Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Gepräge, daß auch der Ferustehendste die Absicht merfte und verstimmt heimging. Besnitt man doch vielfach das Repertoir mit Anfführungen Schiller scher Dramen, namentlich der„ Jungfrau von Orleans"," Wallenstein " und" Tell", und einer Anzahl von historisch patriotischen Lärmstücken.
Nicht viel Besseres ist von den meisten populären Musikaufführungen zu berichten. Es ist, wie von vornherein bemerkt werden möge, eine bedauerliche Thatsache, daß die Versuche, musikalische Bildung unter das Volk zu tragen, sich fast ausnahmslos auf die großen Formen der Instrumentalmusik beschränkt haben. Die meisten Programme unserer populären Konzerte weisen eine stattliche Anzahl, meist acht bis zwölf, Musikstücke auf, die sämmtlich dem Gebiet der Opern- und der reinen Instrumentalmusif entnommen sind. Immerhin verdienen der artige volksthümliche Musikaufführungen noch immer den Vorzug vor auderen, die sich lediglich als gewöhnliche Virtuosen und Bravourkonzerte zu er mäßigten Preisen charakterisiren. Zwei oder drei Instrumentalstücke, gewöhnlich eine Sinfonie und eine Ouvertüre, bilden darin nur den zumeist kaum beachteten Rahmen für die Jongleurstückchen eines aus weiter Ferne für schweres Geld verschriebenen Virtuosen, auf deffen geniale Persönlichkeit", wie es dann zumeist in den Konzertberichten heißt, fich das Interesse des Abends konzentrirt." Die ganze Nichtigkeit und Seichtigkeit dieser Konzerte, in denen das rein Musikalische weit hinter dem Interesse an der persönlichen Bravour des Solisten zurücktritt, hat Mauke unlängst in einem„ Die Musik als wahre Volkskunst" überschriebenen Aufsag in der ,, Neuen Zeit" mit treffenden Worten gegeißelt. Man fanu Mauke gewiß zustimmen, wenn er energisch , planmäßige Unterdrückung des Virtuosenthums und Lächerlichmachung des oberflächlichen Saloustils im Instrumentalen und Vokalen" fordert. Nur, glaube ich, ist es mit einer bloßen Reform des Konzertwesens, von der er alles Heil und eine Gesundung des verdorbenen musikalischen Geschmacks im Volfe erhofft, nicht gethan. Die Anzahl der musikalischen Formen, von denen das Konzert, in Sonderheit die Instrumentalmusik, Musterbeispiele zu geben vermag, ist nur gering; zudem sind Sinfonie und finfonische Dichtung, die neben der Ouvertüre vornehmlich in Betracht kommen, die komplizirtesten Formen der Instrumentalmusik und setzen als solche zur vollen Erfassung ihres künstlerischen Werthes ein schon gereiftes Kunstverständniß voraus.
Die Musit als
Keinesfalls darf mit der vorzugsweisen Vorführung der sinfonischen Meisterwerfe unserer Tondichter der Anfang bei den populären Konzerten gemacht werden. Beethovens Neunte" oder Liszts " Faufisinfonie" werden zwar auch dem musikalisch ungeübtesten Ohre einen leisen Respekt vor den Genius ihrer Schöpfer beibringen, aber das Schöne und Gewaltige in diesen Werken wird doch bei allen Hörern, deren musikalische Bildung sich noch in ihren Anfängen befindet, hinter der Menge des Fremdartigen und unverständlichen zurücktreten. Zudem liegt die Gefahr nahe, daß der musikalische Laie, selbst bei einem kurzen Instrumentalkonzert, bei dem eifrigsten Streben, in den Geist der Tondichtung einzubringen, erlahmt und daß sein Interesse erfaltet. Erfordert doch keine andere Musik größere Uebung im abstrakten musikalischen Denken und ver= lockt doch keine andere so sehr den Geist, den Faden der Verfolgung der Entwickelung und Ausspinnung des musikalischen Gedankens zu verlassen und seinen eigenen Träumen und Phantasien nachzugehen, als gerade Sinfonie und Ouvertüre, die berufensten Vertreter der reinen Instrumentalnusit. Der nächst liegende Ausweg, zwischen die klassischen Programmnummern Musikstücke leichteren Charakters, wie Märsche, Arrangements von Opernnummern und der= gleichen einzuschieben, dürfte sich bald als eine sehr zweischneidige Waffe erweisen: das Interesse der Hörer würde sich bald von der klassischen Musik abund ausschließlich den eingestreuten populären Musik stücken zuwenden.
Mit der jetzt beliebten Gepflogenheit, in unseren großen Konzerten zwischen die Instrumentalnummern Lieder einzuschieben und derart dem größten Theil
des Publikums die gewünschte Abwechslung zu bieten, wird sich der ausikalisch Gebildete niemals recht befreunden fönnen.
