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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Fremde gegangen war! Hätte ich doch meiner lieben, flugen Mutter gefolgt und bei irgend einem elenden Dorstischler meiner Heimath Arbeit genommen! Ich hätte, wenn auch wenig Geld, mir doch das Essen verdient ich hätte nicht eines schauerlichen Hunger­totes sterben dürfen!

O, wie ich mich um ängstigte vor den Menschen! Mir flimmerte es schwarz vor den Augen; ich sah leine Rettung mehr.

Franz fragte, ob nichts gewesen" sei; ich schüt telte mit dem Kopfe, und wir schlichen schweigend und willenlos weiter.

Sechstes Kapitel.

Unser Schulmeister.

Aus einem einsam stehenden Häuschen fam mit tänzelnden Schritten ein junger Mann geraden Weges auf uns zu. Er trug ein roti es Halstuch, rothe Tuchniederschuhe und eine Valloumüße, wie sie in jenen Tagen von Fleischergesellen getragen wurde. Zuerst hielt ich ihn für einen Fleischer, bald aber schloß ich aus dem dicken Farbenschmuß, der an seiner schlotterigen Gewandung haftete, daß er ein Maler oder Austreicher sei.

Na, Kunden, wohin?" fragte er uns.

Wir schwiegen; einmal, weil wir selbst am wenigsten wußten, wohin wir gingen, und ferner, weil wir glaubten, der Mensch wolle sich aus lleber muth einen Spaß mit uns machen.

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Na, Donnerwetter, Ihr seid doch Kunden!" fur er heftig fort und deutete auf unser Felleisen. Wir sahen ihn verdukt an.

Kerls, Ihr kommit wohl frisch aus dem Back­ofen, daß Ihr die Losung nicht kenut?"

" Welche Losung?"

Na, da koof mir Einer a Mäßel gebackene Pflaumen! Kennen die Kerls die Losung nicht. , Senu! ist die Losung; Keun! Verſtandibus?"

Wir nickten bejahend aus Furcht, denn er sah uns sehr bösartig an und schmißte beängstigend mit einer Haselnußgerte in der Luft. Ich glaubte, er sei verrückt.

Unser zustimmendes Nicken besänftigte sein Ge­müth einigermaßen, und er fuhr in milderem Tone fort: Eigen.lich ist, Kunde die Losung und kenn die Gegenlosung. Wenn ich Euch also frage, ob Ihr Kunden seid, wie habt Ihr dann zu antworten?"

,, Kenn!" sagte ich, denn mir war plößlich klar geworden, daß das neue Wort zu den Schäßen der Handwerksburschensprache gehörte.

" Nichtig! Und wohin tippelt Ihr?" Wohin wir tippeln? Auch dieser Ausdruck war mir neu und unverständlich. Wieder starrte ich ihn fragend an.

Wohin Ihr tippelt?!" wiederholte er heftig. Ich glaube, Ihr Affenpintscher wißt auch noch nicht, was tippeln heißt! Das heißt so viel, wie laufen Na, wartet, ich will Euer Schulmeister sein! Aber aufgepaßt, sonst giebt es ganz verdammte Haue!"

Wieder ließ er die Gerte durch die Luft sausen und stieß dabei ein so derbes Fluchwort aus, daß Franz erschrocken zur Seite wich. Der gute Junge war so sehr mit dem Gedanken an seine Hungers­neth beschäftigt gewesen, daß er auf die Lehren des Schulmeisters nicht geachtet hatte; erst das Wort " Daue" wirkte belebend auf ihn ein.

Fürchte Dich nicht, mein Engel!" rief ihm der Schulmeister spöttisch zu. Hane giebts erst, wenn Ihr nicht lerut.... Könnt Ihr schon dalfen? das heißt so viel wie fechten."

Mit dem aufrichtigsten Gewissen konnte ich ihm den Bescheid geben, daß wir dieser Kunst nicht ge= wachsen seien. Ich erzählte ihm von unseren ersten Fechtversuchen und suchte mir ein bischen Ansehen zu verleihen, indem ich in umständlicher Weise be= richtete, durch welche Kühnheit ich ein Ei erfochten hatte; er hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu und betheuerte in einem fort, wir wären die dümmsten Käfer, die ihm je begegnet seien.

