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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Sie täuschen sich, mein Herr!" lautete meine ebenso furze wie barsche Antwort.
,, Ach, verzeihen Sie, aber Sie sehen einem Herrn aus meiner Heimath so ähnlich."
Anstatt sich nun zu entfernen, begann er, mir von Berlin , seinen Einwohnern, Theatern, Konzerten usw. zu erzählen. Er sprach recht fließend und gewandt, ohne jegliche Befangenheit. Ich muß offen gestehen, daß seine elegante und wißige Nedeweise mich für ihn einnahm. Ich lauschte mit Vergnügen den Lauten meiner Muttersprache. Ich ge= rieth in eine recht behagliche Stimmung, während wir so die Potsdamer Straße entlang schlenderten; es wurde mir ganz warm ums Herz.
Da plößlich erfaßte mich ein Bedenken; der unangenehme Zeitungsartikel fam mir wieder in den Sinn. Ich beschloß, auf meiner Hut zu sein und mich nicht von dem ersten besten Unbekannten übertölpeln zu lassen. Der Abenteurer, der mich auf so unverfrorene Weise angeredet hatte, sollte ſehen, daß er nicht gerade auf einen besonders leichtgläubigen Landsmann gestoßen sei. Derartige Gedanken durchfrenzten mein Gehirn. Ich hörte nur noch flüchtig zu.
Zu seinem Unglück machte mir der Fremde gerade in diesem Augenblick das Anerbieten, mir als Cicerone bei der Besichtigung von Museen, Schlössern usw., sowie überhaupt als Begleiter bei meinen Streifzügen in die Umgegend zu dienen. Mit schüchterner Stimme fügte er hinzu:„ Ich bitte Sie dringend, gehen Sie auf meinen Vorschlag ein. Ich will ja nur für einige Tage zu essen haben, Geld verlange ich garnicht für meine Bemühungen."
Ich beobachtete ihn genauer. Die Blässe seines Gesichtes befremdete mich, indeß redete ich mir in meinem Mißtrauen ein, sein augenblicklich so leidendes Aussehen rühre von einem Refler des Gaslichtes her.
„ Ich brauche keinen Reisebegleiter!" antwortete ich kurz und bündig.
Er schwieg einen Augenblick; dann fing er wieder mit von Thränen erstickter Stimme an:„ Meine Eltern sind arm. Jeden Monat schicken sie mir zwanzig Francs zu meinem Unterhalte. Mehr können sie mir nicht schicken. Ich bin der Aelteste von zehn Geschwistern. Diesen Monat habe ich noch nichts erhalten."
Weshalb arbeiten Sie nicht?" fragte ich ihn. " Ich gebe mir alle erdenkliche Mühe, aber es will mir beim besten Willen nicht gelingen, Privatstunden zu erlangen. Es giebt zu viel Franzosen hier, die davon leben. Wenn ich nur die ReiseWenn ich nur die Reisekosten hätte, würde ich mit Freuden in meine Heimath zurückkehren. Vielleicht würden Sie die Güte haben-"
" Aha," dachte ich, auch so ein augenblicklich in Verlegenheit befindliches Individuum, das nur darauf lauert, mitleidige Menschen hineinzulegen. Da soll er gerade an den Richtigen gekommen sein.".
Da ich nicht antwortete, fuhr er voller Verzweiflung fort:" Borgen Sie mir doch nur einige Groschen, damit ich nicht im Freien übernachten brauche und morgen früh meinen Hunger stillen fann. Seit drei Tagen habe ich keinen Bissen im Munde gehabt. Bei meiner Ehre" bei dieser Gelegenheit nannte er mir seinen Namen, Jacques Baudin verspreche ich Ihnen-"
Ich wollte nichts weiter hören und mit Riesenschritten entzog ich mich der Gesellschaft dieses lästigen Menschen. Er rannte mir spornstreichs nach, strauchelte, wie wenn seine Beine ihn nicht hätten weiter tragen können, und lehnte sich an einen Gaskandelaber.
Ich hatte mich umgedreht. Einen Augenblick übermannte mich das Mitleid, aber der verdammte Zeitungsartikel hatte es mir angethan. Ich machte schleunigst Kehrt und begab mich nach Hause.
