Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
zum Schluß des Gottesdienstes litt ich die schreck lichsten Seelenqualen; dann beim Verlassen der Kirche suchte ich das dichteste Gedränge auf, um mich den Augen der Leute zu entziehen, und draußen ange= langt, drückte ich mich verstohlen zur Seite, 30g mich zog hinter eine Mauer zurück und schlüpfte in die Nische des Blizableiters, dort wartend, bis die fromme Menge sich verlaufen hatte. Hinter den Zäunen entlang rannte ich alsdann nach Hause, und als ein schwaches Lichtfünfchen in der schwarzen Nacht meiner Troftlosigkeit glomm die Hoffnung, daß mein Vater, dessen Plaz weit hinten in der vorlegten Bank der Kirche war, die Ohrfeige nicht gesehen habe. Bald aber erlosch das Fünfchen, denn der Vater trat mir mit dem furchtbaren Nohrstock ent= gegen. Das war ein Sonntag, den ich nie ver( Fortsetzung solgt.)
Schuß der Armen gegen Schwindsucht.
( Schluß.)
anderen Augen an; bald lächelte er freundlich und seine Augen glänzten, bald wieder waren sie umflort und traurig, und dann wieder warf er mir ernſte, ermahnungsvolle, oft auch strafende Blicke zu. Ich war überzeugt, daß die Kraft des Himmels in dem Bilde waltete und daß St. Aloysius durch sein Bild zu uns Menschen reden wollte. Ich sehnte mich nach einer Gelegenheit, einmal ganz allein und ungestört in der Kirche zu sein; dann wollte ich zu ihm sprechen, und ich wußte im Voraus bestimmt, daß sein blasser Mund sich öffnen und mir Antwort geben würde. Leider kam eine solche Gelegenheit nicht, da die Kirche immer nur während des Gottesdienstes geöffnet war. Ein Glück war, daß ich ihn auch verstand, ohne laut mit ihm zu reden! Aber ich hätte gern einmal seine himmlische Stimme ver nommen. Die farben und gestaltenreichen Bilder gessen werde. des Krenziveges gaben mir jedesmal Anlaß, mich in die Leiden des Erlösers zu versenken; ich folgte ihm im Geiste auf seinem Schmerzenswege nach Golgatha, half ihm das Kreuz tragen und hegte dabei den stillen Wunsch, er möge mir alle die Hiebe, die ich von Herrn Lehrer und auch von meinem Vater alltäglich in reichlicher Menge zugemessen erhielt, als Geißelhiebe anrechnen, wie sie von den bösen Juden während des Ganges nach der Schädelstätte ausgetheilt wurden. Ein immer neues und reges Interesse widmete ich dem riesigen Rokokorahmen des Hochaltarbildes. Die kühnen goldenen Schnörkel und Gewinde, die sich in ihrem Verlaufe zu Aesten, Zweigen und unerhört fabelhaften Blättern und Blumen gestalteten, machten auf mich einen majestätisch bezwingenden Eindruck und ließen mein schwaches Herz durch ihr stolzes llebermaß von himmlischem Prunk erschauern. Gern flammerte sich mein schauenstrunkener Blick an eine der mächtig geschweiften, breiten Aftlinien und suchte sie in ihrer geschwungenen Bahn um den Altar zu verfolgen; bald aber hielt er erschöpft und betäubt iune und mußte sich abwenden, denn aus dem Hauptstamme gingen immer neue Stämme mit nenen vieltheiligen, gewundenen Blättern und stroßenden Zauberblumen hervor, und aus allen den Stämmen wuchsen immer neue Stämme, Zweige und Blätter, die sich wieder theilten und neue Schönheitswunder erzeugten, während man nicht zu ergründen vermochte, wo der ursprüngliche Stamm geblieben war, wo er aufgehört hatte, oder ob er noch weiter wucherte und trieb, und wie man ihn unter den vielen Stammverschlingungen herausfinden konnte. Das Ganze war für mich ein tausendfältiges, unergründliches, überirdisches Blumenleben, das uns eine Vorahnung dessen gewährte, was wir einst im Paradiese an Blumenpracht schauen würden. Da der Anblick mich verwirrte und oft sogar ängstigte, nahm ich an, daß nur das Auge der Seligen fähig sei, die unendliche Fülle und Schönheit dieser Blumenherrlichkeit zu crfaffen.