Ueberhaupt bezeigte er für unsere Schiffale nicht das mindeste Jutereffe. Er ward ärgerlich, so oft ich von unserer Herkunft und unseren Erlebnissen sprach, und er überhäufte uns dann so lange mit

boshasten Vemerkungen und Grobheiten, bis ich zur Einsicht gelangte und schwieg. Dagegen schien es ihm Bedürfniß zu sein, uns über seine werthe Per­sönlichkeit ausführlichen Bericht zu erstatten und uns eine sehr hohe Weinung über sie einzufößen.

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Er war seiner Religion" nach Wagen­schmierer, was zu deutsch Lackirer heiße. Wieder­holt versicherte er mit großem Nachdruck, daß er ein echtes Berliner Kind sei, und da ich leider in meiner geistigen Beschränktheit vergaß, ihm meine Bewun­derung auszudrücken, bestrafte er mich durch einen langen, durchbohrenden Blick und wiederholte streng: Ich bin een echtes Berliner Kind, mit Spreewasser getooft!"

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Nun holte ich das Versäumte schnell nach, indem ich ein ehrfurchtsvolles Gesicht machte und durch irgend einen Grunzlaut meinen höchsten Respekt aus­zudrücken versuchte. Das Wagestück scheint mir ge­lungen zu sein, denn er war zufrieden und erzählte huldvoll weiter.

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In Breslau habe er geschennigelt" auf Deutsch : gearbeitet; er habe jedoch seinem Krauter" -auf Deutsch : Meister den Kram vor die Füße geworfen, denn, wenn die Sonne scheine, bekomme er das Jucken in die Beine. Ich bin zwar noch riesig jung, kaum dreißig Jahre, aber trotzdem tipple ich schon an die fünf ehn Jahr auf der Geographie herum. Da wirst Du mir zugeben müssen, daß ich mehr von der Welt verstehe, als Du, Du Jrün­schnabel."

Er hatte die Gewohnheit, nur einzelne Worte in seiner Berliner Muttersprache zu reden, schien sich also das Verlinisch" in der Fremde ziemlich ab­gewöhnt zu haben. Berlin war, wie er sagte, seine Mutterstadt ; Breslau jedoch schien seine Vaterstadt zu sein, denn im Eifer des Erzählens theilte er mir mit, daß sein Vater ein oller Breslauer Bürger" sei. Das Geheimniß dieses Familienzusammenhanges zwischen den beiden Hauptstädten ist mir nicht klar geworden.

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Er rühmte sich, daß ihm sämmtliche Bennen und Bennebosse auf Deutsch : Herbergen und Herbergsväter im ganzen Reiche und den um­liegenden Staaten bekannt seien; auch hielt er es für einen ganz besonderen Ruhm, unzählige Male ,, berschütt gegangen" zu sein und auf diese Weise die Gefängnisse aller Länder gründlich kennen ge= lernt zu haben. Auch auf der Drehscheibe"-zu Deutsch : Arbeitshaus war er schon gewesen.

Wir konnten einen besseren Lehrer nicht finden, und mein Respekt wuchs mit jeder Minute wuchs allmälig ins Unbegrenzte.

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Schade, daß Franz in so trauriger Verfassung war und sich außer Stande fühlte, dem Unterricht und den überaus belehrenden Erzählungen und Vor­trägen des Schulmeisters mit dem nöthigen Ver­ständniß zu folgen! Immerhin hatten sie für ihn das Gute, daß sie ihm ein wenig Zerstreuung ge= währten und ihn von seinen schwarzen Gedanken­bildern ablenkten. Wäre der neue Wanderkollege nicht erschienen, so hätte sich Franz sicherlich in den Chausseegraben gelegt und heilig betheuert, nicht einen Schritt weiter zu können.

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Unserem Wundermanne gelang schließlich das Wunder, den zum Tode erschöpften Jungen durch ein paar Worte frisch und mobil zu machen. Er deutete mit der Haselnußgerte nach einem Dorfe, das in Sicht kam, erklärte uns, daß ein solcher Ort Staff" genannt werde, daß demnach die Bauern " Kaffern" seien und daß er uns in diesem Kaff das Dalfen lehren wolle. Als er hinzufügte, daß er gesonnen sei, für uns Drei ein delikates Vesper­essen zu besorgen, wurde Franz lebendig; sein tief­gesenkter Kindskopf hob sich, in die trüben Augen kam frische Gluth, ich glaube, er begann zu hüpfen.

( Fortsetzung folgt.)

Afrikanische Sprüchwörter.

Wer das Feld beackert, in der Sonne schwißt; In dem Schatten lagert, wer das Feld besitzt.

Wers zum reichen Manu gebracht, Hat sein Städtchen arm gemacht.

Die Nihilistin.