Troß aller Einwände und Gegeneinwände bleibt es doch eine arge Stilwidrigkeit und zeugt von einem Mangel an ästhetischem Feingefühl, wenn in dent engen Rahmen eines furzen Konzerts Erzeugnisse der komplizirtesten Musikform, der Sinfonie, und der einfachsten, des Liedes, zusammengestellt werden.
Es scheint vielmehr gerathen zu sein, eine durchgreifende Reform unseres gewiß an unzähligen Schäden leidenden Konzertwesens nicht als das erste Mittel zu betrachten, eine Gesundung des musikalischen Geschnacks des Volkes herbeizuführen, sondern sie eher als Schlußstein anzusehen. Weit größere Bedeutung ist allen jenen Bestrebungen beizumessen, die die Kenntniß und das musikalische Verständniß im Volke zunächst für die kleineren Formen der Musik zu fördern bereit sind. Vor Allem auf dem Gebiete des Liedes.
Namentlich das Chorlied eignet sich durch die verhältnißmäßig leichte Bewältigung der technischen Schwierigkeiten, durch den Neichthum und die Schönheit der musikalischen Gedanken, die die Meister dieser Kunstform in ihm niedergelegt haben, ferner durch Kunstform in ihm niedergelegt haben, ferner durch die Möglichkeit, eine unbegrenzte Anzahl von Mitwirkenden zur Wiedergabe des musikalischen Kunstwerkes heranzuziehen, zur Ausbreitung und Vertiefung musikalischer Bildung.
Unter den verschiedenen Formen des Chorliedes müssen wir, zumal in Ansehung des gedachten pädagogischen Moments, und auch im Hinblick auf den künstlerischen Werth der meisten Kompositionen, dem Liede für gemischten Chor vor dem für den Männerchor den Vorzug geben. Ein kleiner Theil der Schubertschen und Mendelssohnschen, vor Allem aber die große Menge der Schumannschen Chorlieder ge= hört zu dem Schönsten, was diese Meister geschaffen haben; hingegen ist aus der fast übergroßen Fülle der Kompositionen für Männerchor nur Weniges musikalisch interessant und werthvoll: die meisten athmen lediglich den Geist einer verwässerten Sentimentalität oder lärmenden Bierfröhlichkeit. Die Hindernisse, die sich der Einrichtung ständiger ge= mischter Chöre in den Weg stellen, zumal die Schwierigkeit, mit genügender musikalischer Vorbildung und dem nöthigen Organisationstalent ausgerüstete Direktoren zu finden, sind freilich nicht zu unterschägen. Immerhin bilden die in fast allen größeren Städten zahlreich bestehenden Arbeitergesangsvereine die sichere Basis für die Ausbildung größerer gemischter Gesangschöre. Wo gleichzeitig Dilettantenfapellen bestehen, deren Leistungen über das gewöhnliche Niveau hinausgehen, kann dann allmälig der Versuch gemacht werden, das Chor= allmälig der Versuch gemacht werden, das Chor= lied mit Orchesterbegleitung und das Cratoriumi, zunächst freilich nur in den technisch einfachsten Vertretern beider Musikgattungen, zu pflegen. Im Allgemeinen kann nicht dringend genug darauf hingewiesen werden, daß eine gute vokale Ausbildung von weit größerem Werthe für den Gewinn einer gründlichen musikalischen Bildung und musikalischen Kunstverständnisses ist, als der bloße, wenn auch noch so häufige Besuch von Musikaufführungen jeglicher Art: nur wenige Auserwählte vermögen der Kenntniß der Theorie und Technit einer Kunst bei der Werthung ihrer Erzeugnisse zu entrathen.
In geringerem Grade als das Chorlied, kommen das für eine einzelne Gesangsstimme beſtimmte Kunstlied und die Klaviermusik in Betracht. Zwar ist das Klavier vor allen Musikinstrumenten längst das populärste und geradezu Hausinstrument geworden, wie es in der Vorzeit Laute und Guitarre waren, immerhin ist die Zahl Derer, deren ökonomische Verhältnisse ihnen die Anschaffung eines Klaviers erlauben, trotz der in den beiden lezten Jahrzehnten erfolgten starken Verbilligung dieses Instruments und aller Abzahlungsgeschäfte, im Arbeiterstande überaus gering. Auch erfordert eine nur mittelmäßige Beherrschung der Klaviertechnik ein mehrjähriges, zeitraubendes Studium, das nur wenigen möglich ist. In dem Kunstlied, besonders in dem modernen, in dem das melodische Moment hinter dem deklamatorisch psychologischen zurücktritt, spielt dazu die Klavierbegleitung
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eine so wichtige Rolle, daß sein Vortrag durch die bloße Gesangsstimme undentbar erscheint. In den wenigen Familien aus dem arbeitenden Stande, in denen sich ein Klavier findet, sollte freilich der Versuch gemacht werden, ob es nicht möglich ist, an Stelle des faden Salongeflimpers und der plumpen Arrangements von Operetten- und Gassenhauermelodien eine gesündere, schmackhafte Kost zu setzen. Fast sämmtliche älteren und modernen Klavierschulen und sonstigen klavier- pädagogischen Werke vermitteln dem Schüler die Bekanntschaft mit einer stattlichen Reihe von klassischen Klavierkompositionen, namentlich Mozartschen, Beethovenschen und Schubertschen Werfen.