Ich schlief diese Nacht nicht besonders gut; das todtblasse, traurige Gesicht des armen jungen Mannes verfolgte mich auch im Traume. Am nächsten Tage hatte ich bereits die ganze Geschichte vergessen. Die Nacht darauf träumte ich nicht mehr von meinem Landsmann. Um so schrecklicher war es für mich, als ich beim Morgenkaffee unter„ Lokalnachrichten" folgende furze Notiz las:
, Gestern wurde im Thiergarten ein etwa fünf
undzwanzigjähriger Mann an einem Baume aufgehängt gefunden. Es ist ein Franzose, Jacques Baudin aus Sedan. Gegen Mittag erschien in der bisherigen Wohnung des jungen Mannes, wo dieser, wahrscheinlich, weil er zum Erſten die Miethe nicht hatte bezahlen können, seit Tagen sich nicht hatte sehen lassen, der Geldbriefträger mit einer aus der Heimath Baudins abgeschickten Anweisung auf zwanzig Francs."
Die Thier- und Menschensprache.
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Von W. Knaack.
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ormals allerdings von den Gegnern der Wissenschaft auch noch in der Gegenwart wurde und wird die Sprache des Menschen für eine übernatürliche Schöpfung und als ein besonderes Gnadengeschenk angesehen. Wer zur Zeit des Giordano Bruno von dem Vorhandensein einer Thiersprache öffentlich geäußert oder darüber ge= schrieben hätte, wäre auch, wie der genannte Gelehrte, sicherlich verbrannt worden! Freilich wäre damit die Sprache der Thiere nicht aus der Welt geschafft worden, es sei denn, daß man sämmtliche geschafft worden, es sei denn, daß man sämmtliche Thiere dem Gößen Moloch geopfert hätte.
Die Wissenschaft, die dem Glauben an besondere übernatürliche Gnadengeschenke das Grab bereitet, lehrt uns, daß die Sprache ein natürlicher Organismus ist, dessen Entstehen, Wachsthum, Veränderung usw. denselben Geseßen unterliegt, welche für alle Lebewesen gelten, und wir wissen ferner, daß auch die Thiere ihre Sprache haben.
Wäre die Sprache ein besonderes Gnadengeschenk, so müßten wir uns über die ungleichmäßige Gnaden spende doch sehr wundern; denn es giebt Volksstämme, deren Sprache sehr dürftig und über einfache Lautgeberden nicht hinausgeht.
Die Sprache im Allgemeinen ist ein System von Zeichen zur Bezeichnung menschlicher Vorstellungen. Die heutige Lautsprache beruht also auf Zeichen, welche durch Uebereinkunft festgestellt worden sind. Sie sezt eine Art Natursprache voraus, mittelst welcher sich die Menschen über die Bedeutung dieser Zeichen vereinigt haben müssen. Der Naturmensch bekommit Eindrücke von außen und antwortet auf dieselben durch Bewegung aller Art. Die Lautreflere sind nur eine besondere Art derselben, aus welcher sich allmälig die Lautsprache entwickelt. So verwandelt sich der Aufschrei des Schmerzes in ein Zeichen für den Schmerz, die Geberden des Zornes, der Ausruf des Staunens, der Ausdruck des Zweifels, der Freude, des Nachdenkens usw. in ein Mittheilungsmittel für diese Zustände des Menschen. Am ältesten sind wohl die Empfindungswörter: Ah! Ih! Ach! Äh! Au! Ei! Hm!
Die Laute stehen hier auf einer Linie mit den Mienen und Geberden.
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In der Urzeit gebrauchte der Mensch, um sich verständlich zu machen, zunächst die Geberden- und Zeichensprache. Er schüttelte, wie wir noch, mit den Kopfe( Nein!" oder um Staunen damit auszudrücken); nickte mit dem Kopfe( Ja!), wies auf den Mund( effen und trinken), schüttelte dem Anderen die Hand( als Zeichen der Freundschaft und Liebe). Müssen wir uns doch noch so behelfen, wenn wir mit einem Menschen zu thun haben, dessen Sprache wir nicht verstehen, oder wenn wir schwer frank sind und die Sprache uns alsdann den Dienst versagt. Wie viele Sachen sich durch Zeichen und Bewegungen ausdrücken lassen, das können wir jetzt noch bei Aufausdrücken lassen, das können wir jetzt noch bei Aufführung einer Pantomime" beobachten. Im Alter thum gab es besonders geschickte Schauspieler dieser Art. Von einem König, der zur Zeit des Kaisers Nero in Rom war, wird erzählt, daß er nach dem Anblick der wundervollen Nachahmungen eines Pantomimen sich denselben als Geschenk erbat, um ihn bei seinen Verhandlungen mit anderen Nationen, deren Sprache er nicht kannte, gebrauchen zu können.
Die Reflexbewegungen nehmen aber weiter den Charakter einer Sprachbildung des Geschehenen und Gehörten an. Durch diese wird anfangs nur irgend eine Erscheinung, später jedoch der Gegenstand selbst,
dem diese Erscheinung zukommt, finnbildlich dargestellt, z. B.:„ plumps!"„ wau, wan!" ,, miau!" usw.