Wie tiefe mystische Geheimnisse mntheten mich an das rubinrothe Licht der ewigen Ampel und ein großes Bild, auf dem das Schweißtuch der Veronika mit dem blutigen Haupte des Erlösers zu sehen war. Als ich einmal während der Sonntagspredigt in den Anblick dieses Bildes versunken war und eine Fluth von heiligen Empfindungen mich durchwogte, fam der dicke Kirchenvater an mich heran und verabsolgte mir eine kräftige Ohrfeige. Zuerst sah ich ihn bestürzt an, um zu ergründen, welches Verbrechen ich begangen habe; da er mir aber falt den Rücken drehte und sich in seiner Dickleibigkeit nach der Kirchen väterbank schleppte, brach ich beschämt am Taufstein zusammen, weinte und wagte nicht mehr, die Augen zu erheben. Ich war mir keiner Sünde bewußt, und so betete ich mit tödtlich beleidigtem Herzen zum lieben Gott, daß er mir beistehen, die ungeheure Schmach von mir abwenden und mich in den Augen der Welt rechtfertigen möge; wolle er aber dies nicht thun, so solle er mich auf der Stelle sterben lassen. Mir war, als seien die Blicke der ganzen Gemeinde auf mich gerichtet, und als sei mir eine Schande wider fahren, die sich in Ewigkeit nicht tilgen lasse. Ich überlegte, ob ich den Tod suchen oder meinen Eltern fortlaufen sollte, weit in die Welt hinein, vielleicht auf ein Schiff, das nach fernen Inseln segelt. Bis
Von Dr. K.
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sist nach dem Gesagten klar, daß die Genesung oder Verschlimmerung davon abhängt, ob die Schußkräfte des Körpers oder die Angriffskräfte der Infektion die Oberhand gewinnen. Sind wir denn aber garnicht im Stande, das Einwandern des Tuberkelbazillus überhaupt zu verhüten? Wo lauert denn unserer der Angriff? Trocknet tuberkulöser Auswurf im Freien ein, so wird dies Material bald in alle Winde verstrent und vertheilt sich dadurch auf einen so großen Raum, daß er= wiesenermaßen selbst im Straßenstaub sich nur ausnahmsweise einmal ein Tuberkelbazillus auffinden läßt; die Gefahr ist im Freien fast gleich Null. Anders in geschlossenen Räumen. Leider haben Tausende von Menschen die unappetitliche Gewohn= heit, in die Stube zu spucken, und so auch sehr viele Tuberkulöse; dieser eingetrocknete, ansteckende Auswurf fliegt beim trockenen Ausfegen zum Theil in die Höhe, um sich eine Zeit lang schwebend zu erhalten und dann wieder herabzusinken; dasselbe geschieht, wenn auch in geringerem Grade, schon beim Herumgehen; die Mitbewohner solcher Zimmer befinden sich daher in ständiger Ansteckungsgefahr. Noch schlimmer ist es in Räumen, wo große Menschenmengen zusammenkommen und ab- und zugehen, z. B. in Verwaltungsgebänden, Schulen und vor Allem in Trinklokalen aller Art. Die wichtigste Rolle aber spielen hier die Tanzböden, wo der Luftstaub oft so massenhaft aufgewirbelt wird, daß man ihn auf der Zunge schmecken kann, und wo gleichzeitig die Lunge durch die angestrengte Athung, die Erhizung und die schlechte Luft in einen Reizzustand versetzt wird, der sie weniger widerstandsfähig macht, und dabei ist nirgends die Veranlassung zum Husten und Ausspucken beim Gesunden und erst recht beim Schwindsüchtigen größer als nach heftigem Tanz. Niemand sage, daß ein Schwindsüchtiger nicht tanzt; Hunderte thun es, die genau wissen, was ihnen fehlt, Tausende, ohne es zu ahnen. Aehnlich liegen die Verhältnisse in Fabrifen, zumal in solchen, wo reichlicher, die Lungen schon an und für sich reizender Staub in die Luft gewirbelt wird, und noch dazu die Arbeiter dauernd in gebückter Stellung sißen, in der sich die Lunge nicht frei entfalten kann; so z. B. in Porzellanfabriken, deren Arbeiter sich selbst fast als Schwindsuchtskandidaten betrachten; dort sind die eigentlichen Brutstätten dieser verheerenden Krankheit.