Roman von Sonja Kowalewska . Aus dem Russischen übersetzt von Louise Flachs- Fokschaneann. ( Schluß.)

eine Erlaucht sah mich an und rief sofort: Mein Gott, das ist ja Alina( meine Mutter hieß so), ganz der Alina aus dem Gesicht geschnitten. Und die Erlaucht vergoß sogar einige Thränen. Er begann mich zu segnen, über mich das Kreuz zu machen und ich füßte ihm die Hände und bemühte mich ebenfalls, meinen Augen ein Thränchen abzupressen. Nun erinnerte sich mein Alter des Vergangenen, wurde weich, und ich bin ja keine Närrin und machte Alles in seiner Tonart; über die Angelegenheit kein Wort. Und ich er­zählte ihm fortwährend allerlei Märchen, wie sich meine Mutter stets seiner erinnere, wie sie bete und ihn in vielen Träumen sehe. Wo ich das Alles in jenen Momenten hernahm, begreife ich jetzt wirklich selbst nicht!

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Seine Erlaucht wurde ganz gerührt wie ein alter Kater, dem man hinter den Chren fraut. Er begann mir allerlei Gutes zu versprechen, allerhand Pläne für mich zu entwerfen. Er hatte beinahe schon die Absicht, mich bei Hofe vorzustellen. Weißt Du, es gab Augenblicke, da er bereit war, mich als eigene Tochter zu adoptiren er hat keine Familie, die Frau und Kinder sind längst todt.... Ich merke, der günstige Augenblick ist da. Ich bin plößlich in Thränen gebadet und sage dem Grafen: Ich liebe einen Mann, und wenn ich ihn nicht heirathen kann, daun brauche ich nichts mehr in der Welt."

,, Nun, wie hat der Graf dieses Bekenntniß auf­genommen?" fragte ich lachend.

" Zuerst verhielt er sich theilnahmsvoll; dann be­gann er mich zu trösten, daß ich nicht weine, ver­sprach, sich für mich zu bemühen.

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Als er aber erfuhr, wen ich zu heirathen be­absichtige, ging die Geschichte anders; der Alte wurde wüthend und wollte von nichts wissen. Er ver­änderte den Ton, ging von Du plöglich auf, Sie über. Er nannte mich nicht mehr Kindchen, noch Engelchen, sondern beehrte mich mit, Gnädige'. Wenn es sich trifft, Guädige, sagte er, daß ein auständiges Mädchen einen Unwürdigen liebt, so bleibt ihren Verwandten nur Eines übrig: Zu Gott beten, er möge ihren Verstand erleuchten....

Na, da sehe ich, die Sache steht schlecht, ich war schon ganz verzweifelt."

Wjera brach im Erzählen plötzlich ab und stockte. ,, Nun, was denn, Wjera, was ist geschehen? Erzähle doch zu Ende, bitte!" drängte ich. Wjera erröthete.

,, Siehst Du, ich selbst kann mich jetzt nicht er­innern, wie Alles war und was ich ihm eigentlich sagte... blos... blos... er begriff plöglich, daß ich Pawlenkow unbedingt heirathen müßte, damit die Sünde bedeckt und meine Ehre gerettet werde."

Ach, Wjera, Du hast Dich nicht geschämt, den Alten so zu hintergehen!" rief ich vorwurfsvoll. Wjera sah mich erstaunt an.

" Den armen Alten hintergehen!" äffte sie mir im Scherz nach. Hat man denn wessen sich zu schämen? Laß gut sein, er schämt sich auch nicht! In seiner Stellung und bei seinem Einfuß auf den Kaiser... wie viel Gutes, wie viel Rugen fönnte er bringen! Und er...? Liegt mit der Stirn auf dem Boden... vielleicht wird man ihm auch in Himmel ein so warmes Pläßchen verschaffen, wie hier auf Erden.

" Und um Andere kümmert er sich wenig. 31 mir verhält er sich freundlich. Warum das? Weil mein Lärvchen nach seinem Geschmack ist; es hat ihn an seine alten Sünden erinnert, sein altes Vint in Bewegung gebracht... der Mühe werth, it m dafür zu danken?! Verhält er sich zu den jungen Leuten, die man vernichtet, die in Sibirien ver­faulen, etwa gut? Keine Spur! Laß nur gut sein - wie viele Urtheile hat er selbst in seinem Alter unterschrieben!...

"

Wäre es mir eingefallen, ihn zu betrügen, wenn es möglich wäre, mit ihm menschlich zu sprechen?