Gelingt es dem Klavierlehrer, in der leider zumeist nur knapp bemessenen Unterrichtszeit, seinen Schüler wirklich in den Geist der klassischen Klaviermusif einzuführen, so wird ihn sein gefräftigtes ästhetisches Urtheil vor allen Verlockungen der sinnlich reizvollen, aber seichten und gehaltlosen Salonmusik bewahren und ihn die betretenen Pfade weiter wandeln heißen.
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Im höchsten Grade bedauerlich ist es, daß sich, wie schon oben erwähnt, alle Versuche, die musikalische Bildung des Volkes zu vertiefen, auf die Instrumentalmusik beschränkt, und nicht auch auf andere Gebiete, namentlich die Oper, ausgedehnt haben. Der großen Masse des Volkes ist jegliches tiefere Eindringen in den Geist der musikalisch- dramatischen Kunst schon aus einem äußeren Grunde unmöglich; in unseren meisten Großstädten ist der Beginn der Opernaufführungen auf sieben oder sogar halb sieben Uhr festgesezt, also eine Zeit, in der sich nur überaus Wenige von ihren Berufsgeschäften freizumachen und ihrer Erholung nachzugehen im Stande sind. Fast sämmtliche Konzertaufführungen in unseren Großstädten beginnen dagegen erst um acht Uhr und ermög= lichen wenigstens einem kleinen Theile der arbeitenden Klasse den Besuch. An dem einzigen Tage, an dem dem Volke der Besuch der Opernhäuser möglich ist, am Sonntag, wird zudem auf sein musikalisches Ledürfniß wenig oder gar keine Rücksicht genommen, und auf das Repertoir entweder die Premi ren moderner Opern oder einer Anzahl älterer, soge= nannter Zugstücke gesetzt. In Leipzig fann man zum Beispiel mit großer Bestimmtheit darauf rechnen, jeden Sonntag neben der ersten Wiederholung der Wochenpremière, Carmen "," Die Afrikanerin", Die Hugenotten" oder ein sonstiges Zugstück, am liebsten eine große, in Musik gesetzte Haupt- und Staatsaktion auf dem Repertoir zu treffen. Und doch erscheint die regelmäßige Veranstaltung von populären Opernaufführungen ebenso geboten als die von Klassifervorstellungen und volksthümlichen Konzerten. Ihre Zeit müßte auf den Sonntag Vor- oder Nachmittag gelegt werden, das Repertoir eine Reihe von Musteraufführungen von Opern Mozarts, Webers usw. bis auf Wagner enthalten. Gerade mit der Kenntniß der älteren wie modernen deutschen Oper ist es, freilich nicht zum mindesten durch das Verschulden unserer Theaterdirektionen, im Volfe noch recht traurig bestellt. Troßdem die Zahl der lebensfähigen deutschen Opern fast allein einen vollständigen Spielplan füllen könnte, sind doch nur der " Freischüß"," Czar und Zimmermann" und allenfalls„ Tannhäuser " und" Lohengrin " wirklich ins Volk gedrungen. Nur die regelmäßige Veranstaltung von populären Opernabenden könnte dem Volke zeigen, welche Schäße deutscher Kunst es noch zu heben vermag; die wenigen Nummern aus der deutschen Oper, die sich in unseren Konzertsälen Bürgerrecht erworben haben, sind wahrhaftig nicht im Stande, auch nur einen schwachen Ersaz für die Bekanntschaft mit dem vollständigen, lebenswarmen, musikalisch- dramatischen Kunstwerk zu bieten. Man denke nur an die fürchter= lichen, für den Konzertgebrauch zugeschnittenen Paraphrasen von Abschnitten aus den späteren Wagnerschen Musikdramen!
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Am schwersten dürfte es fallen, im Volke Liebe und Verständniß für die intimiste Form der Musif, die Kammermusik, zu erwecken. Wenige Musikgattungen segen zu ihrem vollen Verständniß eine so gereifte musikalische Bildung und einen den Tagesschöpfungen so abholden Geschmack voraus, als die des sinnlichen Klangreizes zumeist entbehrende, nach