Es wäre nun das Ideal der Gesundheitspflege, wenn man die Tuberkelbazillen auf einmal aus der Welt schaffen könnte. Da dies leider nicht angängig, so müssen wir das infektiöse Material, sobald es ausgehustet wird, vernichten. Nicht in die Taschentücher, nicht in Hausflur und Lokal darf gespuckt werden, sondern nur in Spucknäpfe, die mit des infizirender Flüssigkeit gefüllt sind. Am besten wäre Sublimatlösung; da dieses aber nicht fäuflich ist, so genügt auch eine dunkelrothe Lösung des überaus billigen übermanganfauren Kalis, das infolge seiner
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rothen Farbe und geringen Giftigkeit zu fahrlässigen Schädigungen kaum Anlaß geben könnte und in jeder Droguenhanolung zu haben ist; außerdem hat es den Vorzug, geruchlos zu sein; oder man nimmt irgend ein anderes der zahllosen antiseptischen Mittel. Aus solcher Flüssigkeit können die Tuberkelbazillen nicht in den Luftstaub übergehen und binnen Kurzem gehen sie zu Grunde. In jedem Zimmer muß ein solcher Spucknapf stehen, in Lokalen an jedem Tisch mindestens einer, in Fabriken einer für je einen oder zwei Arbeiter, so daß es fast ebenso bequem ist, in den Napf als auf den Boden zu spucken; in öffentlichen Lokalen und Fabriken müßte die Einrichtung auf gesetzlichem oder Verordnungswege durchgeführt werden. Binnen Kurzem würde sich Jeder daran gewöhnen, den Spucknapf als die Stelle anzusehen, die dem Auswurf mit ebensolchem Recht gebührt, wie für den Stuhl das Closet. Alle Zimmer, mindestens aber die öffentlichen Lokale, dürften nicht trocken ausgefegt, sondern sollten täglich mit einer stark desinfizirenden Flüssigkeit aufgewischt werden, besonders Fabriken und Tanzlokale. Mit derfelben Flüssigkeit müßte das Gemülle begossen werden. Besondere Sorgfalt sollten Diejenigen aufwenden, die in enger Gemeinschaft mit einem Schwindsüchtigen leben. In solchen Hausständen sind auch die Gefäße und Geräthe, die beim Essen mit dem Mund des Kranken in Berührung kommen, sorgfiltig mit Desinfektionsmitteln, mindestens aber mit Seife abzuwaschen.
Diese Maßregeln allein würden ausreichen. Wünschenswerth wäre es allerdings, wenn Jeder, vorzugsweise aber allgemein schwächliche und brustschwache Personen, wenigstens jedes Jahr einmal ihre Lungen untersuchen ließen, damit die etwa sich einstellende Tuberkulose in den frühen, heilbaren Stadien erkannt wird. Menschen mit schwacher Brust oder solche, deren Eltern oder Geschwister Schwindsucht haben, sollten keinen Veruf erwählen, in dem sie in staubiger Lust und gebückter Hal ung Massenarbeit verrichten müssen. Turnen, Schwimmen und freie Luft sind der beste Schuß, und vernunftgemäße Abhärtung ist zehnmal besser als Verweichlichung hinter dem Ofen.
Bei Einführung und Befolgung aller dieser Maßregeln wird die Zahl der Schwindsüchtigen von Jahr zu Jahr geringer werden, und schließlich wird die Krankheit vielleicht ganz oder fast ganz von der Bildfläche verschwinden; heute aber haben wir noch Hunderttausende, die ihr verfallen sind; auch bei Manchem, der dies hier liest, hat sie schon, ohne daß er es bemerkt, ihr geheimes Werk begonnen.
Tuberkelbazillen, die in die Lunge eingedrungen sind, zu vernichten ohne Zerstörung der Lunge selbst und ohne das Leben des Betressenden zu bedrohen, ist unmöglich; in diesem Versteck von Gewebs trümmern und käsigen Massen, mit denen sich die Bazillen hier verbarrikadirt haben, ist ihnen nicht beizukommen; man hat Einathmungen aller möglichen desinfizirenden Gase versucht, von den harmlosesten bis zu den schärfsten bis zu den schärfsten vergeblich! Die Bedeutung des„ Kreosot", welches, innerlich genommen, einen günstigen Einfluß haben sollte, tritt mehr und mehr in den Hintergrund.
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Im Jahre 1890 erfand Koch das Tuberkulin, einen Stoff, der, aus den Tuberkelbazillen selbst hergestellt, den schon an Tuberkulose erkrankten Menschen gegen die Krankheit fest, immun" machen sollte; mancher Kranke, der sich mit Todesangst an diese letzte Hoffnung anklammerte, mußte sich bitter enttäuscht sehen. enttäuscht sehen. Der Weg freilich, den Koch eingeschlagen hat, ist der allein richtige; nur durch die Stoffe, die die Bazillen selbst oder die der Körper im Kampfe mit ihnen erzeugt, ist die Wirkung der Bazillen auf den Menschen und im Menschen zu beeinflussen; diese Erkenntniß, die Lehre vom. Heilserum, ist ein Triumph der neueren Wissen= schaft. Koch ist vor wenigen Wochen mit einem neuen Tuberkulin- Präparat vor die Welt getreten; aber ob dieser Rettungsanfer Stand halten wird, oder ob die Lösung dieses Geheimnisses der Nachwelt vorbehalten bleibt, wer könnte das jetzt schon be= urtheilen? Sollte das Mittel das Schicksal seines Vorgängers theilen, dann sind wir auch weiterhin