunstformen auf. Der deutsche Volkscharakter hat jede, auch die kleinste musikalische Form, nach den ihr innewohnenden Ge­sezen zu ergründen und nach allen Richtungen hin zu vertiefen und auszubauen gesucht. Daß auf diesem Wege auch gewisse Schwächen des deutschen Volks­charakters, vor Allem seine unliebsame Neigung zum charakters, vor Allem seine unliebsame Neigung zum Pedantischen, Schulmeisterlichen zum Ausdruck ge­kommen sind, soll freilich nicht geleugnet werden.- In Italien   steht von den höheren Kunstformen noch In Italien   steht von den höheren Kunstformen noch immer die Oper im Vordergrunde des musikalischen immer die Oper im Vordergrunde des musikalischen Interesses. Der Italiener ist der geborene Schau­spieler: Gedanken und Empfindungen, für die uns das gesprochene Wort vollauf genügt, sett er in Gesten und Geberden um, jeder Gefühlsuüance weiß er einen mimischen Ausdruck abzugewinnen. Mit dieser Erscheinung steht einer der gerade uns Deutsche  dieser Erscheinung steht einer der gerade uns Deutsche  überaus empfindlich berührenden Grundmängel der italienischen Oper in engem Zusammenhange: die Vernachlässigung des dramatischen Ausdrucks in der Musik, die vielfach mangelnde Uebereinstimmung zwischen der Situation und dem Dichterwort und der musikalischen Phrase. Der Italiener sieht eben in der Oper kein musikalisch- dramatisches Kunstwerk; in der Oper fein musikalisch- dramatisches Kunstwerk; er verlangt von ihr fein großes einheitliches Ganzes, in dem sich in allen Theilen Wort und Ton zur vollendeten Wiedergabe des jeweiligen dramatischen Moments vereinen: für den italienischen Sänger- und mit ihm für das Publikum ist die Oper nur eine Reihe von schönen, formvollendeten, in sich abgeschlossenen, im Uebrigen ziemlich charakterlosen Tousäßen, in die er erst durch das Feuer seines angeborenen Temperaments und Spiels Farbe und dramatischen Ausdruck hineinträgt.

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Frankreichs   Stellung in der modernen Musik beruht vornehmlich in der Schöpfung zweier neuer musikalischer Kunstformen, der großen Oper und der Operette. Beide sind aus der Eigenart des franzö­ sischen   Volksgeistes heraus geschaffen. In der großen Oper, die ihre Vorwürfe zumeist bewegten, vom Kriegslärm durchtobten Perioden der Geschichte zu entnehmen pflegt, und die in den Hauptwerken

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Aubers, Meyerbeers, Halévys noch heute ihr dank­bares Publifum findet, kommt der französische   Hang am äußerlich Glanzvollen, seine Freude an pracht­vollen Aufzügen und Evolutionen, seine Begeisterung für die militärische Gloire zum charakteristischen Aus­druck. Aus der französischen   Operette, die ihren genialsten Vertreter in Offenbach   gefunden hat, spricht die leichte Grazie und anmuthige Beweglichkeit unserer westlichen Nachbarn nicht minder, als ihre pikante Frivolität und feine Spottsucht.

Aus der Musik der slavischen Völker, namentlich der Russen und Polen  , ist uns in den letzten Jahr­zehnten ein nicht unbeträchtlicher Theil ihres Melo­dienschatzes, namentlich der Volkslieder, erschlossen worden. Der düsteren Vergangenheit des Volkes, seinen schweren Lebensbedingungen, seiner sklavischen Unterwürfigkeit unter ein despotisches Regiment, seinem weiblichen, passiven Charakter entsprechend, entbehrt das russische Volkslied zwar nicht seelenvoller Junig­feit und Wärme, ist aber zumeist rhythmisch ein­förmig und zeugt selten von harmloser Freude und Heiterkeit, sondern nur von trüber Melancholie und schwermüthiger Sentimentalität.

Einen gänzlich anderen Charakter tragen die meisten polnischen Volkslieder. Der muthvolle, ener gische Charakter des Volkes, den Jahrhunderte heftiger Verfolgung und Bedrückung, ja selbst der Untergang des Reiches nicht zu beugen vermocht hat, spricht sich auch in seiner Musit aus. Seine Lieder sind nie sentimental; ein feuriger, stürmischer Geist lebt in ihnen allen, und wenn ihnen auch die gemüth­volle Innigkeit des russischen Volksliedes zumeist abgeht, so strömen sie dafür um so helleren, blen­denden Glanz aus. Selbst die Klagen, in denen der Schmerz eines Volkes um seine entschwundene nationale Herrlichkeit laut wird, tragen keinen resig­nirten, sondern das Schicksal von Neuem feck her­ausforderuden, muthigen Charakter.

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Zum Schluß seien noch einige Worte über die eigenartige Kunst eines viel genannten, aber für uns noch immer in ein räthselhaftes Dunkel gehüllten Volkes gesagt die Zigeunerniusik. Wenn man von der Kunst irgend eines Volkes behaupten darf, sie stelle sich als getreues Abbild seines Charakters dar, in ihr spiegelten sich alle Regungen der Volks­seele wieder, so ist es die Musik dieses wunderlichen Nomadenvölkchens, das nun schon seit Jahrhunderten unsere gesammite Kulturivelt rastlos durchzieht. Die Vergangenheit des Zigeunervolks ist der Ausbildung irgend einer nationalen Kunst stets zuwider gewesen. Seit undenklicher Zeit als Auswurf des Menschen­geschlechts Gegenstand allgemeiner Verachtung, er­barmungslos von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gepeitscht, hat es weder die nöthige Ruhe und Muße finden können, plastische Kunstgebilde irgend welcher Art zu schaffen, noch in der Geschichte seiner Altvordern Momente der Erhebung und heldenhaften Aufschwungs, die es zu poetischer Verklärung hätte begeistern können. So hat denn der ideale Trieb, wie er in jedem Volfe schlummert und nach künst= lerischer Verwirklichung drängt, in keiner anderen Form als in der Instrumentalmusik ausströmen können. Sie, von der Liszt   in seinem Buche über die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn sagt, daß sie ,, die Leidenschaften in ihrer eigenen Wesenheit leuchten und schimmern läßt, ohne sich an ihre Versinnlichung in geschichtlichen oder erfundenen Gestalten zu binden", hat allein das ganze Sehnen und Hoffen der Volks­seele in sich aufzunehmen und ihm in Tongebilden von der größten Originalität und dem eigenthüm­lichsten melodischen Reiz künstlerischen Ausdruck ab­zugewinnen vermocht. Das ganze Wesen des Zigeuner­voltes, sein unftätes, an feinen Ort gebundenes Wanderleben, seine leidenschaftliche Naturliebe, seine an Entbehrungen und Verfolgungen überreiche Ver­gangenheit, seine an feinerlei Gesetz und Vorschrift gebundene Lebensweise spiegelt sich in diesen sonder­baren Weisen mit ihren plößlichen, abgebrochenen Modulationen, ihren wirren, frausen Verzierungen, ihrer sprunghaften, im steten Wechsel begriffenen Rhythmik wieder.