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Wir erkennen hieraus, daß wir es auf der einen Seite mit Lautgeberden, auf der anderen mit Lautbildern zu thun haben. Beide haben die erste Verständigung unter den Naturmenschen bis zu einem gewissen Grade vermittelt und zugleich das Mittel zur weiteren Vervollkommnung der Lautsprache an die Hand gegeben.
Mit der weiteren Entwickelung des Menschen hielt die Entwickelung der Sprache gleichen Schritt. Die einzelnen Sprachen verhalten sich ganz wie die organischen Arten: sie sind ebenso wenig ſtarre oder unveränderliche Gebilde, wie die Thier- und Pflanzenarten. Die Sprachen verändern und differenziren sich unaufhörlich und durchlaufen denselben Wechsel wie die organischen Arten. Auch die Sprachen unterliegen, wie alle organischen Wesen, den Gesezen der Entwickelung, des Werdens und Vergehens.
Der ausgezeichnete Sprachforscher A. Schleicher beweist uns sehr einleuchtend, daß die Darwinschen Grundsätze auf die Entwickelung der Sprache vollständig passen. Fast alle unsere europäischen Sprachen haben einen gemeinschaftlichen Ursprung; troß ihrer Verschiedenheiten haben sie doch eine große Aehnlichfeit miteinander. Europa hat drei Sprachfamilien aufzuweisen, und zwar:
1. Die germanische oder deutsche . Zu dieser Familie gehören folgende Geschwistersprachen:„ deutsch , holländisch, dänisch , schwedisch , englisch ;"
2. die romanische oder lateinische Sprachfamilie. Zu dieser gehören die Geschwister: lateinisch, griechisch, italienisch, französisch, spanisch usw.;"
3. die slawische oder russische Sprachfamilie. Zu dieser gehören die Geschwister:„ polnisch, russisch, bulgarisch uſw."
Wie schon erwähnt, haben diese drei Sprachfamilien miteinander große Aehulichkeit: Die Zahlen 1-100, die Bezeichnungen für Vater, Mutter, Bruder, Schwester usw. sind ähnlich.
Hieraus folgert man, daß die Völker, welche jetzt diese Sprache sprechen, vor geraumen Zeiten einer einzigen Menschenfamilie angehörten, welche inIndien wohnte: denn die indische( Sanskrit) und die persische Sprache sind ebenfalls mit den europäischen Sprachen verwandt. Diese Völker umfaßt man mit dem gelehrten Namen:" Indo- Europäer"( IndoGermanen) oder Arier".
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Von diesem Sprachstamme unterscheidet man andere, so den semitischen, zu welchem das Hebräische, das Arabische und andere orientalische Sprachen gehören.
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Von der Ursprache also haben sich die verschiedenen Sprachen abgezweigt und sich im Laufe der Zeit zu besonderen selbstständigen Sprachen ent= wickelt. Von der noch sehr dürftigen Sprache mittelst Lautgeberden und Lautbildern erhob man fich allmälig zu immer freieren Vergesellschaftungen zwischen Vorstellungen und Lautzeichen, d. h. zu solchen, bei denen zwischen Laut und Vorstellung kein innerer Zusammenhang besteht; so z. B. entstand statt des Lautausdrucks: wau, wau" das Wort„ Hund" in der deutschen Sprache. So entstanden allmälig Worte für Dinge, Gegenstände aller Art und ebenso auch Namen für abstrakte Dinge. Diese freien Verknüpfungen von Wort und Ding, Name und Gegenstand kamen jedoch keineswegs in willkürlicher Weise zustande, sie bildeten sich vielmehr auf dem durch Darwin aufgezeichneten Wege der natürlichen Auslese. Selbstverständlich bildeten sich beim Werden und Wachsen der Sprache für jedes Ding, für jede Vorstellung die mannigfaltigsten Bezeichnungen, welche miteinander in den Kampf ums Dasein traten, bis endlich die gegenwärtig gebräuchlichen Namen über die mit ihnen in Wettkampf tretenden Ausdrücke den Sieg davon trugen und zur allgemeinen Anerfennung gelangten.
Wie die Arten der Pflanzen und Thiere, so verändern sich auch im Laufe der Zeit die Sprachen. Wie sich eine und dieselbe Art verändert, beziehungsweise sich im Kampfe ums Dasein vervollkommnet, können wir deutlich wahrnehmen, wenn wir z. B. das Deutsch des Nibelungenliedes mit dem Deutsch